Da führt einer den falschen Hund durchs Dorf

Eingeschränkte Perspektive Anmerkungen zu Gerhard Schröders Buch "Entscheidungen. Mein Leben in der Politik"

"Stroszek" - ein Film von Werner Herzog - endet mit einem dauernd rotierenden Skilift. An einer der Gondeln, in der Bruno S. sein Leben aushaucht, ist ein Schild mit der Aufschrift befestigt: "Is this really me?" (Bin ich das wirklich?) Diese Frage drängt sich jedes Mal von Neuem auf, wenn Politiker ihre "Memoiren" genannten Selbstdarstellungen vorlegen, die oft nur persönliche Fiktionen widerspiegeln. Dabei glänzt der Autor Gerhard Schröder weder durch Stil noch durch Inhalt - aber mit dem Überspielen seines Fintenreichtums.

Daher ist die Frage nach der Realitätsnähe des Geschilderten eher rhetorischer Natur. Will man allen Ernstes die zweifellos vorhandenen Goldnuggets in Schröders Selbsterinnerungen herauswaschen, muss man nach Art eines Personalchefs vorgehen, zu dessen Pflichten es gehört, Lebensläufe auf "Rasuren" zu überprüfen. Sonst kann sich der Verfasser - wie es im Vorwort so schön heißt - auf eine "eingeschränkte Perspektive", besser: Erinnerungsschwächen, Staatsgeheimnisse oder die Bedeutungslosigkeit eines Vorgangs, herausreden. Es sei auf jeden Fall empfohlen, sich bei der Lektüre dieser Politprosa eine auf den Buchdeckel gedruckte Warnung vorzustellen: "Vorsicht, Lektüre kann verwirren!" - besser noch: "Achtung, wahre Lügengeschichten!".

Der Taktiker Schröder ließ Parteichef Lafontaine einfach ins Leere laufen

Erinnern wir uns: Nach dem Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder vor der Bundestagswahl 2005 wurde der weltbekannte Pantomime Marcel Marceau im WDR-Fernsehstudio zur Körpersprache und deren Wirkung auf die Zuschauer befragt. Sein Fazit lautete: Beim Akteur Schröder seien im Gegensatz zu Frau Merkel die Bewegungsabläufe und Mimik mit den inhaltlich-verbalen Aussagen nicht synchron gewesen. Oder um es mit dem westfälischen Bauern auszudrücken: Da führt einer den falschen Hund durchs Dorf.

Im Gegensatz zu seinem Freund Wladimir Putin, den jeder politische Analphabet als machtbewussten und disziplinierten Asketen erkennt, spielt der Ex-Kanzler in seinen Erinnerungen fortgesetzt viele, zu viele Rollen. Deshalb sollte man den Lesern raten, immer erst danach zu fragen, was bei diversen Äußerungen eigentlich fehlt. Denn nur so kann man hinter dem virtuellen Schröder den authentischen Politiker erkennen.

Bei der Beschreibung seines Verhältnisses zu Oskar Lafontaine etwa outet sich ein ganz neuer Schröder - wir begegnen dem phantasievollen Romanautor mit dem psychotherapeutischen Vorwissen aus der Volkshochschule, der auch als Serienproduzent für RTL seine Kohle machen könnte. Die Zeitzeugen erlebten seinerzeit eine andere Realität, die hier nur auszugsweise wiedergegeben werden kann.

Das Verhältnis der so genannten Enkelgeneration untereinander - es gehörten ursprünglich Engholm, Schröder, Lafontaine, Scharping und Heidemarie Wieczorek-Zeul dazu - war bei internen Kontroversen eher ruppig und von rüder Respektlosigkeit. Jeder kannte die Schwächen des anderen aus den frühen Jahren bei den Jungsozialisten. Es gab Zweckbündnisse - die Freundschaftsrituale hingegen waren reines Schmierentheater für die Öffentlichkeit.

