Der Anti-Kubrick

Poetisches Ich Andrej Tarkovskij zeigt 1972 in Cannes ­„Solaris“ und ­besticht durch exzessive Bildsprache. ­1984 verlässt der Regisseur die Sowjetunion, ohne im Westen je anzukommen

Er kann sich zunächst nur schwer durchsetzen. Erst nach jahrelanger Behinderung durch die sowjetbürokratische Goskino-Filmverwaltung und nach einem Teststart in der DDR wird im Oktober 1971 Andrej Tarkovskijs Rubljov-Film für den sowjetischen Verleih freigegeben. Sein im gleichen Jahr nach Stanislaw Lems Science-Fiction-Roman Solaris begonnenes Werk kann der Regisseur dann aber problemlos abdrehen. Im Mai 1972 läuft der Streifen sogar als offizieller Beitrag der Sowjetunion bei den Festspielen in Cannes und erhält den Jurypreis. Begünstigt wird diese vermeintliche „Wende“ durch die Hoffnung von Goskino, Solaris könnte Stanley Kubricks Science-Fiction-Erfolg 2001: A Space Odyssey übertreffen. Goskino-Chef Filip Jermasch – der 1986 von der Perestroika in Frührente geschickt wird – träumt von einem Sowjet-Hollywood und setzt dabei auch auf Monumental-Filmer wie den Oscar-Preisträger Sergej Bondartschuk.

Doch zurück zu Solaris. Aus Lems literarischer Vorlage und dessen Kritik am Anthropozentrismus der Wissenschaft, wurde durch Tarkovskij ein Film über die von kosmischem Plasma gespeicherten, bewussten und unbewussten Gedanken der Menschen. Es entstand alles andere als ein Genrefilm. Für Goskino war damit endgültig klar, dass Tarkovskij, der schon bei seinem Diplomfilm Straßenwalze und Geige jedwede dogmatische Bildsprache verweigert hatte, zu keinerlei Konzessionen an eine leicht konsumierbare Massenunterhaltung bereit war und mit einem unbeugsamen Eigensinn auf poetisch verrätselter Filmarbeit bestehen würde. Man wusste, er würde ästhetisch wie kommerziell ewig unberechenbar bleiben.

Tagebuch vom Mai 1983

Seinen Filmen Der Spiegel und Stalker wie auch der immerhin noch sowjetisch-italienischen Koproduktion Nostalghia wurden dann auch so viele Steine in den Weg gelegt, dass Tarkovskij am 10. Juli 1984 auf einer Pressekonferenz in Mailand erklärte, nicht mehr in die UdSSR zurückkehren zu wollen. Wie schwer ihm dieser Entschluss gefallen sein muss, belegt eine römische Tagebuchnotiz vom Mai 1983: „Ein ganz schlimmer Tag. Schwere Gedanken ... Angst ... Ich bin verloren. In Russland kann ich nicht mehr leben, hier aber auch nicht.“

Im letztlich unfreiwilligen Exil, in dem er absolut kein politischer Dissident sein wollte, geriet der Künstler in einen wachsenden Konflikt mit der Marktwirtschaft. Schon 1983 hatte er gegenüber dem Spiegel erklärt: „Hier im Westen ist das Geld der absolute Herrscher. Das bedroht die Kreativität und ist gefährlich für die ganze Zukunft der Filmkunst. Solche Sorgen habe ich in der Sowjetunion nie gehabt.“ Dort konnte er notfalls einen Film noch einmal drehen, wenn wie 1979 eine beschädigte Kopie dazu zwang.

Der Materialismus des „freien Marktes“ schien für Tarkovskij ein fast noch größerer „Verrat geistiger Spiritualität“ zu sein als die sowjetische Materialismus-Doktrin, die er unter qualvollen Schwierigkeiten in seinen Filmen noch unterwandern konnte. Er reagierte immer ablehnender auf die Zivilisation des Westens. Deren Ursünde sah er in Rationalismus und Pragmatismus. Irritierend eigensinnig polemisierte er gegen moderne Kunst, gegen Strukturalismus, Psychoanalyse und Feminismus. Er glaubte, diese Zivilisation steuere einem inneren und äußeren Supergau entgegen. Darüber drehte er in den Jahren 1985/86 in Schweden seinen letzten Film Das Opfer, bevor er am 29. Dezember 1986 im ungeliebten Exil starb. Es ist ein Werk von bekenntnishafter Direktheit, die ihn sogar auf das verzichten ließ, worin der schwedische Regisseur Ingmar Bergmann Tarkovskijs filmhistorische Größe sah, „das Leben als Vision, als Traumbild zu erfassen“. Bei der Premiere in Cannes hatte Das Opfer fast etwas Prophetisches – über den Himmel Europas zogen die Wolken von Tschernobyl.

