Tradition zählt

Wahlstimmung in der Provinz Im größten SPD-Ortsverein fürchtet die Partei nichts mehr als die Lethargie

Dieser Schröder ist mir an die Rente gegangen", dabei winkt Heinz Gerning ab. Er sitzt im Garten mit Blick auf das 1950 erbaute Bergmannshaus. Vor seinen Füßen picken Tauben in dem ausgeworfenen Futter. Er ist auch ein so genannter Taubenvater. Heinz Gerning ist Bergbaurentner in der ehemaligen Bergbaustadt Oer-Erkenschwick. Die Stadt mit ihren 33.000 Einwohnern liegt im nördlichen Ruhrgebiet am Rande des grünen Münsterlandes. Im Jahr 2001 wurde das letzte Grubenfeld ausgekohlt. Die Besonderheit der Kommune - in ihr ist mit 1.640 Mitgliedern der größte Ortsverein der SPD zu Hause. Seit 1948 sind die Sozialdemokraten immer mit absoluter Mehrheit gewählt worden. Fragt man Heinz Gerning nach Stoiber, winkt der Rentner ab mit dem ständigen Ausspruch: "Hau mir doch ab mit dem Stoiber." Seine Handbewegung wirkt dabei verächtlich. Der Mann würde "die Schwarzen nie" wählen, eher ginge er nicht zur Wahl. Wie viele im Ort bei der Kommunalwahl 1999. Eine von den Parteifunktionären nicht fassbare Unzufriedenheit ließ damals viele Einwohner von Oer-Erkenschwick zu Hause bleiben. Die Sozis verloren 6,9 Prozent an Stimmen und fielen mit 54,8 Prozent auf ein historisches Tief. Mit plus sieben Punkten und 28,2 Prozent der Stimmen jubelten die seit Jahrzehnten gebeutelten Christdemokraten in der einstigen Bergbaustadt. "Schaut mal genau hin, gewählt haben euch aber nicht viel mehr als vorher", warnte der Frührentner Karl-Heinz Wewers, einst Mitglied des Rates für die CDU seine begeisterten Parteifreunde. Mit 60,4 Prozent lag die Wahlbeteiligung bei einem dramatischen Tief, denn rund ein Viertel der Wählerinnen und Wähler, die fünf Jahre zuvor noch gewählt haben, blieben diesmal fern. Die Union hatte einen Anstieg ohne Wähler. Mit fast gleichbleibender Stimmenzahl konnte die CDU sieben Prozente mehr verzeichnen. "Wo doch die SPD für die kleinen Leute die Politik macht, gehen die nicht hin", beobachtete Friedhelm Linn, im Ort geboren und nun Bergbaurentner. "Vielleicht geht es denen zu gut", wagt er zu fragen. Ohne eine Antwort zu bekommen.
Die Sozialdemokraten wirken auffällig müde bis lethargisch. Über die durch die Stadt führende Hauptstraße sagt Erwin Costantin, Inhaber einer Eisdiele, "die wirkt wie in der DDR - es ist nichts los". Neben dem Eingang zur Toilette hängt ein signiertes Foto des Stars Leonardo DiCaprio. Seine Großmutter Helene Indenbirken wohnt in dem Ort. Das ist aber der einzige Hauch von weiter Welt. Eine kleine Fläche vor einem Kaufhaus nennen die Bürger "Roter Platz", so wird er auch in der Lokalzeitung benannt. Lokalchef Jörg Müller ist Mitglied der CDU. "Ich mache aber keinen Gebrauch davon." Die Bindung vom Bergbau zur Stadt ist weg, deshalb habe sich einiges verändert, sagt er. Es existieren sehr viele Vereine. Weil die Bergleute früh aus dem Arbeitsleben gedrückt wurden, sind sie dort aktiv. Aber in diesen Vereinen, bis in die Fußballclubs, sind Funktionäre der SPD tätig. Wegen der Lage am Rande des Münsterlandes verzeichnet die Stadt als eine der wenigen in der wirtschaftlich gebeutelten Emscher-Lippe-Region jährlich Zuzüge. Um Oer-Erkenschwick herum dagegen ist es wie im Osten, die jungen Leute ziehen weg. Die "neue Elite" am Ort arbeitet in den Konzernen in Essen oder Bochum, sie wohnt lediglich "hier im Grünen", wie Jörg Müller beobachtete. "Diese Gruppe interessiert sich für die kommunalen Probleme nicht. Sie kauft hier nicht ein, liest die örtliche Zeitung auch nicht." In der kleinsten Stadt des Ruhrgebietes gibt es kein Café. Wohl wegen des Mangels an Bildungsbürgertum. Gebaut wird von der Gemeinde ein Spaßbad. Zwei Buchhandlungen halten sich. Ein Friseur vornehmlich für Türken heißt Haarstudio Cigdem. Das Fußballstadion nahe dem Zentrum der Kommune fasst 30.000 Zuschauer, zu den Spielen der SpVg Erkenschwick kommen höchstens 300 Zahlende. "Es ist nicht leicht, hier jeden Tag vier Seiten zu füllen", beschreibt Jörg Müller seinen harten Job als Lokalchef der Heimatzeitung.