Nach der gewonnenen Bundestagswahl von 1998 änderte sich zunächst nichts an der Machtfülle von Parteichef Lafontaine, der Schröder brüskierte, indem er nach dem Wahlsieg im Alleingang das Präsidium zur Verhandlungskommission ernannte. Schröder hielt sich zurück, da er ein möglichst optimales Abstimmungsergebnis bei der Wahl zum Bundeskanzler erreichen wollte und tätschelte jedem Hinterbänkler aus der Fraktion, der ihm über den Weg lief, die Schulter, was in seiner Sprache so viel hieß wie: "Na, du kleiner Kacker". Einen Tag nach der Wahl zum Regierungschef kam "Gerda" - so nannte ihn einst seine Frau Hillu - dann schon mehr aus der Deckung. Er war jetzt ausgestattet mit einem eigenen Machtapparat, den Lafontaine sträflich unterschätzte. Für den schien die Sache klar: "Es geht gar nicht anders, als dass das Präsidium die Koordinierungsinstanz ist." - Es blieb ein Tagtraum, denn bald musste der SPD-Chef erleben, wie das Machtzentrum der Partei binnen kürzester Zeit zerbröselte und damit auch seine eigene Machtbasis. Der Taktiker Schröder ließ ihn einfach ins Leere laufen und erschien nicht mehr im Parteipräsidium. Er ließ über seinen Kanzleramtsminister Bodo Hombach bereits Anfang Februar 1999 die wichtigsten sozialdemokratischen Parteien Westeuropas wissen, dass die Programmarbeit der SPD künftig vom Bundeskanzler vorgegeben würde.

Lafontaine hatte Schröder nach der gewonnenen Wahl gern parodiert, indem er beispielsweise mit hochgerissenen Armen und dem Victory-Zeichen die Parteizentrale betrat und kichernd fragte: "Ist er schon da?"

Die beiden Rivalen ähnelten sich beim Machterwerb und -erhalt in vielerlei Hinsicht, einer provozierte den anderen, indem er ihn über die Presse reizte, die nur zu gern mitspielte. Beide setzten auf Furcht als Mittel der Politik. Beide drohten mehr als einmal mit Rücktritt, um die Solidarität der Parteibasis zu erzwingen. Beide verletzten die Spielregeln, die unter Berufspolitikern gelten, wonach Absprachen eingehalten werden müssen. Beide bedienten sich der thematischen Kontroverse fast ausschließlich zur eigenen Profilierung. Der Unterschied: Oskar Lafontaine griff immer allein und offen an. Schröder dagegen tat das nur aus der Deckung und mit Hilfe von Mitstreitern und auch das nur, wenn für diesen in Wahrheit ängstlichen Menschen schon vorher feststand, dass er siegen würde. Er spielte, wie er es bei den Jusos gelernt hatte, "über Bande". Gerade diese Fähigkeit Schröders, die rein gar nichts über eine inhaltliche Qualifikation aussagt, hat Lafontaine schließlich verkannt. Doch es gab noch weitere Unterschiede: Lafontaine hatte in Bonn kaum ein positiv emotionales Verhältnis zu engen Mitarbeitern, während der jovial gönnerhafte Schröder den Widerspruch loyaler Untergebener ohne eigene Hausmacht außerhalb der Öffentlichkeit duldete, bei Ratlosigkeit sogar wünschte. So wussten seine Büchsenspanner innerhalb und außerhalb des Apparates immer, was sie vor der Öffentlichkeit und in den so genannten Hintergrundkreisen zu flüstern hatten.

Kriegskanzler beim Kosovo-Krieg - Antikriegskanzler beim Irak-Feldzug?

Auch über die Kriegsvorbereitungen gegen Jugoslawien Ende 1998 ließ der Regierungschef seinen Parteivorsitzenden im Unklaren. So wusste eine Gruppe von Intellektuellen um Günter Grass und Oskar Negt, die Schröder ins Kanzleramt geladen hatte, dass dieser gar den Einsatz von Bodentruppen in den Kosovo forcierte. Er wollte tatsächlich wieder deutsche junge Männer ins Feuer eines vermeidbaren Krieges schicken. Mit gespielter Naivität oder der "eingeschränkten Wahrnehmung" wundert er sich nun auf Seite 85 seines Buches, "als Kriegstreiber angeprangert" worden zu sein. Das Bedauern über die etwa 1.500 durch den völkerrechtswidrigen Luftkrieg getöteten Zivilisten im serbischen Hinterland fließt ihm freilich nicht aus der Feder.