In dem 1985 zuerst auf Deutsch erschienenen Buch des Regisseurs Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films stößt man auf irritierend „antimoderne“, ja „anti-aufklärerische“ Formulierungen, hinter denen sich häufig auch prinzipieller Widerspruchsgeist verbirgt, wie man ihn schon bei Tarkovskijs Vorfahren finden konnte. Sein Großvater war ein aktiver Narodowolzen-Revolutionär, den ein zaristisches Gericht im Alter von 22 Jahren zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilte. Der Vater Arsenij Alexandrovitsch Tarkovskij gehörte nach der Revolution als Lyriker und Übersetzer zum Kreis der literarisch wie politisch ausgesprochen nonkonformistischen Dichterinnen Marina Zvetajeva und Anna Achmatova. Und der junge Andrej Tarkovskij provozierte als jazzsüchtiger, extravagant gekleideter Hipster der Moskauer Subkultur das hauptstädtische Establishment der fünfziger Jahre. In Stalins Todesjahr 1953 brach er sein Arabistik-Studium ab und suchte mit einer Geologen-Expedition Diamanten in der fernöstlichen Tuchuchansker Taiga. Genau dort, wohin Stalin einst verbannt worden war. An der Moskauer Filmhochschule VGIK studierte er danach zusammen mit der legendären Tauwetter-Generation, deren unangepasst individuelle Filme das Sowjetkino nachhaltig verändern sollten. Tarkovskij Lehrer war Michail Romm, der den Dokumentarfilm Der gewöhnliche Faschismus gedreht hatte und die Studenten selbst dann zu eigenverantwortlicher Kreativität ermunterte, wenn sie ihm fremde Wege gingen.

Haus der eigenen Kindheit

Individualität wurde für Tarkovskij in geradezu extremer Weise zum Urgrund seines Schaffens. Die Hauptfiguren seiner Filme wirken stets wie ein poetisches Ich des Regisseurs. Das galt selbst für den Ikonen-Maler Andrej Rubljov (1360 – 1430), an dem Tarkovskij das Charisma des unangepassten Künstlers interessierte. Er provozierte damit nicht nur Sowjethistoriker, sondern auch kirchliche Patriarchen und den Schriftsteller Alexander Solschenizyn. Der schrieb ein seitenlanges Pamphlet gegen diese „Verhöhnung und Herabsetzung unserer Geschichte“ und des Malers Andrej Rubljov.

Immer wieder imaginieren Tarkovskijs Filme das Haus der eigenen Kindheit. Im Spätwerk Das Opfer verbrennt symbolisch die Suche nach der verlorenen Zeit. Selbst Freunden ging diese introvertierte Perspektive mitunter zu weit. Sein langjähriger Kameramann Vadim Jussov verweigerte gar die Mitarbeit am exklusiv autobiografischen Der Spiegel. Gerade dieser Film sollte jedoch wegen seiner radikal authentischen Subjektivität zum Déjà-Vu-Erlebnis einer ganzen Generation werden.

So stellte Tarkovskij den Werten der westlichen Zivilisation geradezu insistierend die „spirituelle Geistigkeit“ des Ostens entgegen. Ein häufig unverstandener Begriff, der unter anderem zu pseudoreligiösen Spekulationen verführte: Sicher wurde Tarkovskij vom ostkirchlichen Bildverständnis geprägt, nach dem die Ikone keine bloße didaktische Illustration, sondern ein Fenster in die Transzendenz des Nichtsichtbaren ist. Doch ein russisch-orthodoxer Filmkünstler war und wollte er niemals sein. Die orthodoxe Kirche war für ihn „nur noch eine hohle Fassade, eine Karikatur der gesellschaftlichen Institutionen, die das praktische Leben organisieren“. Er hatte eine starke Neigung zu Esoterik, Okkultismus, Parapsychologie und Anthroposophie, auch zum Zen-Buddhismus. Mehr noch als in Russland entdeckte er spirituell-geistige Spuren in Asien und in der westeuropäischen Malerei des Mittelalters. Zu Tarkovskijs Träumen gehörte auch die Vision von einer spirituell-geistigen Wiedervereinigung Europas und der Welt.

Berlin erlebte Tarkovskij diesseits und jenseits der Mauer. Nach einer lebhaften Ostberliner Solaris-Debatte im März 1973 wollte er bei der DEFA Thomas Manns Roman Der Zauberberg verfilmen, doch es blieb bei der Absicht. Mitte der achtziger Jahre schließlich lebte er als Stipendiat in Westberlin: „Eine entsetzliche Stadt. Wir müssen so schnell wie möglich fort von hier“, schreibt Tarkovskij am 27. Februar 1985 in sein Tagebuch.

Hans-Joachim Schlegel ist Filmhistoriker

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