Rückzug aus der Fläche

DGB Ost In Frankfurt (Oder) hat sich die Zahl der Organisierten innerhalb der vergangenen zehn Jahre halbiert. Gewerkschaften werden in Ostdeutschland eher als Dienstleister gesehen

Seit dem 15. März 1991 "um elf Uhr" lebt der Niederrheiner Volker Kulle in Frankfurt (Oder). Nun ist er dort Regionsvorsitzender des DGB. Er begann seine Arbeit in der Grenzstadt in den Diensten des DGB. Es war Aufbauzeit. "Zum Glück hatte ich wenigstens den Einigungsvertrag in meinen Koffer gesteckt", erinnert sich der studierte Jurist. Er hatte vor elf Jahren während seines ersten Auftritts an der Oder rund 80 Lehrern mitzuteilen, "dass sie nur für 80 Prozent Gehalt arbeiten sollten. Alle regten sich auf und waren hellauf empört, aber keiner wagte zu klagen." Später wurde der Mann aus Moers/Niederrhein zum Vorsitzenden des DGB-Kreises Frankfurt (Oder) gewählt, nun ist der quirlige Gewerkschafter Regionsvorsitzender des DGB. Die Region reicht von Bad Freienwalde im Norden bis Eisenhüttenstadt im Süden, auch bis zur Grenze von Berlin in Erkner. Zwischen Berlin und Frankfurt gibt es kein DGB-Büro.
Aus einstigen Kreisen wurden im Vorjahr Regionen mit weiteren Flächen, das heißt weniger Betreuung, der DGB zog sich aus der Fläche zurück. In Berlin-Brandenburg gab es vor elf Jahren acht DGB-Kreise, es verblieben nur noch vier DGB-Regionen außerhalb von Berlin. Der DGB-Kreis in der Hauptstadt wurde aufgelöst, seine Arbeit übernahm der DGB-Bezirk. Der Grund ist der ständige Rückgang an Mitgliedern.
Gelegentlich bekommt Volker Kulle über das Arbeitsamt Zahlen aus brandenburgischen Dörfern, auch aus der Uckermark, aus Gebieten außerhalb seiner Region. "Da gibt es auch mal eine Arbeitslosigkeit von 60 Prozent, die Einnahmen kommen fast nur über die Renten und gelegentlich ABM." Dagegen sei die Geburtsstadt des Dichters Heinrich von Kleist, Frankfurt, eine blühende Gemeinde. Auch die einstige Textilstadt Forst bestehe in einigen Stadtteilen nur noch aus Industrieruinen, so der Gewerkschafter. Volker Kulles Heimatstadt Moers wurde durch den Bergbau geprägt, die Nachbarkommune Duisburg von der Großindustrie Stahl und Bergbau. So kennt er aus Erfahrung 30 Jahre Niedergang der Montanindustrie und den Arbeitsplatzabbau. Wo es keine Arbeit mehr gibt, schrumpft die Zahl der Gewerkschafter. Das war in Duisburg so und auch in Dortmund. Die Entindustrialisierung lief jedoch in Frankfurt (Oder) ab wie im Zeitraffer, es waren nur drei statt 30 Jahre. Die Gewerkschafter aus dem Westen waren im Osten zu Anfang fast nur als Gestalter von Sozialplänen tätig.
In der DDR wurde einst angeordnet, dass der Fußballclub ASK Vorwärts Berlin nach Frankfurt ging und dort als Vorwärts Frankfurt weiterkickte. Auch wirtschaftlich bekam die Grenzstadt im Rahmen der Planwirtschaft eine sehr gute Zuweisung - es wurde ein Halbleiterwerk für die Chipfabrikation gebaut, in dem 8.000 Menschen in Lohn und Brot standen. Nach Auflösung der DDR 1990 war das Halbleiterwerk nicht mehr zu halten. Es gab moderne und leistungsfähigere Firmen im Westen. Investoren fanden sich nicht. In dieser Zeit eröffnete