Auch wenn längst alle Welt weiß, dass er in diese Intervention nicht so unschuldig hineingeschlittert ist, wie der Nachwelt suggeriert werden soll, so fragt man sich doch: Kriegskanzler beim Kosovo-Krieg und Antikriegskanzler beim Irak-Feldzug? Die Antwort ist einfach: Der erste Krieg fand nach einer gewonnenen Wahl statt - der zweite vor einer Wahl, die verloren zu gehen drohte. Tempi passati? Nein! Wieder einmal belegt ein abgelegter Hauptdarsteller, dass es bei unseren Vettern im Affengehege meistens gesitteter zugeht als in der Regierung eines wichtigen Landes.

Von nahezu dokumentarischer Ehrlichkeit ist dagegen Schröders Erinnerung an die Konflikte mit den Gewerkschaften, die lange dem naiven Glauben erlegen waren, bei einer sozialdemokratisch geführten Regierung ihre Interessen leichter durchsetzen zu können. Im Unterschied dazu wird der Dauerknatsch mit den so genannten "Linken" in der SPD-Bundestagsfraktion zum Popanz aufgebauscht. Tatsächlich hatte dieser verloren traurige Haufen nie nennenswerten politischen Einfluss, er wurde rhetorisch zusammengeknüppelt oder - wie im Fall des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Sozialexperten Rudolf Dreßler - mit einem Botschafterposten in Israel abgefunden. Die Kritik kam vielmehr oft aus der breiten Mitte der Fraktion. Hat Schröder vergessen oder seinerzeit überhört, dass Abgeordnete nach seinen ersten von vier Rücktrittsdrohungen riefen: "Na, denn geh doch endlich!" Sollte er in seiner Pressemappe überlesen haben, dass danach Jochen Simons in der Frankfurter Rundschau unter der Überschrift Der Kanzler ist das Problem zu dem zweifellos harten Urteil kam: "Für die SPD ist es bitter, nach dem charakterlich dubiosen Oskar Lafontaine nun von dem Blender Schröder geführt zu werden."

Etwas mehr Wirklichkeitsnähe hätte der Leser für den Ladenpreis von 25 Euro schon verlangen dürfen. Wie sehr es Schröder versteht, die Realität auf den Kopf zu stellen, zeigt seine Kritik an den Medien. Hier offenbart der Ex-Kanzler ein Verständnis von der Rolle einer öffentlichen Kontrollinstanz in einer demokratischen Gesellschaft, das dem Staatsverständnis seines Freundes Putin nahe kommt. Dabei ist gerade dieser Medienkanzler über die parteipolitisch gefärbte Presselandschaft hinaus schon wegen seines Unterhaltungswerts gefährlich nachsichtig behandelt worden. Es gehörte doch wohl zu den traurigen Wahrheiten, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Frühjahr 1999 Schröders und Fischers Lesart vom Krieg gegen Jugoslawien fast 1:1 übernommen hat. So dass der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes, Hermann Meyn, damals formulierte: "Wenn man gerade dieser Tage fernsieht und Zeitung liest, kann man meinen, die Medien hierzulande brauchen nicht mehr gleichgeschaltet zu werden: Sie sind es schon."

Entsetzen über den Subtext: So banal, so geistlos wird seit Jahren regiert?

Kaum ein Kanzler hat seine politischen Gegner mit Hilfe von so vielen journalistischen Hofschranzen niedergemacht, die stets auch peinlich darauf achteten, dass der wohlmeinende Leser darüber im Unklaren blieb, was sich hinter den Kulissen des virtuellen Polittheaters so abspielte. Auch im Schröder-Buch geht es folglich nur um die Selbstbeschreibung eines betont leutseligen Entertainers, der gelegentlich die politische Arena mit dem Fernsehstudio verwechselte und etwas Farbe in die freundlich mausgraue Berliner Republik brachte. So jedenfalls sieht es ein nachsichtig altersmilder, bisweilen kitschig jovialer Altkanzler, der damit ungewollt die Banalität des politischen Alltags, die halbseidene Öde - das normale kleine Elend - beschreibt, für das Gerhard Schröder gern zuständig war: Ein Dieter Bohlen der Politik.

Wirkliches Entsetzen entsteht durch den Subtext. So banal, so geistlos wird seit Jahren regiert?

Der Autor war drei Legislaturperioden Bundestagsabgeordneter in der SPD-Fraktion und in einer Legislaturperiode Büronachbar von Gerhard Schröder.


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