Erstes letztes Gefecht

KOLLATERALSCHÄDEN DER GLOBALISIERUNG Der Westen bekämpft im Osten seine eigenen Zukunftsängste

Der Krieg ist allemal eine Zeit, Abschied zu nehmen. Jens Reich, gewiß kein Schwärmer, eher ein Skeptiker gegenüber den Untiefen ideologischer Hochgesinnung, meinte noch 1992 im Rückblick auf den Herbst 1989, dieser sei »... nicht nur der Schlußvorhang für die Epoche nach den zwei Weltkriegen, sondern auch die Vorprobe friedlicher Evolutionen der Zukunft.« Das Buch, in dem dieser Satz steht, heißt Abschied von den Lebenslügen.

Was wird von jener Hoffnung bleiben, die wir mit Jens Reich geteilt haben, bevor wir sie eine weitere Lebenslüge nennen? Denn nach der epochemachenden Entscheidung des Westens, im Jahre 1999 in Europa in einen begrenzten Krieg einzutreten, könnte uns der Sinn jenes unverhofften »Herbstes der Völker« von 1989 in neuer Fassung präsentiert werden. Es heißt also Abschied nehmen, bevor uns die fälligen Feiern anläßlich der friedlichen Revolutionen von 1989 darüber belehren werden, woran es dem renommierten Publizisten Karl Heinz Bohrer aus Bielefeld schon 1992 im Gegensatz zu Jens Reich rückblickend mangelte: Ihm fehlten die Toten. Bohrer, schon damals vom ostdeutschen Vereinigungsjammer genervt, hielt es für einen Fehler des Westens, so getan zu haben, »als handele es sich bei den DDR-Bewohnern um eine vierzig Jahre unterdrückte Spielart der Westdeutschen«. Schließlich hätte es statt »Verschmelzungsphantasien ... Differenz gebraucht!« Bohrer hielt sich in seinem Urteil über die »Deutsche Revolution und protestantische Mentalität« an Joseph Rovan, den französischen Historiker, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung empfahl, daß die Säuberungen nach einer Gewaltherrschaft »kurz und blutig« sein sollten. »Der blutige Aspekt der Säuberung ist eine Art von Kollektivopfer, mit dem die Götter versöhnt werden sollen, wie die Kinderopfer einst in Karthago.«

Das war auf die Einigungskrise Deutschlands gemünzt. Auf das sich vereinen wollende Europa paßt der Spruch immerhin. Von der längst durchlöcherten Vorstellung, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts trete ein Zeitalter des Friedens, der Verständigung und des Ausgleiches in Europa ein, haben wir schon Abschied genommen. Wir erinnern uns nur noch von Ferne an jenen Moment, da es schien, als könne die Wirklichkeit bereits einen Vorschuß auf eine ungeteilte europäische Zukunft geben, einen Grenzfall ohne Blutvergießen, eine Hochzeit aus Sympathie und gegenseitigem Respekt.

In den Tagen, als zusammenwachsen sollte, was zusammengehörte, ging die Wunderformel »Rückkehr nach Europa« um. Europa, das in seiner westlichen Nachkriegsverfassung vom Osten aus gesehen Synonym für Freiheit, Wohlstand und eine Vorstellung vom besseren Leben war. Der Anschluß an den Westen, an eine europäische Identität, versprach von Warschau bis Sofia und von Prag bis Kiew individuelle Rechte, Freizügigkeit und freie Entfaltung. Und endlich des Menschen Recht zum Streben nach persönlichem Glück, »Pursuit of Happiness«, jene in der säkularen westlichen Religion seit 200 Jahren verankerte Vorstellung vom Einzug ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Zehn Jahre später hat sich die Vision der Teilhabe aller in einem Europa ohne Grenzen, die Verheißung der Epoche, auf dem Balkan erledigt. Und der amerikanische Traum droht zum europäischen Alptraum zu werden, je deutlicher wir an die Grenzen der offenen Gesellschaft stoßen. Oder uns stoßen lassen? Jugoslawien, das noch in den späten achtziger Jahren als westlichstes der Länder des Ostens zuerst der Europäischen Gemeinschaft assoziiert werden sollte, zerbricht Stück für Stück im Bürgerkrieg rivalisierender Nationen unter der Führung ehrgeiziger politischer Eliten. Warum aber wird nun Rest-Jugoslawien geradezu zum Alptraum des Westens, zum letzten Regime der von NATO-Sprechern so genannten »hardcore communists«?

Die Serben und allen voran Milosevic sind das Ziel einer Strafexpedition geworden, für die auch die neuen militärischen Ambitionen der Vereinigten Staaten und der von ihnen geführten NATO keine vernünftige Erklärung mehr liefern. Schon gar nicht die humanitären Beweggründe, so sehr sie manchen am Anfang der Operation bewegten, den Zivilisationsbruch aus Gründen des Zivilisationsbruchs gutzuheißen.

Das alles erklärt nicht die Verve der sich gerade hier und jetzt entladenden Energie, des Kampfes der einzigen und ungefährdeten Weltmacht mit einem südosteuropäischen Kleinstaat, seine ideologische Aufladung, unter der überlegtes Maß und Verhältnismäßigkeit versinken. Es ist, man merkt es den meisten Politikern an, eine Art Verzweiflung im Spiel, ein ungeduldiges Drängen nach dem letzten Gefecht. Oder wie Kanzler Gerhard Schröder in seiner »Regierungserklärung zur Vollendung der Einheit Deutschlands« jüngst betonte, die Suche nach einer verbindlichen Definition, was wörtlich im Lateinischen Abschluß und Begrenzung meint.

