Sie war eine Pionierin. Zumindest im Nachkriegsdeutschland – und auch nicht ganz freiwillig. Eher waren es die Zeitläufte, die ihr dies abverlangten. Aber wenn es nach Hegel die Rolle bedeutender Individuen sei, dem Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer zu holen - , so scheint, mit gebührender nachmetaphysischer Minimierung, in ihrem Leben etwas davon durch.
Geboren wurde Margarete Mitscherlich 1917 in Gravenstein, jener kleinen Handelsstadt am dänischen Nordufer der Flensburger Förde - und dänisch-deutsch waren auch die Eltern: deutsch die Mutter, eine Lehrerin, dänisch der Vater, der Arzt war. Im Nachhinein scheint es , als sei ihr sehr früh jener Konflikt selbst begegnet, den sie später so beharrlich verfolgen sollte: Die Geschlechterspannung. Diese scheint sie ein erstes Mal „behandelt“ zu haben, indem sie wie die Mutter Literatur studierte – und dem Vater im Studium der Medizin nachfolgte. Durch die Zeit des Faschismus kam sie ziemlich unbeschadet: bereits die landsmannschaftliche Herkunft machte sie immun gegen den Nationalismus der Nazis, aber zu einem mehr als ästhetischen Widerstand habe sie es nicht gebracht, sagte sie mir im Alter bedauernd: lila Lippenstift gegen die Nazis mußte genügen.
Nach dem Krieg genügte das nicht mehr. Bereits 1947 nämlich lernte sie ihren späteren Mann Alexander Mitscherlich kennen; Mitscherlich war im Widerstand und 1937 für acht Monate von der Gestapo inhaftiert gewesen. Im März 1947 hatte er seine Dokumentation herausgebracht unter dem Titel: Diktat der Menschenverachtung: Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Quellen. Eingeladen von den Alliierten hatte er dort die Verbrechen deutscher Ärzte in den Konzentrationslagern dokumentiert, von denen er durch die Prozesse erfahren hatte. Das Schicksal dieses Buches ist bis heute nicht ganz aufgeklärt. Alle Exemplare waren sofort nach Erscheinen aus den deutschen Buchläden verschwunden. Mitscherlich vermutete zeitlebens, die deutsche Ärzteschaft habe es in toto aufgekauft.
Über diesen Mann also, 11 Jahre älter als sie, mit dem sie seit 1949 einen gemeinsamen Sohn hatte, lernte sie in Windeseile die deutsche Geschichte aus einer anderen Perspektive kennen: nämlich derjenigen eines Weiterwirkens faschistischen Denkens auch nach 1945 – und derjenigen eines wissenschaftlichen und kulturellen Bruchs von nie gekannten Ausmaßen. Dazu gehörte nicht zuletzt das nahezu vollständige Fehlen zweier – als jüdisch verschriener Wissenschaften: der Soziologie und der Psychoanalyse. Der durch den Mord und die Vertreibung ihrer jüdischen Mitglieder weitestgehend ausgerotteten Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland durch die Gründung des Sigmund-Freud-Instituts wieder einen Platz in der Gesellschaft geschaffen zu haben – das war die Pioniertat der Mitscherlichs.
Die Rückkehr der Psychoanalyse
Dass es ihnen gelang, die vor den Nazis geflohenen Psychoanalytiker zur praktischen Zusammenarbeit zu gewinnen, war für die Rückkehr der Psychoanalyse von entscheidender Bedeutung: denn es ist die Besonderheit dieser Wissenschaft, dass sie ohne persönliche Anleitung – sei es in der Lehranalyse oder in der Supervision – nicht gelernt werden kann. Auch wenn man dem theoretischen Werk der Mitscherlichs noch so kritisch gegenüber stehen mag: das Sigmund-Freud-Institut bildete damals das Zentrum dafür, dass die Psychoanalyse als Kulturtheorie wie als Anthropologie wie als Behandlungsmethode wieder im deutschsprachigen Raum Fuß fassen konnte.
Das Freudsche Werk, das sich in den Kanon des abendländischen Denkens eingeschrieben hatte – als Fortführung wie als Kritik auch der abendländischen Philosophie – fand in Frankfurt wieder einen Verlag: Freud nach 1945 wieder eine Stimme zu verleihen - das hieß eben nicht Eulen nach Athen zu tragen: das war eine Neuschöpfung.
