1984 heute

Zeitgeschichte 60 Jahre nach seinem Erscheinen ist vieles aus George Orwells berühmtem Roman zur Überwachungsgesellschaft wahr geworden – allerdings anders als befürchtet

Wenn Winston Smith heute durch die Straßen Londons ginge, würde ihm sicher vieles vertraut vorkommen. An jeder Ecke Kameras, die dafür sorgen, dass ein Brite, so die Berechnung einer Studie, pro Tag durchschnittlich 300 Mal auf Überwachungsmonitoren eingefangen wird. Gelegentlich fährt ein kleines Auto mit einer Kamera auf dem Dach durch die Straßen und nimmt jedes Detail der Umgebung auf. Sollte die inzwischen 64 Jahre alte Romanfigur auch im Internet surfen, würde an unzähligen Stellen ihre Daten gesammelt. Aber vermutlich würde sich Smith die Frage stellen: Wo ist eigentlich der Große Bruder geblieben, der dieses Wissen über mich zusammenträgt? Seine omnipräsenten Plakate mit den Augen, die einen auf Schritt und Tritt verfolgen, wären auf jeden Fall verschwunden. Aber die negative Utopie, die Smith’ Schöpfer George Orwell in seinem Roman 1984 schildert, ist immer noch sehr gegenwärtig.

Dem Buch war unmittelbar nach seinem Erscheinen vor 60 Jahren, am 8. Juni 1949, ein weltweiter Erfolg beschieden. Das Werk, das Orwell während des Schreibens als „Fantasie in der Gestalt eines naturalistischen Romans“ bezeichnete, sollte zu einem der bekanntesten und wichtigsten des 20. Jahrhunderts werden. In den 60 Jahren seit der Veröffentlichung von 1984 ist Orwell zu dem geworden, was D. J. Taylor, Autor einer 2003 veröffentlichten Orwell-Biographie, einen „weltlichen Propheten“ nennt und dem zugeschrieben wird, einige der verstörendsten Phänomene der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorhergesagt zu haben. Einige der in 1984 entwickelten Ideen – Big Brother, Neusprech, die Gedankenpolizei – haben Eingang in die Sprache gefunden. Das vielleicht eindrücklichste Beispiel ist die Entstehung des Adjektivs „orwellsch“, das zu einem Synonym für eine albtraumhafte, totalitäre Gesellschaft geworden ist.

Auch wenn diese Vorstellungen allgegenwärtig geworden sind, lässt sich doch nicht mit Bestimmtheit sagen, dass ihre heutige Verwendung viel mit dem zu tun hat, was Orwell ursprünglich im Sinn hatte. Oft wurde das komplexe fiktionale Werk auf ein politisches Manifest reduziert. Viele Menschen beziehen sich auf den Roman, ohne ihn jemals gelesen zu habe. In Großbritannien belegte 1984 kürzlich den ersten Platz in einer Umfrage über die Bücher, von denen die Briten fälschlicherweise behaupten, sie gelesen zu haben.

1984 entstand vornehmlich aus Opposition gegen und aus Furcht vor dem Totalitarismus. Orwell befürchtete, die Entwicklung von Nuklearwaffen könne zur Entstehung zweier oder dreier riesiger Superstaaten führen, die sich gegenseitig neutralisierten und nahezu völlige Kontrolle über ihre jeweiligen Bevölkerungen ausübten. Den Ausbruch eines Atomkrieges hielt Orwell eher früher als später für wahrscheinlich und beschrieb 1984 in einem Brief als Roman „über den Stand der Dinge, sollte der Atomkrieg zu keinem eindeutigen Ergebnis führen“.

Die Telekom als Big Brother

Fast vom Augenblick seiner Veröffentlichung an wurde 1984 jedoch von der Rechten als Kritik am Sozialismus im Allgemeinen und an der damals regierenden britischen Labour-Partei im Besonderen interpretiert. Kein Schriftsteller – mit Ausnahme Alexander Solschenizyns – wurde während des Kalten Krieges wohl öfter als Orwell für die antikommunistische Propaganda herangezogen. Im Gegenzug kritisierten ihn viele britische Linke dafür, den Rechten Argumente geliefert zu haben. Dies war jedoch nie Orwells Absicht gewesen. In einer Erklärung, die er seinen Verlegern Secker Warburg übergab und die später als Pressemitteilung verwendet wurde, sagte Orwell, die Gefahr, auf die er hinweisen wolle, bestehe „in der Struktur, die sozialistischen und liberalen kapitalistischen Gesellschaften durch die Notwendigkeit der Vorbereitung auf den totalen Krieg auferlegt“ werde. Er habe nichts gegen den Sozialismus, sondern lediglich gegen „die Akzeptanz seiner totalitären Erscheinungsform durch Intellektuelle aller Couleurs“.