Eine Markierung wird gesucht, als ob das, was 1989 mit der »Rückkehr nach Europa« begann, einzugehen und gleichzeitig abzuwehren wäre. Hier wird - man kann es geradezu fühlen - endlich Definitionsgewalt ausgeübt, eine Grenze gezogen, als ob sonst alles ins Rutschen geriete. Hier wird von einem »Gründungsakt« gesprochen, als ob der Krieg der europäischen Erbauung diente. Was immer jetzt im Namen der Wertegemeinschaft des Westens auf dem Balkan geschieht, wird Folgen haben für Europa und die künftige Bedeutung dessen, was 1989 begann. Wenn beide Daten, 1989 und 1999 einmal zusammengehören sollten, dann wahrscheinlich wegen einer vor zehn Jahren offen gebliebenen Frage: Ob der Westen siegen kann.

Woher kommen die Zweifel, die Unsicherheit der Politik? Die Überlegenheit des Westens, seine ihm allein verbliebene militärische Stärke, die er Jahr für Jahr gegen sich selbst unter Aufwendung von 60 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben errüstet, wird niemand bezweifeln. Sein Modell allgemeiner Wohlfahrt und Prosperität wird weniger von außen als im Inneren zur Disposition gestellt. Der Osten Europas, von der Erblast ökonomischer Rückständigkeit gezeichnet, durch neoliberale Schocktherapien und rücksichtslose Bereicherung sozial tief gespalten, ist im System der internationalen Arbeitsteilung auf Entwicklungsländer-Niveau zurückgefallen. Er dürfte über lange Zeit das Armenhaus Europas bleiben, europäische Peripherie.

Vielleicht ist der Osten etwas näher gerückt, ohne den Eisernen Vorhang. Aber er ist doch wohl keine wirkliche Bedrohung, kein Feind, der den Westen in die Selbstverteidigung zwänge? Gegen das nach dem Fall der Mauer ungebremste Ost-West-Gefälle ist der Westen noch immer immun. Die Zumutung hat in den letzten tausend Jahren nie das westliche Denken und Selbstwertgefühl erschüttert. Zumindest im reichen europäischen Nordwesten lebt seit den Zeiten der fränkisch-ottonischen Ostexpansion und -kolonisierung eine solide Vorurteilsstruktur fort, die den Osten als kulturell rückständig erfährt, ihn manchmal auch romantisch verklärt, aber niemals wirklich kopiert. Bis heute dominiert das so geprägte Selbstbild den Begriff Europa, eine Identität, die nicht zuletzt die kulturellen und politischen Eliten des Ostens immer wieder respektvoll bestätigen. Eindeutig ist: Der arme, zivilisatorisch-rückständige Osten ist nicht das Problem. Wenn das aber nicht ist, ist er dann die Lösung, vielleicht gar das Feld der Selbstbestätigung? Doch nicht etwa das Feld der Ehre?

Allein, woher kommen die Selbstzweifel, diese subtilen, noch nicht faßbaren Entfremdungen des Westens von sich selbst, von seinen Idealen einer inneren Stärke, wenn nicht aus dem Osten? Über Jahrzehnte hat der Osten den Westen geeint. Ahnt er jetzt, daß er selbst, ohne äußeren Feind, aber einem Prozeß radikaler sozialökonomischer und kultureller Veränderungen unterworfen, seiner Werte verlustig geht, sich womöglich im Innern Feind wird und den Zusammenhalt verliert?

Die inneren Reaktionsmuster der westlichen Gesellschaften erscheinen als eine Art »kollaterale Nebenwirkungen« der Globalisierung und sind - wie die Wiederbelebung nationaler Egoismen, das Wiedererstehen historischer Ressentiments - Spiegelbilder des balkanischen Schreckens. Noch erscheinen die Tendenzen der Abgrenzung wirtschaftlicher und kultureller Art als eher diffuse Symptome. Noch schwanken die neuen Separatismen vom ökonomischen Typus der Lega Nord oder vom ethnisch-kulturellen Schlage des Front National bis zu den fremdenfeindlichen Jugendgangs in Ostdeutschland zwischen folkloristischen und völkischem Gepräge. Aber von ihnen geht Gefahr aus. Es ist die Angst vor der Unterwanderung des Gebäudes der rasenden Moderne. Erkennt der Westen im Spiegelbild des Balkan-Dramas die eigene Bedrohung wieder, um sie zugleich tief mißzuverstehen in der Ungleichzeitigkeit ihrer Wurzeln? Ist die tiefere Realität nicht die Ohnmacht der Politik? Die Ahnung, wehrlos zu sein gegen die Mächte der Auflösung, gegen die Unterhöhlung der die Gesellschaft bindenden Werte?

Milosevic ist so wenig ein realer Feind für den Westen, wie uns Deutschen in ihm Hitler plötzlich wieder am nächsten ist. Sie sind die Namen einer Beschwörung, sie sind Ausdruck eines vertrauten, bedrängenden Täterprofils unter uns, in dem sich Zerstörung und Selbstzerstörung vereinen. Sie gehen uns etwas an.

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