Dem Wohl des Volkes zu dienen und Schaden von ihm abzuwenden, schwören der Kanzler und seine Minister zu Beginn einer Legislaturperiode. Vielleicht ist es nützlich, den Reflex aus Sarkasmus und Zynismus zu unterdrücken, der uns überkommt, wenn wir solche Formeln hören. Selbst Gerhard Schröder wollen wir für einen Moment zubilligen, dass er auch meint, was er sagt. Ansonsten aber lassen wir in unserem Gedankenspiel die handelnden Personen der Bundesregierung unverändert. Wenn zur Vereinfachung des Experiments die Grünen unbeachtet bleiben, dann haben wir es also mit Sozialdemokraten zu tun, die frei von Visionen und Altruismus das politische Geschäft zielführend betreiben wollen. Von Schröder, Clement und ihren Zuträgern verla
rlangen wir nichts, was ihnen ganz fremd wäre. Die SPD-Gestalten auf der Bühne stellen wir uns nur in einem einzigen Punkt verändert vor. Sie nehmen den Schwur der Wohlstandsmehrung und Schadensbegrenzung wirklich ernst. Sie wollen tatsächlich das durchsetzen, was sie proklamieren: Wirtschaftliche Prosperität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und selbstverständlich Beschäftigung.Was würden solche modernen, pragmatischen Sozialdemokraten tun, nachdem ihnen ein kräftiger Schuss Zielbesessenheit injiziert worden ist? Zunächst würden sie sich eingestehen, dass sie bislang kaum wissen, wie sie ihren Zielen näher kommen sollen und worin die Schwächen der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialverfassung bestehen. Da es massenhaft Erkenntnisse über Fehlanreize, Ineffizienzen, Ressourcenverschwendungen, Ungerechtigkeiten und Modernisierungsblockaden gibt, wäre dieses Problem der Unwissenheit sehr einfach zu lösen. Gefragt ist eigentlich nur die Bereitschaft, das vorhandene Wissen zur Kenntnis zu nehmen und für das politische Geschäft aufzubereiten.Zweitens würden solche wissbegierigen Sozialdemokraten herausfinden wollen, wie in vergleichbaren Ländern ähnliche Probleme mit Erfolg gelöst worden sind. Sie würden also das tun, was jeder Konzernmanager tut, wenn er die Mängel seines Unternehmens beseitigen will: Sie würden sich in die von ihnen in Auftrag gegebenen und ebenfalls längst vorliegenden "Benchmarking-Studien" vertiefen, die bis ins Detail darlegen, wer für welches Problem die beste Lösung hat. Die Arbeitsmarktpolitik Dänemarks (siehe nachfolgenden Text), die hausarztzentrierte Gesundheitspolitik der Niederlande, das Rentenmodell der Schweiz, die Steuertransparenz der Schweden - Verbindungen von Effizienz und Gerechtigkeit, die sich in der Praxis bewährt haben, gibt es seit langem. Nachzudenken wäre sicherlich noch darüber, wie spezifisch deutsche Traditionen, etwa der fast ausschließlich an Erwerbsarbeit gebundene Versicherungscharakter des Sozialstaats, im Sinne zeitgemäßer, von anderen Ländern inspirierter Modelle verändert werden können. Bei gutem Willen sollte auch das gelingen.Drittens schließlich wäre eine Strategie zu entwickeln, die Gegner und Verbündete eines solchen sozialdemokratischen Erneuerungsprojekts definiert. Die Mehrheit der Durchschnittsverdiener zu gewinnen, dürfte nicht besonders schwer sein. Auch die Benachteiligten wären ohne weiteres ins Boot zu nehmen, wenn Reformen nicht Sozialabbau bedeuten, sondern - kombiniert mit Pflichten - auch und vor allem Chancen eröffnen. Diejenigen, die sich als alleinige Leistungsträger wähnen, wären zunächst wohl nicht begeistert. Aber wenn die Sozialdemokraten Persönlichkeiten an ihrer Spitze hätten, die in der Lage wären, die besten Erfahrungen anderer Länder aufzunehmen und ihr eigenes Werk der Umgestaltung entsprechend neu zu justieren, dann wären sie wohl so unangefochten die strukturelle Mehrheitspartei, dass auch ein großer Teil des Bürgertums mit auf die Reise gehen würde. Und die Union, die in den vergangenen Jahren fast ausschließlich von den Fehlern der Regierung lebte, einen zeitgemäßen Konservatismus kaum benennen kann und im Zweifel immer nur das Bündnis von Geld und Dummheit bemüht, wäre ausmanövriert.Wenn man sich dieses ganz und gar pragmatische und nicht besonders anspruchsvolle Szenario vor Augen hält, wird der erbärmliche Zustand der Sozialdemokratie um so deutlicher. Statt die Anstrengung des Gedankens und des politischen Willens auf sich zu nehmen, verfahren Schröder und Clement, nachdem in den ersten Monaten hektisch und unpopulär Haushaltslöcher gestopft wurden, nach der bekannte Maxime: mit sogenannten Strategiepapieren Geschäftigkeit vortäuschen und die Opposition schwächen, indem man ihre Forderungen kopiert. Auch die mysteriösen 23 Seiten aus dem Kanzleramt, die zu Weihnachten an die Öffentlichkeit lanciert wurden und nun die SPD-Linke verschrecken, dienen allein diesem Zweck. Offenbar von Medienberatern geschrieben und gespickt mit modischen Vokabeln wie "Post-Bubble-Economy", enthält dieses Papier nichts, was auch nur im Ansatz als Strategie zu bezeichnen wäre. Insofern mag die SPD-Linke, die eine neoliberale Blaupause vermutete, beruhigt und statt dessen aufgefordert sein, eigene Gedanken vorzulegen. Das von Schröder in Auftrag gegebene Werk, auf das er in seiner gewohnten Manier genüsslich Bezug nimmt, soll vor allem die Wähler beruhigen. Entsprechend lautet der entscheidende Satz: "Der Königsweg für mehr Vertrauen und Beschäftigung ist eine Absenkung der Steuer- und Abgabenbelastung." Soll heißen: Anlass zu einem sarkastischen Steuer-Song wird es nicht noch einmal geben.Darüber hinaus - und das ist wahrscheinlich der letzte Rest an Strategie, der von der SPD-Führung derzeit geboten wird - soll die schleichende Erosion solidarischer Sozialversicherung durch neue Elemente bereichert werden. Garniert mit dem Lockvogel Freiheit kommen neue Kostenarrangements auf den Tisch. Warum nicht den Umfang des Versicherungsschutzes und damit auch die Kosten selbst bestimmen? "Wahltarife mit Eigenbeteiligung" oder auch "Tarifoptionen mit Bonussystem" nennt sich das dann. Wenn solche Schlagworte Ouvertüren zu wirklichen Reformen im Sinne des genannten Szenarios wären, könnte man sich mit ihnen ernsthaft auseinander setzen. Vermutlich aber wird der CDU-Sozialexperte Andreas Storm Recht behalten, wenn er prophezeit: "Eigentlich geht es darum, eine Nullrunde bei Renten und Sozialleistungen 2003 vorzubereiten. Von den im Papier angekündigten Reformen wird am Ende nur ein Notsparpaket mit drastischen Kürzungen übrig bleiben."
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