Wie in solchen Fällen schon geübte Praxis, hat die Bundeskanzlerin Anfang Januar im Weißen Haus kreuzbrav ein Entgegenkommen ihrer Regierung signalisiert. Offiziell gilt zwar die Formel, im Süden von Afghanistan werde die Bundeswehr "nur in Notfällen" aushelfen. Mit einem Einsatz der Aufklärungstornados des Geschwaders Immelmann jedoch, das mit 60-mm-Infrarotkameras Bombenziele aufnimmt und markiert, wird die Bundesluftwaffe zum Kombattanten am Hindukusch - sie wird operative Daten liefern, die in das GPD-System der US-Jagdbomber eingespeist und als Lotsen für deren Luftangriffe dienen werden. Derartige Operationen, bei denen es sich zweifellos um Kampfeinsätze handelt, sind von den bisherigen Afghanistan-Beschlüssen des Bundestages nicht gedeckt. Man muss ohnehin blind und taub sein, um nicht zu erkennen, dass die NATO in Afghanistan auf eine "Irakisierung" des Konflikts zusteuert.
"Sie reden von Gott und meinen Khartum", schrieb schon Theodor Fontane
Für eine kurze Zeit schien es nach 1990 so, als würde die Chance genutzt, globale Risiken und Kriegsursachen - wie Bevölkerungsexplosion, Hunger, Wassermangel oder Umweltzerstörung - in einen erweiterten Sicherheitsbegriff aufzunehmen. Mittlerweile wird auf eine fundierte Analyse dieser Krisensymptome und Kriegskatalysatoren längst wieder verzichtet. Stattdessen überlagert das Thema "Kampf dem Terrorismus" nicht nur die westliche Sicherheitsdoktrin, es führt auch zu einem Ausbund an Opportunismus und moralischer Heuchelei, der seinesgleichen sucht. "Sie reden von Gott und meinen Khartum", beschrieb schon Theodor Fontane Kriegslust und Double Moral Standards der Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts.
Ausgerechnet in dieser aufgewühlten Atmosphäre will Deutschland zu sicherheitspolitischer Normalität nach dem bipolaren Zeitalter finden. Wobei in Zeiten der Anti-Terror-Kampagnen mehr denn je zu fragen ist: Wie normal sollte sie denn sein, die größere Bundesrepublik? Normal wie die Atommacht Großbritannien? Oder der nukleare Aufsteiger Indien? Oder das UN-Mitglied Costa Rica, das seine Armee abgeschafft hat? In dieser mit profundem deutschen Fundamentalismus geführten Debatte gibt es wenig Resonanzboden für Zwischentöne, geschweige denn Raum für die Frage, ob Konflikte durch multilaterale Militäreinsätze - unter Rückgriff auf die Bundeswehr - überhaupt sinnvoll, sprich: dauerhaft, zu lösen sind. Gewiss, dass von einem ökonomisch so potenten Welthandelspartner mehr Weltverantwortung erwartet wird, leuchtet ein, ob sie aber vorzugsweise durch die Ausfallschritte der Bundeswehr wahrgenommen werden sollte, darf bezweifelt werden.
Ex-Außenminister Fischer machte nie ein Hehl aus seiner Überzeugung, ohne Option auf einen globalen militärischen Aktionsradius lasse sich heutzutage nur eingeschränkt Außenpolitik betreiben, und ließ anklingen, sich um Interventionsfähigkeit zu bemühen, wahre die Aussicht auf einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat. Die Vorstellung, als Anhänger eines dezidiert zivilen Vorgehens, setze man sich international einer verhängnisvollen Isolation aus, existiert freilich nur in den Köpfen jener Politiker, die mit ihrer Fixierung auf die riesigen Sicherheitsbürokratien des Westens ein Nachdenken über Alternativen auf keinen Fall zulassen wollen.
Tatsächlich haben von den 181 UN-Mitgliedsstaaten bisher nur 60 an so genannten "friedenserhaltenden" Blauhelm-Missionen (peace keeping) teilgenommen. Wer sich zurückhielt, sah sich nicht vom Fall in die politische Drittklassigkeit bestraft. Im Übrigen sind friedenserzwingende Maßnahmen (peace enforcement) unter direkter Verantwortung der Vereinten Nationen - wie sie die UN-Charta definiert - noch nie ergriffen worden. Sowohl in Korea Anfang der fünfziger Jahre als auch beim Golfkrieg 1991 - um nur zwei markante Beispiele zu nennen - war den USA das Oberkommando für Kampfoperationen übertragen, die durch UN-Resolutionen sanktioniert waren.
