In den vierziger Jahren war ich Sekretär einer mehr oder minder geheimen Literaturzeitschrift. An einem Nachmittag, der wie alle anderen war", schreibt der weltberühmte argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, "brachte mir ein hoch aufgeschossener junger Mann ... eine handgeschriebene Erzählung. ... Wenig später las Julio Cortázar die gedruckte Fassung von Casa Tomada (Das besetzte Haus) ... Viele Jahre später vertraute er mir eines Abends in Paris an, dies sei seine erste Veröffentlichung gewesen. Es ehrt mich, sein Werkzeug gewesen zu sein."
Wie sehr Borges Cortázars Erzählungen geschätzt hat, lässt sich nicht nur von seiner frühen Publikation ablesen. In seiner 1988 postum erschienenen Persönlichen Bibliothek, die no
chen Bibliothek, die noch einmal die prägenden Leseerfahrungen des Schriftstellers versammelt, die durch die ganze Weltliteratur führen, stellt Borges den Text über die Erzählungen Cortázars an die erste Stelle. Kurz vor seinem Tod hat Julio Cortázar eine Gesamtausgabe seiner Erzählungen zusammengestellt. In vier Bänden thematisch geordnet - das Ordnungsprinzip zeigt sich bereits im jeweiligen Titel: "Riten", "Spiele", "Passagen" und "Hier und jetzt" - werden die Erzählungen aus ihrer festen Lage in den durchkomponierten Erzählbänden gelöst, um noch einmal einen Blick ins Offene des Territoriums von Julio Cortázar zu erlauben: ein Verfahren, das auch an seinen bekanntesten Roman Rayuela - Himmel und Hölle aus dem Jahr 1963 erinnert, der neben der erwartungsgemäßen Lektüre von vorn nach hinten bewusst eine sprunghafte Lesebewegung durch das Prosalabyrinth offen lässt.Die neue Gesamtausgabe der Erzählungen von Julio Cortázar, übersetzt von Fritz Rudolf Fries, Wolfgang Promies und Rudolf Wittkopf, folgt der 1994 in Madrid erschienenen Ausgabe Cuentos Completos des Verlages Alfaguara. Hier sind die Erzählungen chronologisch geordnet und in ihrem ursprünglichen Erzählverband wiedergegeben. Ergänzend erscheint der von Cortázar publikationsreif im Schreibtisch verwahrte Erstling Das andere Ufer aus dem Jahr 1945, der zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt. Dazu kommen die beiden Kurzprosabände Geschichten der Cronopien und Famen und Ein gewisser Lukas, vier Texte aus Reise um den Tag in 80 Welten und Letzte Runde, die von Julio Cortázar nicht in seine vierbändige Ausgabe der Erzählungen aufgenommen worden sind.In der Prosasammlung Letzte Runde steht der programmatische Text Über die Kurzgeschichte und ihr Umfeld, der eine Standortbestimmung der Erzählungen vornimmt. "Ein wunderbarer Vers von Pablo Neruda: ÂMeine Geschöpfe entstehen aus langer ZurückweisungÂ, scheint mir die beste Definition eines Prozesses, in dem Schreiben gewissermaßen Exorzieren ist, Eindringlinge abwehren, indem man sie in einer Art und Weise projiziert, die ihnen paradoxerweise eine universale Existenz verleiht und sie zugleich auf das andere Ende der Brücke versetzt, wo der Erzähler, der die Blase aus seiner Tonpfeife gepustet hat, nicht mehr ist."Julio Cortázars literarisches, postum erschienenes Debut - Das andere Ufer - ist weit mehr als eine erste Fingerübung, die auf Raumerkundung aus ist. In drei Abteilungen formiert - in seinen Erzählungsbänden bevorzugt Cortázar die Dreiteilung - orientieren die zwölf Erzählungen, die zwischen 1937 und 1945 geschrieben worden sind, auf einen Bereich des Offenen zu, in dem Entfremdung und Deplazierung sich ereignen und die Texte mit einer mitunter verstörenden, aber auch humorvoll komischen Unterströmung speisen. Plagiate und Übersetzungen lautet ironisch der erste Abteilungstitel, der mit der modernen Variante einer Vampirgeschichte Der Sohn des Vampirs nicht nur eine herkömmliche Gattung der phantastischen