Die Frau seiner Räume

Sibirien Er traf Vera nur kurz auf einer Reise und schrieb doch eine Erzählung über sie. Das war ungerecht, sagt der Autor heute – und geht sie suchen

An der Station neben den blau gestrichenen Hochhäusern steigen wir aus. Ich sehe mich um zwischen Kiosk und Wartenden – ja, hier muss es sein, hier ist es. Ich erkenne die Häuser auf der rechten Straßenseite wieder, die grau und schorfig hinter den jungen Linden stehen. Wir gehen in ihre Richtung. Oskar geht neben mir, ich weiß nicht, ob er wirklich interessiert ist, oder nur aus Höflichkeit diesem Ausflug zustimmte, der ihm nichts bringt, der mein persönlicher ist. Ich erkenne den Weg wieder, dort sind die Müllcontainer, da hinten die Garagen, die Wäschespinnen, das Internetcafé. Es ist, wie es vor drei Jahren war, und trotzdem fühle ich mich, als ginge ich in einem Traum spazieren. Wir sind in Irkutsk, in Sibirien, nur 50 Kilometer vom Baikalsee entfernt, und ich suche nach einer Figur aus meinem Buch. Vera. Sie hat hier irgendwo gelebt, hinter den Wohnsilos, in einer Holzhütte am Hang des Flusses Angara.

Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte mich Sascha angesprochen, der Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Sibirien. Über meine Webseite war er auf mein Buch aufmerksam geworden und hatte darin einen Text entdeckt, der Irkutsk heißt. Dort sei er gerade, schrieb er mir, und suche noch einen Autor für die Deutsche Kulturwoche, die er veranstalte. Ich überlegte nur kurz und sagte zu. Berlin–Irkutsk, das sind fast 6.000 Kilometer. Ein Ticket gab es umsonst.

Ich habe nicht damit gerechnet, so bald wiederzukommen. Oder überhaupt wiederzukommen. Ein Wunder auch, dass ich lebend eintraf. Ich war spät dran, als ich in Berlin das Haus verließ, und rief mir ein Taxi. Der Fahrer heizte los, bis er in einer Kurve auf dem nassen Tramgleis die Bodenhaftung verlor und ich Zeit hatte, mir einen schleudernden Halbkreis lang zu überlegen, ob ein früher Tod meinem literarischen Ruhm irgendwie behilflich sein könnte. Den Rest der Reise war ich dann so entspannt, wie lange nicht mehr in einem Flugzeug, obwohl ich am Vortag erfahren hatte, dass eine Maschine meiner Airline vor wenigen Jahren in Irkutsk verunglückt war. Danach benannte sich die Gesellschaft um und legte sich ein auffälliges grünes Design zu, was wohl auch damit zusammenhing, dass ein anderer Flug versehentlich von der ukrainischen Marine mit einer Rakete abgeschossen worden war.

Ein Mädchen und ihr Gemüse

Vor drei Jahren, als ich das erste Mal nach Irkutsk kam, war ich mit einem Freund auf einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Wir verbrachten die meiste Zeit im Zug, spielten Backgammon mit unseren Abteilinsassen, lasen die Bücherkiste leer und ließen die Landschaft an uns vorbeiziehen. Ich führte ein Notizbuch, und je weiter wir fuhren, desto schwerer fiel es mir, mit den Aufzeichnungen Schritt zu halten. Nachdem wir in Wladiwostok angekommen waren, setzten wir mit einer Fähre nach Korea über, später nach Japan. Dort hing ich mit meinen Eintragungen so weit hinterher, dass ich nur noch halbe Sätze zustande brachte. Diese Notizen wurden die Grundlage für viele der Erzählungen des Buches. Was ich über Irkutsk in meinem Heft fand, war länger, es erzählte von einem Mädchen mit Hütte und Gemüsegarten.

Ich werde von einer Mitarbeiterin Saschas im Empfang genommen. Auch Oskar, der wie ich an der Kulturwoche teilnimmt, kommt aus dem kleinen Flughafengebäude, er saß in derselben Maschine, und wir begrüßen uns, sprechen über die Anzeige im Flugzeug, die außer der Route zwischendurch auch die Entfernung und Richtung nach Mekka angab, so dass man als gläubiger Muslim immer wusste, wohin zu beten sei. Gebetet hat keiner, glaube ich. Es waren vor allem Geschäftsreisende und Irkutsker an Bord, die sogar klatschen, als wir auf die in Risse zersprengte Landebahn aufsetzten und an einigen alten Tupolews vorbei in die Halteposition rollten.

