Selbstzitate sind wahrscheinlich ein Indiz für beginnende Vergreisung. Seis drum: Im März 1990 habe ich an dieser Stelle eine Auswahl von Büchern vorgestellt, die sich mit damals hochaktuellen Fragen befassten. Beispielsweise, warum die westdeutsche Linke übers Scheitern ihrer jüngsten "Stellvertreter-Revolution" schmollte und die "real existierenden Realitäten den Bananenverkäufern und den Bonner Politikern" überließ. Zehn Jahre danach gibts zwar immer noch keine konsensfähigen Kategorien für das, was damals passiert ist [Wende, Revolution, Anschluss, Wiedervereinigung?], aber massenhaft neue Bücher.
Greifen wir - wider besseres Wissen - erst einmal zum Dichterwort. Klaus Pohl - von Heiner Müller gering geschätzter, glei
zter, gleichwohl viel gespielter Dramatiker - hat von New York aus, wo er gewöhnlich lebt, 1994 und 1998 die neuen Bundesländer durchstreift und jetzt unter dem Titel Deutschlandgefühl seine Wahrnehmungen und Beobachtungen veröffentlicht. Mehr als ein paar - in der Regel wohlwollend-positive - Gefühle sinds in der Tat nicht. Neben un übertreffbar genauen Details (über Alltäglich-Beiläufiges, übers Autofahren, über Gregor Gysis Wahlkampf) findet sich viel überflüssige Lobhudelei: für Lothar Späth (einst südwestdeutscher Ministerpräsident, jetzt Jenoptik-Chef), für das neue Görlitz, für die deutsche Sprache, die ostdeutschen Frauen und das "schöne, junge Deutschland". "Am liebsten habe ich den Osten und die Menschen dort! So gut wie dort hat es mir lange nicht mehr wo gefallen. Du kannst fast überall anhalten und sagen: Hier bleibe ich für eine Weile. Überall triffst du Menschen, die viel zu erzählen haben, die wach sind und neugierig und die bestimmt etwas Gutes, Neues aus Deutschland machen werden." Obs an der Profession (Erfolgsstückeschreiber) oder am Heimweh liegt? Pohls Reisenotizen bieten dem in deutschen Alltag verstrickten Leser wenig Hilfreiches und über längerem Nachsinnen werden sie schnell schal.Ein anderer, ebenfalls zeitweise in New York wohnhafter, mittlerweile nach Berlin zurückgekehrter Autor (Matthias Matussek) ist da schon differenzierter. Zwar scheint auch bei einigen seiner zwischen November 86 und Mai 99 im Spiegel erschienenen Texte das Verfallsdatum bereits überschritten; es bleiben aber doch eine ganze Reihe, die das Nachdenken über Deutschland befördern. Faszinierend die elegante Präzision und die treffsicheren Bilder, die seine umfangreichen Essays (über Opfer und Täter, die neue deutsche Ostgrenze oder Die Deutschen und der Krieg) genauso schmücken wie die beiläufigen Miszellen (über die Berliner Architektur, exemplarische ostdeutsche Künstlerbiographien, Monika Lewinsky oder das Landleben). Bei genauerem Lesen stellt sich allerdings Miss trauen ein gegen Matusseks einfühlsame Eloquenz. Unter der Oberfläche stilistischer Brillanz kommen Selbstgewissheit und -gerechtigkeit zum Vorschein, die mit zunehmender Lesedauer schwer zu ertragen sind. Was sich schon beim gnadenlosen Antikommunismus andeutet, mit dem der umfassende Sieg der Täter über die Opfer behauptet wird, gipfelt in der unterschiedslosen Diffamierung aller Kritiker des Kosovo-Kriegs. Wenn der Autor mit Schaum vor dem Mund über "sogenannte Pazifisten und smarte politische Abkocher" herzieht, wenn er eine Dresdner Anti-Kriegs-Demonstrationen aus "Lebenslügen und nachwirkenden Gehirnwäschen" einer "frisch in die Freiheit entlassenen Generation" erklärt, dann wird klar, dass es in diesen Texten nicht nur um originelle Blicke hinter die Fassaden des versteinerten Alltags geht, sondern auch ums Rechthaben ihres Verfassers. Dass Matussek längst nicht so souverän agiert im Kulturbetrieb, wie seine Texte glauben machen wollen, verraten vor allem die Nebenschauplätze. Seine Tiraden gegen das "stinkende" Landleben, seine Attacken gegen feministische Pappkameradinnen ("Anmerkungen zum Geschlechterkampf") enthüllen, dass da einer Probleme hat.Dass es noch schlimmer kommen kann, beweist Klaus Bittermann. In