im Oktober der DGB-Bundesvorsitzende Heinz-Werner Meyer zunächst ein Regionalbüro des DGB. Im März 1992 wurde mit der Wahl von Volker Kulle daraus der DGB-Kreis Frankfurt (Oder). In erster Linie bestanden die gewerkschaftlichen Aufgaben aus Rechtsschutz. In dem verwohnten Haus des früheren FDGB arbeitete der DGB in der Wilhelm-Pieck-Straße 45. Die Wilhelm-Pieck-Straße wurde umbenannt in Leipziger Straße. Der Fußballclub hieß nun auch nicht mehr ASK Vorwärts, fünftklassig ist er und heißt Viktoria Frankfurt.
Als Volker Kulle 1991 in die Stadt kam, standen von den einst 8.000 Personen nur noch "knapp 2.000 auf der Lohnliste des Halbleiterwerkes". Die Einwohnerzahl lag im letzten Jahr der real existierenden DDR 1989 bei genau 87.123. Als der DGB-Kreis 1992 dort gegründet wurde, waren es 85.357. Zu Beginn 2002 zählte die Oderstadt nur noch 69.065 Bürgerinnen und Bürger. Aber Frankfurt macht optisch den Eindruck einer jungen Stadt, weil viele Studenten hier mit Zweitwohnsitz während des Studiums leben. Abwanderung in den Westen Deutschlands und Umzug ins Umland sind die Gründe des Verlustes an Bewohnern. Im Bereich des früheren DGB-Kreises Frankfurt (Oder) wurde die Zahl der Organisierten fast halbiert. Im Jahr 1992 wurden 83.871 eingetragene Mitglieder gemeldet, 2001 waren es nur noch 39.066. Seinen Sitz hat der DGB verlegt, ein Gewerkschaftshaus gibt es an der Oder nicht mehr. Das Regionsbüro ist gemietet in dem Hochhaus einer Versicherung
Ursula Rudolph war schon vor der Gründung des DGB hauptamtliche Gewerkschafterin. Sie erzählt von einer Straße, die Arbeiterstrich genannt wird. Polnische Land- und Bauarbeiter stehen morgens auf den Bürgersteigen, Firmen aus dem Umland sammeln sie in Lastwagen, lassen sie für Hungerlöhne tagsüber schuften und bringen sie am Abend zurück. "Die haben inzwischen viel feinere Methoden entwickelt", erzählt Volker Kulle. Geblieben von dem maroden Haus des FDGB ist ein Ölbild in seinem Büro. So eine Art Sozialistischer Realismus. Es zeigt eine eigentlich triste Plattenbaugegend der Stadt, die durch Morgenstimmung unrealistisch verschönt wird. Der Westdeutsche irritiert gelegentlich Ostdeutsche, denn statt eines Klingeltons, sind bei einem Anruf auf seinem Handy die ersten Takte von "Brüder, zur Sonne, zu Freiheit" zu hören. Nicht nur in Frankfurt machten Gewerkschafter aus dem Westen im Osten die Erfahrung, dass "die" Gewerkschaft anders gesehen wird. Es gibt eine andere so genannte Austrittskultur. Rechtssekretäre erstritten vor Arbeitsgerichten für Mitglieder beachtliche Abfindungen, direkt nach dem Erfolg folgte der Austritt. Anders als im Westen lösen hier Arbeitslose eher ihre Mitgliedschaft auf. Noch verblüffter waren sie, dass selbst engagierte Betriebsräte mit dem Erreichen der Rente aus ihrer Gewerkschaft austraten, nun könnten "die ja nichts mehr für mich tun". Gerade in den traditionellen Arbeitergewerkschaften in Westdeutschland sind noch viele Rentner organisiert - aus Solidarität. Gewerkschaften werden in Ostdeutschland dagegen eher als Dienstleister gesehen.

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