Die geplante Rückfahrt, damals, mit der Bahn, dieselbe Strecke zurück Richtung Moskau, habe ich dann nicht mehr unternommen. Ich flog von Osaka wieder nach Berlin, mein Freund blieb noch eine Weile in Japan. Der letzte Eintrag in meinem Notizbuch, gemacht in einem Imbiss auf dem Flughafen Shanghai, hielt die Beobachtung fest, dass der Reis in China sich als weniger klumpig als in Japan erwies, und dass ich dieser Reise inzwischen ziemlich überdrüssig sei.

Vom Flughafen in Irkutsk werden Oskar und ich in ein Wohnheim gelotst. Dort sind unsere Zimmer, in einem wuchtigen Klotz, der umso mehr ein Raumschiff zu sein scheint, da er so verrostet und zerbröckelt ist, als sei er schon tausendmal geflogen und habe nun seine Dienstzeit hinter sich. Innen geht es sich leicht, über den Teppich ist Linoleum gelegt, das wieder mit Teppichmustern bedruckt ist. Mit federnden Schritten laufen wir zu unseren Ausländerzimmern auf dem Ausländerflur, in dem ein Ausländerkühlschrank steht, der in der Nacht leise brummelt, bis wir ihn ausstöpseln, weil er außer inländischer Luft nichts enthält.

Vera habe ich im Internet kennen gelernt, über eine Seite für Idealisten. Dort wurde Unterkunft ohne Gegenleistung vermittelt, nur mit der Aussicht auf Revanche, sollte der Gastgeber einmal in der eigenen Stadt sein. Vera wies uns per Handy den Weg vom Bahnhof auf die andere Seite der Stadt und holte uns an der Station mit den blauen Hochhäusern ab. Sie führte uns durch die Plattenbausiedlung, bis wir an einen unbefestigten Weg kamen, der von verschorften, mit Knöterich bewachsenen Zäunen gesäumt war und den Blick auf eine Reihe Holzhäuser freigab.

Vera war „Aktivist“, was im Russischen dasselbe heißt wie im Deutschen. Sie engagierte sich gegen die Öl-Pipeline, die damals um den Baikal gebaut werden sollte. Als wir in ihrer Hütte ankamen, hatten wir erst einmal die Veranda vom Dreck zu befreien. Sie hatte drei Zimmer ohne Warmwasser und ein Plumpsklo im Garten, aber mit Strom versorgten sie die Stadtwerke umsonst. Es gebe eben keinen, der sich für irgendetwas zuständig fühle, meinte sie, und während wir uns ihre Gastfreundschaft erschrubbten, erzählte sie, dass das Haus ihrer verstorbenen Großmutter gehört hatte. Ihre Familie wohnte weiter in der Stadt; warum sie hergezogen war, erzählte sie nicht, aber ich begann es mir zu denken. Aus Gartengemüse machte sie uns einen vegetarischen Borschtsch und beschwerte sich über die Stadt mit ihren Geschäftsmännern, die die alten, unter Denkmalschutz stehenden Holzhütten abfackeln ließen, um auf den Grundstücken Moderneres zu bauen. Vera arbeitete als Programmiererin in einer kleinen Firma. Mit dem Bus fuhr sie jeden Morgen auf die andere Seite der Stadt und entwickelte Software für „Buchhalter“. Auch das heißt im Russischen dasselbe wie im Deutschen.

Später werden Oskar und ich zu einer Stadtbesichtigung eingeladen. Uns führen drei Germanistikstudentinnen zu diversen Kirchen und der Freifläche vor dem Rathaus. Das Rathaus selbst ist unbesetzt. Der Bürgermeister sei gerade umgekommen, erzählen sie uns und dass es bei der Bärenjagd passierte. Wilde Vorstellungen von einem zerfleischtem Stadt­oberen werden schnell relativiert: „Er war mit seinen Leuten am Baikal auf der Jagd. Den Bären, den sie geschossen hatten, wollten sie an einem Seil mit dem Hubschrauber nach Irkutsk bringen. Es waren aber zu viele Leute an Bord, sie flogen zu tief, der Bär verfing sich in einem Baum und das Ganze stürzte ab.“ Morgen, sagen sie, soll der neue Bürgermeister kommen. Das ging aber schnell. „Ja, seit ein paar Jahren wird der nicht mehr gewählt, sondern direkt vom Gouverneur eingesetzt.“ Putin soll das veranlasst haben, aber sicher sind die drei sich nicht. Politik interessiert sie nicht so sehr. Tatsächlich braust am nächsten Tag eine Kolonne schwarzer Limousinen über den schrundigen Asphalt.

