Vor einigen Tagen war in einem FAZ-Kommentar zu lesen: "Ob es einem passt oder nicht: Der nächste absehbare Bundestagswahlkampf wird über die soziale Gerechtigkeit geführt werden". Was dem Autor ein offensichtliches Ärgernis war, ist anderen Grund zur Freude. Denn der Aufschwung, den das Gerechtigkeitsthema nimmt, verweist auf die nachlassende Ausstrahlungskraft eines politischen Neoliberalismus, der Gerechtigkeitsziele in der Wirtschaft für schädlich und in der Politik für unerreichbar erklärt - eine gute Nachricht für die Opfer neoliberaler Politik. Für Arbeitslose, Rentner und für in Armutshaushalten lebende Kinder.
Doch eine Debatte über Gerechtigkeit allein wird den schwankenden Neoliberalismus nicht zu Fall bringen. Läng
ringen. Längst hat der Aufbau politischer Stützen begonnen. So wird die vermeintlich innovationsfördernde Wirkung sozialer Ungleichheit wieder entdeckt. Und die moderne Sozialdemokratie kontert mit einer diffusen Rhetorik über Chancengerechtigkeit, um der Diskussion vorsorglich ihre verteilungspolitische Brisanz zu nehmen.Und die Gewerkschaften? Wäre es nicht an ihnen, den Akzeptanzzerfall des Neoliberalismus zu befördern und sich als Träger einer solidarischen Reformalternative zu empfehlen? Dazu scheinen sie derzeit nur bedingt in der Lage. Massenarbeitslosigkeit, Mitgliederverluste, rückläufige Verhandlungsmacht in der Betriebs- und Tarifpolitik und nicht zuletzt die Aufkündigung des sozialstaatlichen Klassenkompromisses haben sie spürbar geschwächt. Mitunter wird selbst von Sympathisanten das Negativszenario eines deregulierten "Kapitalismus ohne Gewerkschaften" (Walter Müller-Jentsch) entworfen.Es gibt natürlich auch andere Signale. So fördert eine Debatte um neue "Organizing"-Strategien innovative Praktiken zutage, um Mitglieder und gewerkschaftliche Verhandlungsmacht zurück zu gewinnen. In lokalen Kämpfen um Standorte, Arbeitsplätze und Sozialstandards wird wieder mehr gewerkschaftliches Selbstbewusstsein deutlich. Und die jüngsten Tarifabschlüsse, nicht zuletzt der IG Metall, haben den verteilungspolitischen Niedergang abhängiger Arbeit zumindest gebremst.Doch sollten die Anzeichen neuer gewerkschaftlicher Lebenskraft nicht zu vorschneller Entwarnung verführen. Zu fragil sind diese Erfolge - zu gravierend die Strukturprobleme, vor denen die Gewerkschaften stehen. Eine wirkliche Revitalisierung verspricht hingegen eine Erneuerungsstrategie, die sich um die Begriffe Arbeit, Sozialstaat und nicht zuletzt Europa entwerfen ließe.Mit Blick auf Arbeit sind der Diskussion in letzter Zeit zumindest zwei Erkenntnisse zu verdanken, hinter die auch die gewerkschaftliche Politik nicht zurückfallen sollte: Die Gesellschaften des neuen Kapitalismus bleiben Arbeitsgesellschaften, und der unverstellte Zugang zur Erwerbsarbeit bleibt eine unverzichtbare Voraussetzung individueller Emanzipation. Wer daraus die politische Leitlinie "Jede Arbeit ist besser als keine" ableitet, ist den ersten Schritt vom emanzipatorischen Recht auf Arbeit zum repressiven Arbeitszwang bereits gegangen. Die Kritik an der Arbeitsgesellschaft mag mitunter über das Ziel hinausgeschossen sein. Aber dass nur sozial geschützte, gesellschaftlich sinnvolle, ökologisch verträgliche und individuell befriedigende Arbeit Ziel linker Politik sein kann, sollte sich herumgesprochen haben.Die IG Metall hat mit ihrem Projekt Gute Arbeit ein Gegenkonzept zu aktuellen Tendenzen in den Betrieben und der Arbeitsmarktpolitik aufgelegt. Der Maßlosigkeit einer schier grenzenlosen Leistungserwartung und entsprechender Arbeitszeiten setzt sie den Rückgewinn von Arbeits- und Zeitsouveränität entgegen. Eine prekarisierte Lohnarbeit, die als Leiharbeit, als befristete und unversicherte Beschäftigung längst die