Literatur parodiert, sondern auch mit dem Vampirismus ein zentrales Motiv Cortázars einführt, das später im Experimentalroman 62/Modellbaukasten wieder aufgefrischt werden wird.Ein auf Abwege geratener Vampir begehrt eine englische Lady über das von ihm naturgemäß erwartete Verhaltensmuster hinaus und zeugt mit ihr einen Sohn, der den Anlagen des Vaters gemäß der werdenden Mutter schon als Embryo das Blut aussaugt und sich bei der Geburt konsequent ihren Körper als den seinigen aneignet, um Schlag Zwölf mit seinem Vater zu verschwinden, während Ärzte und Krankenschwestern fassungslos die Grenzen ihres wissenschaftlichen Weltbildes erfahren. Metamorphose und Grenzüberschreitung öffnen hier in Cortázars klamauknahem Spiel mit dem Genre des Phantastischen erste Türen in ein Terrain, in dem der Vampir auch ein Reflex des Schriftstellers ist.Auch die folgende Geschichte Die wachsenden Hände speist ihre Energie aus der Welt des Phantastischen und Grotesken, die Cortázar als Übersetzer von Edgar Allen Poe für seine eigenen poetischen Erkundungen zu nutzen weiß. Überdies ist der Text ein Prototyp für spätere Boxergeschichten, in denen Cortázar eine Analogie von Boxen und Schreiben verfolgt. Überhaupt fällt bei der erneuten Lektüre der Erzählungen auf, wie zentral das Motiv der Hand in fast allen Texten auftaucht, wie verschränkt das Werk Cortázars gerade durch die ineinandergreifenden Hände - des Schreibens und des Lebens - ist.Nach einer provozierten Schlägerei beginnen die siegreichen Hände des Protagonisten durch hemmungsloses Wachstum ein Eigenleben, dem der Held und seine Umwelt zunehmend nicht mehr gewachsen sind. Was mit literarischem Slapstick und Komik scheinbar harmlos beginnt, endet in einem Alptraum, der sich zuletzt auch noch als Realität entpuppt. Spielerisch verkehrt Cortázar die Hierarchien von Teil und Ganzem, von Traum und Wirklichkeit.Mit den Erzählungen Das Telefon klingelt, Delia und Remis tiefer Mittagsschlaf treffen wir auf erste Vertreter von Trennungs- und Kindheitsgeschichten, die als Transiträume den Übergang von Leben und Tod, von Kindheit und Erwachsensein umfassen. Die Geschichte Puzzle trägt nicht nur im Titel ein literarisches Verfahren, das später von Autoren wie Georges Perec und Jean Echenoz labyrinthisch fortgeführt werden wird. Puzzle weist auch auf den Zufall als plötzlich entgrenzendes und neuzusammensetzendes Phänomen, das Brücken in Nebenwelten passierbar macht, die sonst nur im Traum aufscheinen.Geschichten von Gabriel Medrano heißt der Mittelteil des anderen Ufers und antizipiert ein Schriftsteller-Alter ego Cortázars aus seinem Roman Die Gewinner, das mit seinen Reflexionen den kafkaesken Verlauf einer Kreuzfahrt kommentiert, die eine Gruppe als Gewinn einer Sonderausspielung der Staatslotterie unternimmt. In der Geschichte Circe aus dem Band Bestiarium erfahren wir am Rande von einer Metrostation in Buenos Aires, die auch Medrano heißt. So erscheint der Schriftsteller als Untergrundbahn und als Station eines unterirdischen Netzes, das alles miteinander unsichtbar verbindet und in alle Richtungen offen bleibt. Natürlich schwingt da auch das Labyrinth der Literatur mit, die Odyssee des Namenlosen, der auf den Etappen seiner langsamen Heimkehr ständig an andere Ufer gelangt. Im Untergrund sich zu bewegen, hat auch eine politische Konnotation für das Werk des bis zum seinem Tod 1984 im französischen Exil lebenden Julio Cortázar, der immer auch als entschiedener Verfechter der Menschenrechte und der sozialistischen Revolution Position bezogen hat gegen Terror und Verstümmelung, Überwachung und Barbarei.Die Erzählung Gewisse Veränderungen ist ein hinterhältiger Reflex auf das Einerlei der modernen Großstadtexistenz. Der Akteur