Als wir damals mit Vera in der Marschrutka saßen, einem privaten Kleinbus, wie es sie überall hier gab, und zum Baikal fuhren, wusste ich schon, dass ich über sie schreiben wollte. Als wir in Listwjanka ankamen, einem kleinen Dorf am See, saßen Brautpaare am Straßenrand. Für Vera ein geläufiger Anblick: „Hier fährt man hin, um zu heiraten.“ Mein Freund und ich hatten vor, zu einem Dorf in der Nähe zu wandern, und Vera hatte uns mit einer Karte ausgestattet. Wir erklommen noch gemeinsam den Wanderpfad, der zwischen Wäldern und Abhang am See entlang führte, danach verabschiedete sie sich von uns.

Marx, Kant, ein Plüschelefant

Was ich über Vera schrieb, war ungerecht. Ich schrieb aus ihrer Sicht, stellte mir vor, sie zu sein, von der ich so gut wie nichts wusste. Ich malte mir ihren Entschluss aus, von der Familie fortzuziehen, die Erregung angesichts der Gelegenheit, wie Thoreau als Selbstversorger in einer Hütte zu leben, autark, aber dennoch mitten in der Stadt. Diese Ungerechtigkeit, die Anmaßung machte mir Spaß. Umso mehr, als ich den Rucksacktouristen, der ich war, ebenfalls in der Erzählung auftauchen ließ. Vielleicht kam zu dieser Anmaßung auch Scham hinzu: Zwar unterstellte ich ihrer Begegnung eine kurze erotische Spannung, aber ich löste sie nicht auf, außer in Verlegenheit und Unbehagen – wahrscheinlich, weil ich ahnte, dass ich kein Recht hatte, die Literatur zum Vollstreckungshelfer vorgestellter Möglichkeiten zu machen. Der Verlegenheit muss ich mich nun stellen, wo ich auf einer Bank sitze und mir überlege, wie ich mich vor den Lesungsbesuchern, die mit Vera mehr gemein haben als ich mit ihr, rechtfertigen soll.

Das Dorf, zu dem wir eigentlich wollten, haben wir nie erreicht. Auf dem Weg trafen wir auf eine Gruppe von Freiwilligen. Noch mehr Aktivisten; sie erneuerten den Wanderpfad und lebten für den Sommer in ein paar Zelten, legten Wege und Treppen an. Wir blieben über Nacht, halfen bei der Arbeit und bekamen im Gegenzug etwas von der Suppe, die über dem Lagerfeuer gekocht wurde. Hier fühlte sich jemand zuständig, und fast bedauerte ich es, dass Vera nicht mit uns gekommen war, um uns das Verantwortungsgefühl ihrer Landsleute zu beweisen, wo sie uns so viel von dessen Abwesenheit erzählt hatte. Immerhin konnte ich sie später hierhin mitnehmen, wenn auch nur in einer Erzählung.

Vera habe ich nicht geschrieben, dass ich hier bin, obwohl ich in zwei Tagen schon wieder fliege. Die Lesung findet in einem Buchladen statt, in der Kinderabteilung („da ist nun mal der meiste Platz“). Hinter mir steht ein Regal mit Plüschelefanten. Man kann sie immerhin nur zur Hälfte sehen, weil sie mit den Werken wahllos zusammengestellter deutscher Literatur zudekoriert sind. So sitze ich später umrahmt von Hegel, Marx und Kant gegen die Elefanten abgeschirmt vor einem überschaubaren Publikum aus Germanistikstudenten, Lehrerinnen und den deutschen Teilnehmern der Kulturwoche und lese ein paar Ausschnitte aus dem Text über Irkutsk. Als ich fertig bin, merke ich, dass ich mir zu viele Gedanken gemacht habe. Von einer der Deutschlehrerinnen werde ich gefragt, wie es mir denn in Russland gefallen habe. Dann gehen wir alle noch ein Bier trinken.

Als ich am Tag vor meiner Abreise mit Oskar bei den blauen Wohnhäusern aussteige, um Veras Hütte zu suchen, in der Erwartung, sie dort zu treffen, habe ich das Gefühl, eine Pflicht zu erledigen. Langsam weiß ich nicht mehr, wieso ich sie erneut treffen will. Die echte Vera hat mit der meiner Vorstellung nur wenig gemein, und die vorgestellte konnte es nur geben, weil ich die echte nicht kannte. Wir lassen die Wohnsilos hinter uns und erreichen den Feldweg mit seinem Lattenzaun, hinter dem die Holzhäuser beginnen. Oskar läuft neben mir, sein Blick streift über die Hütten. „Wo genau gehen wir hin?“, fragt er.

Hannes Bajohr, Jahrgang 1984, hat Vera nicht wieder gefunden. Seine Erzählung Irkutsk ist erschienen im Quartheft (Verlag J. Frank Berlin)

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