Im Stadtzentrum von Oer-Erkenschwick, ein Fußballfeld weit entfernt vom "Roten Platz", liegt schwer übersehbar das "Bürgerbüro" der Sozialdemokraten. Es ist besetzt mit einer hauptamtlichen Angestellten. Nicht einmal in den riesigen Fenstern des Bürgerbüros hängen Wahlplakate. "Das geht so sechs Wochen vorher erst los", erläutert der junge Parteivorsitzende Andreas Krebs diese Kargheit. Er war wenige Tage zuvor mit einer viel beachteten Rede auf der örtlichen Parteiversammlung aufgefallen. Trotz tropischer Hitze waren 87 Mitglieder anwesend. Einige seien wohl egoistisch auf ihre örtlichen Ämter fixiert, wetterte Andreas Krebs. Denn in der Partei würden einige die Bundestagswahl verloren geben, auch in der Hoffnung, dass bei der anschließenden Kommunalwahl von den Wählern hier Rache an der CDU genommen werde. Und das stärke dann die schon starke SPD im Ort; es gebe dann mehr Mandate. "Es beschwert sich niemand über die Politik", ergänzt die Hauptamtliche im Bürgerbüro. Sie kommt wie viele in der Region aus "armen Verhältnissen", seit 22 Jahren wohnt die Sauerländerin in Oer-Erkenschwick. Die Frau versteht deshalb die Menschen, die den Weg in das Bürgerbüro finden. "Austritte nehmen zu", sagt die Angestellte. Das geschehe völlig unspektakulär. "Diese Leuten kommen ins Büro, sind unaggressiv, ihre Entscheidung ist unumkehrbar, es hat keinen Zweck mit denen noch zu reden." Die haben sich das lange überlegt. Diesen Abschnitt im Leben hätten sie hinter sich, sagen die oft. Beim Abschied seien die sogar recht freundlich. Schwarz werden die trotzdem nicht wählen. Die Frau erzählt aber auch erfreut, dass es nicht wenige Jugendliche seien, die ins Büro kämen und nach Mitarbeit bei den politisch sehr sperrigen Jungsozialisten fragten. Die Szene beherrscht die Gewerkschaftsjugend von der IG Bergbau Chemie und Energie. Ihre Gewerkschaft ließ an den Mauern der früheren Zeche eine modernes Jugendheim bauen. Mit Bewirtung, Disco, Politclub.
Andreas Krebs ist erst seit wenigen Wochen im Amt. Der größte Ortsverein sei Oer-Erkenschwick deshalb, weil die Partei nicht auf einzelne Stadtteile aufgeteilt wurde. Zu der erfolgreichen traditionellen Parteiarbeit sieht er keine Alternative. Hinein in die Vereine, so auch seine ständige Mahnung. Begehrt bei den Bewohnern sind Kochbücher, in denen Frauen von früheren Bergleuten honorarfrei ihre alten Kochrezepte veröffentlicht haben. "Die werden uns aus den Händen gerissen". Die Angestellte ergänzt: "Sehr begehrt sind auch Karten mit empfohlenen Fahrradtouren hier in der Umgebung. Gemacht von der SPD. Die werden vor der Wahl neu veröffentlicht. Dann ist hier das Büro aber voll."
Nach seinem Krebstod wurde die Urne des Schauspielers Klaus Wennemann aus der Fernsehserie "Der Fahnder" nach seinem Willen in Oer-Erkenschwick auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Er sympathisierte sein Leben lang mit den Sozialdemokraten. Aus familiärer Tradition. Seine Mutter erzählte einst auf dem Wochenmarkt im Ort, bei dem Tod von Barschel habe Helmut Kohl "die Finger im Spiel gehabt." "Die Leute gehen bei der Bundestagswahl mit Sicherheit politisch nicht fremd", gibt sich Andreas Krebs überzeugt, "aber wir müssen sie dazu bringen, überhaupt an die Wahlurne zu gehen." Da Edmund Stoiber "hier keinen Blumenpott gewinnen kann", hoffen die Sozis im größten Ortsverein, dass ihre Anhänger dann zur Wahl gehen werden, "wenn die Gefahr besteht, dass der dran kommt." So bauen sie auf Tradition.

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