In diesem Prozess spielte Margarete Mitscherlich keineswegs nur die Rolle einer Junior-Partner-Gattin. Ganz im Gegenteil, je länger desto mehr entwickelte sie ihren eigenen Stil, ihre Themen, ihre Machtposition.
Das begann mit ihrer Ausbildung zur Analytikerin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die es damals in Deutschland noch gar nicht gab. So war eine Lehranalyse in London nötig, die ihr allerdings in der Folge eine ganze erste Generation von späteren Analytikern auf die Couch schwemmte, lange bevor ihr berühmter Mann Lehranalytiker wurde. Theoretisch bekannt wurde sie allerdings mit ihm zusammen: nämlich mit dem gemeinsamen Buch, 1967 erschienen: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. – Dieses Buch, das den tunlichst um Vergessen bemühten Deutschen, die nur den Wiederaufbau im Sinn hatten und nicht an die Nazizeit erinnert werden wollten, bewusst den moralischen Spiegel vorhielt, erscheint im Nachhinein trotz - oder vielleicht sogar wegen - seiner methodischen und theoretischen Schwächen – als ein bedeutendes Buch der Zeitgeschichte, weil es das stillschweigende Einverständnis zerbrach, nicht nach den immer noch weiterwirkenden Folgen des Nationalsozialismus zu fragen, nicht nach seiner nicht aufgearbeiteten Ideologie, nicht nach seinen wieder in Amt und Würden eingesetzten früheren Funktionsträger, die natürlich seit 1945 alle überzeugte Demokraten geworden waren.
Frauen – Männer
Stattdessen klagte dieses Buch statt Verdrängung die Wiederkehr der Erinnerung ein und forderte eine Art kollektiver Trauer um die die Verwicklung mit dem Nationalsozialismus, den Mangel an Widerstand. 1972 führte M. Mitscherlich, nunmehr Alleinautorin, in ihrem Buch Müssen wir hassen? das Thema der menschlichen Aggression weiter. 1978 folgte mit: Das Ende der Vorbilder eine kritische Sicht auf die Idealisierungen, die sich ihr in der Behandlung ihrer damaligen Patienten zur Analyse darboten: Idealisierungen als (neurotischem) Ausweg aus den verheerenden Auswirkungen von Traumatisierung, verdrängter Sexualität und verpönter Aggressivität. - Mit dem flammenden Bekenntnis, in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Emma 1977 veröffentlicht: „Ich bin Feministin“, machte sie sich endgültig von ihrem Mann unabhängig – und warf zugleich einer bestimmten Lesart von Freuds Theorie der Weiblichkeit innerhalb der psychoanalytischen Vereinigung den Fehdehandschuh hin. Aber bereits 1980 erschien (zusammen mit H. Dierichs) ihr Buch: Männer.
Es waren dies „Zehn exemplarische Geschichten“, in denen sie den Hass und die Verachtung vieler Männer den Frauen gegenüber als Verleugnung ihrer kindlichen Abhängigkeit von der Mutter interpretiert und die Lösung in einer sublimierten Identifizierung der Männer mit den weiblichen Fähigkeiten des Aufnehmens und Empfangens sieht. – Wirklich Furore – und Auflage, nämlich mehr als 200 000! – machte schließlich Die friedfertige Frau, – die so friedfertig gar nicht ist, sondern es erst wird, wenn sie ihre Rechte einklagt und ihre gesellschaftlich nur allzu gern angenommenen Leidensrolle abstreift.
Trotzdem schien der Titel zu suggerieren, dass Frauen am Ende doch die besseren Menschen seien – was nicht nur zum Kauf, sondern auch zur Kritik reizte. – Bis zum Ende ihres Lebens blieb ihr – neben einem Plädoyer für eine Psychoanalyse, die sich über die Auswirkungen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse auf die menschliche Psyche Rechenschaft ablegt, das Thema der Geschlechterspannung ein wesentliches Anliegen – und hier erreichte sie am Ende ihres Lebens nicht nur Feministinnen, die Emma abonniert haben, sondern auch das nette Fräulein Müller von nebenan, das Brigitte liest. Darauf war sie nicht weniger stolz als auf ihre wissenschaftlichen Arbeiten. – Am 12. Juni 2012 starb Margarete Mitscherlich mit 95 Jahren in ihrer Wohnung in Frankfurt.
Hanna Gekle ist Philosophin und praktizierende Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main
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