Wer wird der Gorbatschow des Westens?

Kommentar Deutschland in der Breschnew-Ära

Über die politischen Inhalte entscheiden Mehrheiten. Sinnvolle, gar unumgängliche Maßnahmen werden oft abgeschmettert mit dem Hinweis: leider nicht mehrheitsfähig! So verkauft sich Politik an die Interessenverbände, an den Zeitgeist, an jeweilige Bedürftigkeiten. Der Visionär kommt gar nicht mehr auch nur in die Nähe politischer Macht, notwendige Reformen versacken im Kleinkrieg der egoistischen Argumente. So höhlt sich Demokratie selber aus, verliert politische Gestaltungskraft und damit die tragende Unterstützung durch das Volk.

Nach den jüngsten Landtagswahlen in drei Bundesländern kommt die Mehrheit nicht an die Macht. Das demokratische Kräftespiel stimmt nicht mehr. Wir werden von Minderheiten regiert. Hinter der "siegreichen" CDU in Sachsen-Anhalt stehen gerade 15 Prozent der Bevölkerung. Die "Partei der Nichtwähler" dagegen verbucht dort mit 55,6 Prozent die absolute Mehrheit. Und sie verwehrt der Demokratie ihren Respekt. Ist das berechtigt, verständlich, vielleicht sogar notwendig?

Solange eine demokratische Gesellschaft ein gemeinsames Ziel oder Gut zu verwalten und zu verteidigen hat, ist sie ganz sicher die beste aller bekannten Gesellschaftsformen. Wirtschaftswachstum und Wohlstand für alle waren die äußere Verheißung, in der die Demokratien des Westens blühen konnten im Bemühen um halbwegs gerechte Verteilung und Teilhabe. Diese Zeiten sind vorbei. Was könnte uns jetzt noch zusammenhalten? Der Kampf gegen den Terrorismus? Die Verteidigung des amerikanischen Weltreiches gegen die wachsende chinesische Macht? Erleben die Menschen überhaupt noch Sinn jenseits des Geldes und der augenblicklichen egoistischen Befriedigungen?

Wenn die demokratische Gesellschaft nichts mehr zu bieten hat, was eine Mehrheit interessiert, verliert sie ihren Sinn. Und wenn es keine wirklichen Alternativen mehr gibt, für die man sich entscheiden könnte, verliert sie ihren politischen Zweck. Ich halte es für bedenklich, wie eine seit Jahren rückläufige Wahlbeteiligung bagatellisiert wird. Verunsicherung, Ratlosigkeit und Scham werden von der politischen Klasse nicht eingestanden. Ihre Versprechen: Wachstum, Arbeitsplätze, soziale Sicherheit sind lächerlich geworden, aber ihre Unerfüllbarkeit ist kein Grund zum Lachen. Die Regierenden können die weltweiten Veränderungen nicht wirklich ordnen, sie hecheln hilflos hinterher. Wenn jedoch alles Bemühen keine Richtung mehr findet und der Lebenssinn verloren geht, entsteht ein "Energiestau", der implodieren oder explodieren, also Krankheit oder Krieg verursachen kann.

Die Verweigerer des demokratischen Spiels tragen den Keim der künftigen Veränderungen - nicht die Wähler, die sich mit ihren Vertretern offenbar einig sind, bittere Erkenntnisse und schmerzliche Veränderungen zu verleugnen und weiter im Kleinkrieg der Interessenverbände nötige Entscheidungen zu verhindern. Sollten sich die Politiker nicht im Besonderen der Nicht-Wähler annehmen? Sollten sie nicht deren Motive möglichst genau zu verstehen suchen und ihren Entschlüssen zugrunde legen?

Derzeit haben wir in Deutschland eine Herrschaft der Minderheit, die ihre Macht für das "Irgendwie-Weiter-So" einsetzt, während die Verweigerer Widerstand signalisieren - Widerstand zwischen Resignation, Angst und Wut. Sie geben zu verstehen: Von der Politik wird nichts mehr erwartet. Denn alle wissen, dass die Kassen nicht nur leer sind, sondern die Schulden die Zukunft unlebbar machen. Alle wissen, dass die Arbeitslosigkeit zunehmen wird, die Renten sinken, das Gesundheitssystem und die Sozialsysteme immer weniger leisten können. - Welche Partei stellt sich diesen Wahrheiten wirklich? Welche Gewerkschaft riskiert den Ausstieg aus den sinnlos werdenden Kämpfen um Löhne und Arbeitsbedingungen? Die Fragen der Gegenwart sind Fragen der Verteilung, der Grundsicherung für jeden, der sinnvollen Tätigkeit außerhalb von Erwerbsarbeit, der kreativen Freizeitgestaltung und Beziehungskultur. Wie kann man mit weniger gut leben? Warum wird Wachstum nur als materieller Zugewinn verstanden und nicht als psychische Bereicherung durch menschliche Beziehungen?

Die Nicht-Wähler fordern neue politische Inhalte! Geht das mit den gewählten Politikern? Wer wird der Gorbatschow des Westens? Die Arbeitslosen brauchen keine demütigenden Arbeitsagenturen, sondern Unterstützung und Angebote für sinnvolle Tätigkeiten in der von Erwerbsarbeit befreiten Zeit. Und brauchen wir nicht alle eine Gewerkschaft für gerechte und würdige Lebensbedingungen?

Hans-Joachim Maaz, Psychoanalytiker


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