industrielle Massenproduktion erreicht hat, wird mit einer neuen Konzeption sozialer Regulierung und Sicherheit beantwortet. Entdecken nicht auch die Parteien gerade die wahltaktische Attraktivität von Strategien, die sich um eine neue Qualität moderner Arbeit bemühen?Neue, gute Arbeitsverhältnisse dürften jedoch ohne eine adäquate Sozialstaatspolitik nicht zu haben sein. Und die hat einen schwierigen ordnungspolitischen Spagat zu meistern. Zum einen erfordert die "Rückkehr sozialer Unsicherheit" (Robert Castel*) durch prekäre Beschäftigungslagen neue Modelle einer arbeitsorientierten Sicherheitsarchitektur. Diese beginnt mit Mindestlöhnen und bedarfsorientierten Sozialstandards. Und sie reicht bis zu praktikablen Ausstiegsmodellen aus der Erwerbsarbeit, die der arbeitsmarkt- und sozialpolitisch widersinnigen Verlängerung der Lebensarbeitszeit - Stichwort: Rente ab 67 - Optionen eines selbstbestimmten, flexiblen Übergangs in die Rente entgegensetzen. Nur reicht das nicht. Zugleich sind soziale Sicherungskonzepte nötig, um die Zwänge einer verabsolutierten Ausrichtung an Erwerbsarbeit zu überwinden und auch nicht erwerbsförmige, gleichwohl sinnvolle Tätigkeiten sozialstaatlich abzusichern.Alles dies liefe auf eine umfassende Sozialreform hinaus. Sie könnte auf nationalstaatlicher Ebene eingeleitet, müsste aber durch eine entsprechende Politik der europäischen Institutionen flankiert werden. Leider bevorzugt die EU eine andere Richtung. Der zur Ratifizierung anstehende "Vertrag von Lissabon" schreibt zentrale Defizite des ehemaligen Verfassungsentwurfs fort - als sei nicht dessen Scheitern Indiz für eine fundamentale Akzeptanzkrise der EU gewesen, als würde nicht eine auf Deregulierung und Privatisierung ausgerichtete Integration mit rasanter Geschwindigkeit an Zustimmung verlieren.Das freilich scheint die EU-Eliten wenig zu kümmern. Sie haben die nach den Negativ-Referenden in Frankreich und den Niederlanden ausgerufene "Periode der Reflexion" vertan. Die ökonomistische Schlagseite des Vertrages wurde nicht korrigiert, die durchgreifende Demokratisierung von Institutionen und Entscheidungen blieb aus. Die außen- und militärpolitischen Vertragsvorgaben entwerfen ein Europa, das sich offenkundig als Gegenspieler zu den USA definieren will.Die Gewerkschaften schwanken bisher zwischen Billigung und dem Verlangen nach einem Kurswechsel. Mit Blick auf erneuerte gewerkschaftliche Gestaltungskraft dürfte allein die zweite Option erfolgversprechend sein. Eine ökologisch verträgliche Wachstumspolitik, verbindliche Mindeststandards bei Steuern und Sozialnormen, eine wachstums- und beschäftigungsfördernde Geld- und Fiskalpolitik und der Ausbau öffentlicher Dienste markieren einen anderen Pfad für Europa. Die Union kann dabei nur an Zustimmung - und die Gewerkschaftsbewegung nur an Stärke gewinnen.Als alleinige Träger eines solchen Projekts der Erneuerung von Arbeit, Sozialstaat und Europa sind die Gewerkschaften zweifellos überfordert. Unverzichtbar ist daher eine europäische, zivilgesellschaftliche Reformbewegung - ein Bündnis der Verschiedenen, dem neben erstarkten Gewerkschaften die globalisierungskritischen Bewegungen, Selbsthilfegruppen der sozialen Modernisierungsopfer, progressive Teile der Parteien sowie die noch nicht vom Mainstream eingemeindeten Intellektuellen angehören. Den Gewerkschaften sollte viel an einer solchen Bewegung liegen. Die kann ihnen zwar ihre Hausaufgaben in der Betriebs-, Sozial- und Europapolitik nicht abnehmen, aber helfen, ein gesellschaftspolitisches Mandat zu erneuern.(*) Französischer Arbeitssoziologe, lehrt an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.Hans-Jürgen Urban leitet den Bereich Gesellschaftspolitik / Grundsatzfragen der IG Metall.