seiner Critica Diabolis-Reihe hat er Betrachtungen von Wiglaf Droste, Gerhard Henschel, Jürgen Roth, Mathias Wedel, Joseph von Westphalen und anderen über "die Ossis als Belastung und Belästigung" versammelt, die selbstverständlich alle das Satire-Privileg für sich in Anspruch nehmen. Was sich hier als Ironie geriert, ("dominierende Jugendkultur" in den neuen Ländern sei der Rechtsextremismus; "seitdem die Zonis mitmachen dürfen, ist aus der Fußballmacht Deutschland ein Fußball zwerg geworden"), das sind indes nur ironisch kostümierte Meinungen von Autoren, die keinen Spaß verstehen. Humor nach Art der Herren Eisenring und Schmitz - Bittermann und die Brandstifter. Auf die Gefahr hin, humorlos gescholten zu werden: Solche Texte geraten - wenn sie nicht wenigstens (wie beispielsweise bei Mathias Wedel) durch eine Prise Selbstironie gewürzt werden - zum intellektuellen Rassismus; brillanter zwar artikuliert als der gewöhnliche, aber letztlich vergleichbar dumpf.Vor zu viel Feuilleton schützt vielleicht ein Sachbuch. Besonders, wenn es so verschärft seriös daherkommt, wie jene Ostdeutschen Biographien, die der Bremer Gewerkschaftssoziologie Rainer Zoll mit seinen Mitarbeitern untersucht hat. Auf der Grundlage von Interviews, die sie Anfang der neunziger Jahre mit Arbeiterinnen und Arbeitern der 'Küstenländer' geführt haben, präsentieren die AutorInnen detailliertes Material zur "Lebenswelt im Umbruch". Berichtet wird über "Arbeitsorientierungen in Ostdeutschland" und "das Selbstbild ostdeutscher Frauen", über "Soziale Bindungen im VEB" und "Formen der Verarbeitung sozialer Angst", über ""DDR-Sozialisation", "Fremdleitung und individuelle Anpassung", über "die unpolitischen Bürger" und "das Ost-West-Verhältnis aus ostdeutscher Sicht". Die Methode des "narrativen soziobiographischen Interviews" eignet sich hervorragend zur Korrektur von Stammtisch- und Feuilleton-Urteilen übers deutsche Elend, und die so zusammengetragenen Schlaglichter auf Kultur und Lebenswelt der von der Einheit Gesegneten und Gebeutelten sind ungemein spannend und aufschlussreich. Bloß: Warum darf bei der Lektüre sozialwissenschaftlicher Studien nicht wenigstens ein Funken Leselust entstehen? Sprachlich-stilistisch sind diese vierhundert Seiten eine echte Herausforderung, der sich nur geübte LangstreckenleserInnen unterziehen sollten.Bleibt schließlich doch der verzweifelte Griff zum Roman. Marcia Zuckermann hat einen locker-flockig-fetzig-frischen Text über Das vereinigte Paradies geschrieben, der natürlich immer noch nicht die Rufe nach dem Wenderoman verstummen lässt, sich mit rasanten Kopf-Reisen durch Berlin, New York und die neudeutschen Verhältnisse aber erhebt über die Niederungen dessen, was wir/die uns da vor zehn Jahren eingebrockt haben. Die "Berlin Alexanderplatz"-Bezüge, die Verlag und Autorin durch PR-Fotos suggerieren wollen, sind vielleicht ein bisschen überrissen, aber mit Peter Paul Zahls Glücklichen kann es Marcia Zuckermann allemal aufnehmen. Endlich mal wieder ein Berlin-Roman, der temporeich, unterhaltsam und exzellent geschrieben ist. Klischees und Kolportage, die er uns ebenfalls zumutet, sollten wir tolerieren. Immerhin lenkt er stundenweise ab vom alltäglichen Mief im neuen großen Deutschland. Große Alternativen haben wir ohnehin nicht.Klaus Pohl: Das Deutschland-Gefühl. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg, 1999, 16.90 DMMatthias Matussek: Eintracht Deutschland. Reportagen und Glossen aus der neuen Republik. Patmos-Verlag, Düsseldorf 1999, 39.80 DMKlaus Bittermann (Hg.): It's a Zoni. Zehn Jahre Wiedervereinigung - Die Ossis als Belastung und Belästigung. Edition TIAMAT, Berlin 1999, 26,- DMRainer Zoll (Hg.): Ostdeutsche Biographien. Lebenswelt im Umbruch. edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, 27.80 DMMarcia Zuckermann: Das vereinigte Paradies - Nachrichten vom ost-westlichen Divan. Roman. dtv premium, München 1999, 28,- DM
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