Rechtsradikale strafbare Delikte müssen schnell, konsequent und wirkungsvoll geahndet werden. Dass diese Selbstverständlichkeit überhaupt betont und diskutiert werden muss, führt uns schon mitten ins Problem. Offenbar hängt das weit verbreitete Wegschauen, Bagatellisieren und keine wirkliche Gefahr erspüren mit einer verborgenen Zustimmung und Sympathie zusammen. Nicht etwa, dass wir immer noch ein Volk von verkappten Nazis wären - nein, aber ich habe Grund zu der Feststellung, dass Gewalt, Radikalität und Rassismus alltägliche Massenphänomene in unserer Gesellschaft sind.
Wir leben in einer gewalttätigen Gesellschaft. Die bestehenden marktwirtschaftlichen Bedingungen brutalisieren den sozialen Verteilungskampf und verhärten die menschlichen Verhältnisse durch den wachsenden Leistungs- und Konkurrenzdruck. Gewaltbereite Jugendliche mit extremistischen, menschenverachtenden Positionen sind vor allem die Symptomträger einer sich radikalisierenden Gesellschaft. Es ist dabei gut und wichtig, individuell-psychologische und allgemein-soziale Zusammenhänge zu verstehen. Kein Mensch wird eine Affinität zu gelebter Gewalt entwickeln, der nicht selbst Opfer von erfahrener Gewalt gewesen ist. Dies entschuldigt keine Gewalttat, macht aber auf die psychosozialen Wurzeln aufmerksam. Und ein Staat, der nur auf der Symptomebene reagiert, verschleiert oder nährt sogar die Ursachen und wird zunehmend ein repressiver Apparat, wenn er nicht mehr zur Prävention fähig und bereit ist.
Eine Gesellschaft, die Kinder vorwiegend autoritär, lieblos oder beziehungsarm behandelt, erzeugt spätere Gewalttäter. Wenn Kinder weniger um ihrer selbst willen angenommen und bestätigt werden, sondern vor allem Erwartungen ihrer Eltern und den entfesselten Normdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse erfüllen müssen, um "geliebt" zu werden und erfolgreich zu sein, dann wird durch Erziehung und die soziale "Normalität" eine Einschüchterung, Verunsicherung und Kränkung produziert, die nach Rache oder Ausgleich strebt. Möglichst viel Macht, Geld und Ruhm sollen sekundär ersetzen, woran es primär an Anerkennung und Liebe gefehlt hat. Man will sich durch Leistung doch noch "Liebe" verdienen und wird zum härtesten Rivalen im Kampf um eine vermeintliche Gunst. Konsum und Vergnügungen sollen die unerfüllten zwischenmenschlichen Sehnsüchte stillen und können dabei nur zu Drogen werden, da Materielles und Aktionistisches nicht Kränkungen aufwiegen und auch keine Beziehungswünsche befriedigen können.
Eine entfesselte Leistungsgesellschaft zwingt die Menschen in einen Konkurrenzkampf, in dem Siegen-Müssen das soziale Überleben sichert, wodurch aber auch zwangsläufig Verlierer produziert werden. Und die materielle Entschädigung für den Kampf und den Stress muss eben wie eine Droge immer weiter gesteigert werden, was zwangsläufig seine Grenze findet.
Wenn gesunder Wettbewerb zur pathologischen Konkurrenz wird, wenn die Freude an schönen Dingen zum Zwang einer Ersatzbefriedigung pervertiert, wenn der kränkelnde Selbstwert Statussymbole und die narzisstische Verletztheit Markenartikel zur Aufwertung brauchen, dann transformieren sich Liebesmangel und repressive Erziehung zur alltäglichen Gewalt des Stärker-, Besser-, Schneller-, Schöner-sein-Wollens und -Müssens als alle anderen. Ich bezeichne die Folgen einer lieblosen, beziehungsarmen und autoritären Erziehung als "Gefühlsstau". Die damit beschriebene Aggressivität ist normal und berechtigt. Sie wird aber zum Problem, wenn sie nicht gegen die Täter - also gegen Eltern und Erzieher und die falschen sozialen Normen - angemessen ausgetragen werden kann und sie wird zur Gewalt, wenn sie stellvertretend an Sündenböcken abreagiert wird.
Und wenn materielle Entschädigung und sozialer Status als Kompensation für seelische Verletzungen nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen oder nicht weiter gesteigert werden können, wird massenhafter Gefühlsstau zur kollektiven Gewaltentladung drängen.
Rechtsextremistische Gewalttäter mit ihrem Hass tragen auf primitive und brutale Weise aus, was in der Gesellschaft längst kultiviert ist: der Konkurrenzdruck, der Konsumzwang, der Terror durch Fülle und Vielfalt, die suggestive Nötigung der Werbung, die Überflutung und Verführung durch äußere Reize, die im Straßenverkehr ausagierte Gewalt, der Stärkekult, die Gewaltverherrlichung in Comics, Videospielen und Filmen, die "Kultur" der Katastrophen-Nachrichten und Negativ-Meldungen, der gnadenlose Leistungssport, die Idolverherrlichung, aber auch die mit Gift, Stahl und Strahl vor allem symptomatisch behandelnde Medizin, der über alle ethischen Maßstäbe hinausdrängende Forscherdrang und die entwürdigende Bürokratisierung der Gesellschaft.
Nur Menschen im Gefühlsstau sind interessiert an einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung, sie brauchen die äußeren Bedrohungen und den psychosozialen Stress, um von dem inneren Druck ablenken und äußere Verursacher und Auslöser für ihr schon längst vorhandenes Leiden benennen zu können.
Wir sprechen von "gewaltbereiten" Jugendlichen, aber es gibt aus genannten Gründen ein weit verbreitetes Gewaltbedürfnis in der normalen Bevölkerung. Wir protestieren - mit Recht - gegen Fremdenhass und leben selbst in Angst vor Fremdem, Ungewohntem und Unbekanntem. Wir prangern Ausländerfeindlichkeit an und frönen selbst einer du-bist-schuld-Ideologie. Wir wehren uns gegen Rassismus und verachten Behinderte, Schwachsinnige, Homosexuelle, Aids-Kranke, psychisch Kranke oder gar Dicke, Linkshänder, Raucher oder ... oder ... oder ...
Jeder herabgewürdigte und entfremdete Mensch hält sich sein "Schwein", dem er anlasten kann, was er nicht als eigenes Problem erkennen mag und nicht gegen die wirklichen Verletzer seiner Würde auszutragen wagt. Die Nazis brauchten die Juden, die Kommunisten den Klassenfeind, die heutigen Rechtsradikalen die Ausländer, und wir alle brauchen im Moment die Rechtsradikalen, um von der wachsenden Fehlentwicklung der Gesellschaft und dem eigenen Anteil daran abzulenken.
Die rechtsradikale Gewalt ist ein zugespitztes Symptom des allgemeinen Rassismus und der allgemeinen Radikalisierung der Mehrheit der Bevölkerung. Die frühen Defizite und Einengungen von Kindern verursachen einen Gefühlsstau als Grundlage für eine Tendenz zur Radikalisierung, die Beziehungsarmut, Lieblosigkeit und soziale Abwertung verursachen eine schwerwiegende narzisstische Kränkung als Wurzel für Rassismus, der noch Schwächere braucht, um sich selbst zu stabilisieren. Wir dürfen Rechtsradikalismus nicht nur symptomatisch bekämpfen wollen, sondern müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, indem wir uns selbst aus Gefühlsstau und Kränkung mühevoll herausarbeiten.
Unser Autor ist Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniewerkes Halle
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