Statt dessen haben Intellektuelle aller Couleur in den vergangenen 60 Jahren Elemente der fiktiven Romanwelt auf alle möglichen Bedrohungen übertragen, die zwar real sein mochten, aber wenig mit dem zu tun hatten, was Orwell vorschwebte. Dies betrifft vor allem das Spektrum des „Big Brother“ in seinen vielgestaltigen Erscheinungen. Seit der Veröffentlichung des Romans ähneln diese jedoch immer weniger dem, was Winston Smith in dem Buch erlebte. Heutzutage wird „Big Brother“ ebenso beschworen, um die Praktiken von Unternehmen zu beschreiben wie die von Staaten. Seien es Google wegen der Sammlung von Nutzerdaten im Internet oder die Deutsche Telekom wegen des Ausspionierens von Vorstandsmitgliedern und Journalisten. So besorgniserregend diese Praktiken auch sein mögen, sie zielen jedoch nicht darauf ab, die Gedankenkontrolle zu perfektionieren, sondern dienen dem Zweck, den Marktanteil und den Gewinn zu steigern.

Besonders in der gegenwärtigen explosionsartigen Verbreitung von Videoüberwachungsanlagen auf britischen Straßen sehen viele eine teilweise Erfüllung von Orwells Überwachungsparanoia. Großbritannien verfügt über geschätzte 4,2 Millionen Überwachungskameras, auf 14 Einwohner kommt eine Kamera. Aber so verstörend dies auch sein mag, bleibt doch immer noch ein Unterschied zu Orwells Albtraum von den in zwei Richtungen benutzbaren Monitoren, die die Überwachung in den eigenen vier Wänden ermöglichen und somit eine Form der Gedankenkontrolle darstellen. Durchaus ein Stück der Orwellschen Dystopie könnte jedoch der Umstand sein, dass die Mehrheit der Briten sich durch den massiven Gebrauch der Überwachungskameras nicht in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlt, sondern ihn im Gegenteil befürwortet.

Die Gefahr der Selbstzufriedenheit

Shami Chakrabarti, Vorsitzende der britischen Bürgerrechtsorganisation Liberty, ist der Ansicht, dass auch 25 Jahre nach dem Jahr, in dem sein Roman angesiedelt ist, Orwells Ängste im wesentlichen keine Realität geworden sind. „1984 hat sich noch nicht ereignet“, sagte sie dieses Jahr auf einer Diskussionsveranstaltung. „Die große Gefahr in Großbritannien besteht vielmehr in unserer Selbstzufriedenheit, weil es uns so gut geht.“ Für Chakrabarti besteht die wahre Bedeutung Orwells für das 21. Jahrhundert nicht so sehr in der gestiegenen Anwendung von Überwachungstechnologien, sondern in der betrügerischen Verwendung der Sprache. „Für mich steht ‚orwellsch‘ letzten Endes für den Missbrauch der Sprache, die zum Missbrauch von Menschen führt“, sagte sie. Beispiele für dieses Neusprech könnten die Verwendung von Euphemismen wie „außergewöhnliche Auslieferung“ für das, was in Wirklichkeit nichts anderes als „Entführung“ ist, oder „verbesserte Verhörtechniken“ für das, was in Wirklichkeit „Folter“ genannt werden müsste.

Dies bedeutet aber nicht, dass Orwell die amerikanische Politik des „Krieges gegen den Terror“ wegen der dabei verwendeten Sprache abgelehnt hätte. Liest man seine von Patriotismus getragenen journalistischen Arbeiten aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, kommt man vielmehr an der Frage nicht vorbei, ob Orwell im islamistischen Terrorismus nicht eine weitere Spielart des Totalitarismus erblickt hätte, den die demokratische Welt ebenso bekämpfen müsste wie sie die Nazis bekämpfte. Letzten Endes führen derlei Spekulationen aber zu nichts: Orwell erlebte weder die Entwicklungen des Kalten Krieges noch die Welt danach, und man kann unmöglich wissen, wie die folgenden Ereignisse sein politisches Denken beeinflusst hätte.

Der Begriff „orwellsch“ bleibt daher vielleicht bedeutsamer in seinem positiven Sinne, – eine Beschreibung der Art und Weise, wie Orwell selbst dachte und schrieb – als in ihrem negativen Sinne, als Darstellung einer gewissen Art von Dystopie. „Orwellsch“ steht nicht für eine bestimmte Politik oder politische Haltung, sondern eher für eine Sensibilität, die der Autor selbst einmal beschrieben hat als die „Kraft, unangenehmen Tatsachen ins Auge zu blicken“.

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Übersetzung: Zilla Hofman / Holger Hutt

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