Raimundo Velloz betritt nach der ermüdenden Büroarbeit scheinbar wie immer sein Privatrefugium, doch mehren sich leichte Zweifel, dass er vielleicht woanders untergekommen sein oder sich etwas in seiner Abwesenheit verändert haben könnte, obwohl seine neuen Mitbewohner ihn selbstverständlich zu akzeptieren scheinen. Es ist die Geschichte einer Verwandlung, in der das Vertraute fremd, das Fremde vertraut wird: eine Grunderfahrung in der modernen Literatur, die Cortázar lakonisch und humorvoll als Möglichkeit, das Alltagsleben zu meistern, bloßstellt, wie er es später in den Geschichten aus Ein gewisser Lukas zu unübertroffener Perfektion weitertreiben wird.Auch der letzte Teil des anderen Ufers, die Prologemena zur Astronomie wirft bereits thematische Schlaglichter auf das zukünftige Werk. In der poetologisch-politischen Schrift Das Observatorium aus dem Jahr 1972 durchkreuzt Cortázar das ungeschiedene Terrain von Leben und Schreiben, um den Kampf für das Offene, das Unmittelbare aufzunehmen, das sich auch zeitaufwärts und gegen jede wissenschaftliche Determination momentan als Quelle der Umwandlung einstellen kann - und sei es auch nur im Traum, der ja auch nur ein Spiel der Literatur ist.Postum sind 1986 zwei weitere Romane von Julio Cortázar erschienen: Divertimento und El Examen, die um 1949 geschrieben worden sind. Andrés Favas Tagebuch ist ein eigenständiger Satellit von El Examen, der nicht mit in den Roman aufgenommen worden ist, aber als abgeschlossenes Manuskript durchaus zur Veröffentlichung bestimmt ist, wobei der vorgebliche Verfasser - ein Protagonist des Romans - nicht nur Geburtsort und -datum mit Julio Cortázar teilt.Das Tagebuchschreiben ist eine bisweilen stille Verwandlungskunst, die episodisch die kleinen und überraschenden Beben und Perspektivwechsel der Zeit aufnimmt. Als Ausgangspunkt und Brennpunkt der Notate gewinnt und hinterlässt hier der Sichaufzeichnende eine subjektive Form, eine persönliche Aura der Wahrnehmung.So ist es wenig verwunderlich, dass der Diarist Andrés Favas in der schleimigen, kurz glänzenden, arabeskenhaften Spur der Schnecke sein Schreiben - wenn auch im Traum - reflektiert sieht: eine flüchtige, kurvenreiche Spur, das Labyrinth der Schnecke, das sich den nachträglichen Entzifferungsbemühungen des Autors aber schnell wieder entzieht.Eine andere Lektüre führt das Tagebuch-Ich über den "ambulanten" Schriftsteller Arthur Rimbaud über das Reisen mit erregtem Aufnahmesensorium zu einer poetischen Übereinstimmung, die sich als Epiphanie zeigt: "Der Baum ist endlich ein Baum und das Gesicht einer Frau oder eines Kindes leuchtet in einem Sinn, den die vorschnelle Verwendung des Etiketts 'Passant' mir zuvor verborgen hatte."Ganz und gar zielt das Tagebuch des Andrés Favas auf unmittelbare Präsenz, auf zu speichernde und zu öffnende Gegenwart, die immer wieder auch an ihre Sichtbarkeit, an ihre Einsehbarkeit gekoppelt ist. Hier ist der Ort, hier ist die Zeit, wo noch einmal eine argentinische Kindheit aufleuchtet, wo ihre Ankunft wie ein Freund begrüßt wird. Noch einmal reist Andrés Favas durch das Bett seiner Kindheit, durch onirische Kinderspiele, durch Jazzmusik und Kino, und immer wieder durch Lektüre und Literatur, um ganz Auge, ganz Argos zu sein, um "alles gleichzeitig zu sehen, hier, jetzt", oder wie es in einem möglichen Motto einmal heißt: "Nur eines ist nötig: alles."Julio Cortázar: Die Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, 1.280 S., 128,- DMJulio Cortázar: Die Erzählungen. Suhrkamp Taschenbuch, 4 Bde., Frankfurt am Main. 1998, 1.320 S., 68,- DMJulio Cortázar: Andrés Favas Tagebuch. Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 117 S., 18,80 DM
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