Dieses Jahr in Karlsbad

Chancen und Hoffnungen Eine Nachbetrachtung zum 36. Filmfestival von Karlovy Vary

Nach der drohenden Abwicklung in den »Wende«-Jahren hat das Internationale Filmfestival von Karlovy Vary (Karlsbad) jetzt auch die Konkurrenz des Moskauer Festivals, mit dem es sich früher »brüderlich« im Zweijahresrhythmus abwechselte und nun nicht nur in terminlicher Rivalität steht, souverän gemeistert: Mit engagiertem Sachverstand und organisatorischer Umsicht ist Karlovy Vary zu einer Drehscheibe ost-westlicher Filmkulturen geworden, deren Chancen selbst notorisch skeptische westeuropäische Produzenten zunehmend ernster nehmen. So gab die Pariser Victoire Productions vor der Teilnahme am Wettbewerb in Cannes dem schnellen Kinostart den Vorzug und setzte auf den in Karlsbad erheblich aussichtsreicheren Festivalerfolg. Und die Rechnung ging auf: Jean-Pierre Jeunets tatsächlich beeindruckend zwischen grotesk-komödiantischem Witz und poetischer Bildmagie changierende Amélie erhielt den »Kristallglobus«, den Karlsbader Grand Prix.

Zurückhaltender sind dagegen einige einheimische Produzenten geworden, die ihre Filme offenbar anderswo starten wollen. Auch Staatspräsident Václav Havel präferierte bei seiner Karlsbader Stippvisite die westeuropäische Produktion Intimacy, den diesjährigen Berlinale-Sieger. Bedenkt man seine Herkunft aus einer einflussreichen Prager Filmproduzenten-Familie der Vorkriegs- und Protektoratszeit und seine Freunde unter den Regisseuren des »Prager Frühlings«, hätte man eigentlich ein anderes Zeichen erwartet. Doch die Politiker in Prag scheinen ihre nationale Filmkultur überhaupt nicht mehr sonderlich ernst zu nehmen. Das Parlament fegte soeben eine Initiative für ein Koordinationszentrum der tschechischen Filmkultur vom Tisch, so dass Tschechien auch weiterhin das einzige Land bleibt, das das internationale Schicksal der einheimischen Filmproduktionen dem Zufall überlässt, und das obwohl sie (siehe Freitag letzter Woche) zuhause steigende Zuschauerakzeptanz verzeichnet.

Ermutigende Zeichen für eine Trendwende in den viel zu lange von trivialen Hollywood-Imitaten und »Europuddings« bestimmten Filmkulturen Ost-/Mitteleuropas setzten in Karlovy Vary erfolgreiche Filme aus Polen und Ungarn, die sich Gegenwartsthemen stellen. Im programmatisch budgetarm und schwarz-weiß gedrehten Spielfilm Hi, Terezka (Jury-Sonderpreis) schildert der Pole Robert Glinski das sozial- und sexualpsychische Drama eines in der Warschauer Plattenbau-Wüste vereinsamten Mädchens. Er tut dies mit einem kompromisslosen Realismus, der an das polnische »Kino der moralischen Unruhe« erinnert, das in den achtziger Jahren einen ideoästhetisch höchst folgenreichen Ausbruch aus der Sackgasse sozrealistischer Schablonen einleitete. Vielleicht ermutigt Hi, Terezka ja nun einen Aufbruch aus den Trivialklischees postsozialistischer Filmtristesse.

In Chico (Preis für die beste Regie und Preis der ökumenischen Jury) greift die Ungarin Ibolya Fekete die authentische Biografie eines in Lateinamerika aufgewachsenen ungarischen Juden auf, der unter dem Einfluss seines antifaschistisch-kommunistischen Vaters, linker Jesuiten-Patres und dem chilenischen Junta-Putsch zu einem leidenschaftlichen Guevara-Anhänger heranwächst und nach der Implosion des »realen Sozialismus« dann in eine heillose Identitätskrise stürzt. Zerrissen zwischen Judentum und Linkskatholizismus vermag ihm auch die Religion keinen neuen Halt zu geben, und so stürzt er sich im zerbrechenden Jugoslawien in ein Landsknecht-Abenteuer - auf der Seite kroatischer Truppen. Ein individueller Fall, in dem sich Aspekte jener Utopie-Tragödie des ausgehenden 20. Jahrhunderts spiegeln, die in postsozialistischen Filmen bislang ausgespart blieben und hier glücklicherweise nicht nach gängigen Regeln der »political correctness« zurechtgestutzt werden. Ähnliches gilt auch für den tschechischen Film Rückkehr im Herbst des Griechen George Agathonikiades, der im Mai 1948 als Kind analphabetischer kommunistischer Bürgerkriegspartisanen nach Mähren kam und jetzt im Herbst seines Lebens den emotionalen und ideologischen Spuren dieser Kindheit in einem Film mit selbstbestimmter statt wendehälsischer Identitätssuche nachgeht. Dies erweitert die postsozialistische Vergangenheitsbewältigung in auch hierzulande nachdenkenswerter Weise. Zwei, drei Filme machen sicher noch keinen Filmfrühling. Aber es ist gut, dass Karlovy Vary solchen Hoffnungen Chancen gibt und insgesamt eher auf Europa als auf Hollywood setzt. Auf so einen EU-Partner darf man sich freuen.

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