Am 21. April 1945 erreichte die 5. Stoßarmee unter ihrem Oberkommandierenden Nikolai Bersarin den östlichen Stadtrand von Berlin. Von da an verloren noch 20.000 Mann in den blutigen Kämpfen um die Metropole ihr Leben. Auf deutscher Seite kamen rund 50.000 Menschen, Soldaten und Zivilisten, um. Zwischen Oder und Spree wollte Hitler den »altbösen asiatischen Feind« für immer verbluten lassen. Er hatte für sein Endspiel die Rolle Friedrichs des Großen gewählt. Während er in seinem Bunker einen virtuellen Krieg führte und nach Einsatzkräften bellte, die nur noch auf dem Papier standen, sah Berlins Durchhaltezeitung Der Panzerbär noch am letzten Tag ihres Erscheinens, dem 29. April, auf Seite 1 Tag und Nacht Verstärkungen in die Reichshauptstadt rollen. Vielleicht hatten die Redakteure ihren restlichen Kognak aufgebraucht und die Russenpanzer für eigene Truppen gehalten. Von ähnlichen Wahrnehmungsstörungen berichtet Ilja Ehrenburg in seinen Memoiren. Als Moskau im November 1941 nicht mehr zu halten schien, erzählte ihm ein Freund, dass »Unsere« mit einer riesigen Panzerarmee im Anrollen seien. Er hatte General Heinz Guderian für einen Armenier gehalten.
Im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst wird gegenwärtig des ersten Stadtkommandanten Generaloberst Nikolai Bersarin gedacht, der am 16. Juni 1945 bei einem Motorradunfall in Berlin tödlich verunglückte. Das Museum ist eine Insel der Geschichte im eher geschichtslosen Berlin. Im Garten der grauen, unauffälligen Villa, wo am 8. Mai Keitel, Stumpff und von Friedeburg die Kapitulationsurkunden unterschrieben, grüßen ein T-34 Panzer, eine Stalinorgel und mehrere Sturmgeschütze den eher vereinzelten Besucher. Auf dem Weg zum Museum säumen Einfamilienhäuser die Straße, deren zugemauerte Fenster daran erinnern, dass hier unlängst noch Offiziere der Besatzungsmacht wohnten. Ein seltsamer Dornröschenschlaf.
Die konventionell gebaute Ausstellung erinnert an einen Mann, dessen knapp sechswöchiges Wirken in Berlin eher unkonventionell war. Bersarin, 1904 in Petersburg geboren, hatte es als Stadtkommandant vermocht, in wenigen Tagen die in Schutt und Asche liegende Stadt wenigstens teilweise zu beleben. Bereits am 18. Mai gab es wieder Strom, Gas und Wasser, am 13. Mai rollte die erste Buslinie der BVG in Zehlendorf, am selben Tag fand im Bürgersaal des Rathauses Schöneberg das erste öffentliche Konzert statt, am 15. Mai erschien die Tägliche Rundschau, Mitte Mai spielten wieder 15 Kinos. Bersarin war rastlos auf dem Motorrad oder zu Pferd unterwegs, um die Enttrümmerung der Straßen zu kontrollieren und den Aufbau eines zivilen Lebens. Probst Heinrich Grüber schrieb: »Als es am 11. Juni im Magistrat zu einer Auseinandersetzung über den Religionsunterricht kam, wünschte Bersarin ausdrücklich, die Berliner Kinder zu lehren, dass es einen Gott gibt. Der General war ein korrekter und humaner Kommunist, der leider schon im Juni 1945 verunglückte.«
Das alles geschah in einer Nachkriegswüste. Bei Betreten Deutschlands hatten die sowjetischen Soldaten an der Grenze Schilder gesehen:»Wot, ona, prokljataja Germanija.« (Das ist es, das verfluchte Deutschland!) Plünderungen und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Heinrich Grüber, damals Pfarrer in Berlin-Kaulsdorf, erinnert sich, dass er nachts die Kirche für die Frauen des Ortes offenhielt und sich selbst vor die Tür legte. Soldaten sagte er:»Ich Pope. Nix Frauen.«
Bersarin ließ Vergewaltiger erschießen, eine drakonische Sprache. In sich selbst entdeckte er ein Organisationsgenie. Ein Foto zeigt ihn am Schreibtisch, andere bei der Einweihung eines U-Bahnhofs in Neukölln und bei der Installation einer Straßenbahnweiche.
Als 14jährige Waise war er zur Roten Armee gekommen, hatte sich nach oben gedient und 1938 in Fernost beim Kampf gegen die Japaner um die Mandschurei militärische Sporen verdient. Das rettete ihn im selben Jahr vor der Erschießung, die viele seiner ehemaligen Vorgesetzten ereilte. Bersarin musste eine Kaderüberprüfung über sich ergehen lassen, die er lebend überstand. Dennoch blieb Stalins grundloses Misstrauen gegen ihn erhalten. Nur auf Shukows Drängen wurde Bersarin, der 1943 bei den Kämpfen um Wjasma schwer verwundet worden war, zum Oberkommandierenden des Sturmes auf Berlin. Als Stalin erfuhr, Bersarin sei bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, wollte er ihm ein Staatsbegräbnis verweigern. Ein mit einem Overall getarnter General auf einer Zündapp-Beiwagenmaschine schien ihm nicht dem Bild eines Sowjethelden zu entsprechen. Obwohl die Ausstellung in ihrer Sicht die hagiographischen Züge Bersarins fortschreibt, die ihn zu DDR-Zeiten prägten, als viele Schulen und Brigaden seinen Namen trugen, kommt in den gezeigten Dokumenten ein Mensch zum Vorschein, der seine Familie liebte, gern fotografierte und den Besiegten kein »Vae victis« bereiten wollte.
Umso unverständlicher die Entscheidung nach der Wende, Bersarin die Ehrenbürgerschaft Berlins zu entziehen und die seinen Namen tragende Straße wieder nach seinem Heimatort Petersburger Straße zu benennen. Lediglich der Baltenplatz heißt nach wie vor Bersarinplatz. Wie politisch dumm diese Retourkutsche war, läßt sich an den Eintragungen im Gästebuch der Ausstellung nachlesen, die Bersarin erneut zum Mythos erheben und einen Apologeten seinen Text sogar mit ostdeutschem Gruß unterzeichnen lassen. Vielleicht sollten die Verantwortlichen der Stadt darüber nachdenken, ob es nicht ein Museum für alle Alliierten geben sollte, das den Befreiern Deutschlands vom Faschismus gleichermaßen Gerechtigkeit und kritische Sicht zuteil werden lässt. Die Verabschiedung der letzten Kontingente dieser Länder, die in Schutzmächte und Russen unterteilt wurden, läßt derartiges eher nicht erwarten.
Der reich bebilderte Katalog zur Ausstellung, herausgegeben von Peter Jahn, erschien unter dem Titel »Nikolai Bersarin. Berliner Stadtkommandant« im Verlag Elefanten Press, 132 Seiten, DM 36,- DM
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