"Ohne Waffe ist der Paschtune nackt", sagt ein afghanisches Sprichwort
Zurück zu Afghanistan. Das Drama der Erosion Somalias kann sich morgen am Hindukusch wiederholen. Die Ende des 19. Jahrhunderts von den Kolonialmächten Russland und Großbritannien willkürlich gezogene Grenze zu Pakistan verläuft mitten durch das Siedlungsgebiet der Paschtunen, die derzeit in den Südprovinzen die NATO-Verbände attackieren. In den westlichen Medien tauchen diese Kämpfer, denen die Würde, eine Waffe zu tragen, mehr bedeutet als der Tod, als "wieder erstarkte Taliban" auf. Doch Taliban, das meint nicht nur eine Guerilla-Formation religiöser Überzeugungstäter - die Taliban sind auch Ausdruck einer Lebenseinstellung. Die NATO kämpft einerseits gegen höchst mobile Franktireurs, andererseits sieht sie sich einem unbeirrbaren Stolz gegenüber, der eine täglich wachsende Allianz von Warlords, desertierten Regierungssoldaten, Opium- und Holzschmugglern und lokalen Milizen beseelt.
In Paschtunistan gilt das Prinzip der Blutrache, die jeden männlichen Paschtunen bindet, der Familienmitglieder durch US-Bomben verloren hat. "Ohne Waffe ist der Paschtune nackt", sagt ein afghanisches Sprichwort. Zumindest fühlt er sich so, gerade wenn die Ohnmacht gegenüber den modernen Waffen der NATO überwältigend scheint. Wie viele Amerikaner, Holländer, Briten und Kanadier müssen noch sterben, bevor ihre Regierungen begreifen, dass sie unter diesen Umständen auf Dauer nur verlieren können?
Würde Minister Jung eine solche Doktrin auch der Weltmacht China zubilligen?
In Deutschland gibt es, wie Umfragen immer wieder aussagen, eindeutig keine Mehrheit für Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland. Das bezeugt nicht zuvörderst den Wunsch nach einem Sonderweg, sondern nach zukunftsfähiger Realpolitik. Die Befürworter möglichst vieler international einsetzbarer Battle Groups halten dem entgegen, sie wollten Deutschland vor dem Provinzialismus retten. Ohne Kampftruppen in der Hinterhand degeneriere man zum impotenten Player und dürfe daher nicht abseits stehen - weder am Horn von Afrika, noch im Sudan, noch im Kongo, noch in Afghanistan.
So kam es zur Erteilung eines quasi weltweiten Schießbefehls, so konnte Ex-Verteidigungsminister Struck (SPD) mit der so einfältigen wie gefährlichen Sprechblase aufwarten, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt. Mit den redseligen Wohlstandsbellizisten der Medien im Rücken, deren Reserveoffiziersrock immer frisch gebügelt im Schrank hängt, versucht nun Nachfolger Jung (CDU), Deutschland einer postkolonialen verfassungswidrigen Militärdoktrin zu unterwerfen. Im jüngsten Weißbuch seines Ministeriums gelten demzufolge auch Staatsversagen, Korruption und unkontrollierte Migrationen als mögliche Bedrohungsszenarien. Konkret soll das heißen, die Bundeswehr muss sich darauf einstellen, künftig sowohl die Versorgung mit nigerianischem Öl garantieren als auch denkbare Fluchtbewegungen dessen verarmter Bevölkerung in Richtung Europa unterbinden zu können.
Ein aggressives Dogma, das den bisherigen und von der Verfassung bestimmten Verteidigungsauftrag der Streitkräfte desavouiert. Über alle Parteigrenzen hinweg bestand bis 1990 Konsens, dass die Bundeswehr innerhalb des westlichen Bündnisses ein Risiko für jeden möglichen Angreifer darstellen sollte, um den Frieden zu sichern. Der Sicherheitsbegriff des Weißbuchs läuft nun aber darauf hinaus, außenpolitische, ökonomische und weltanschauliche Ziele notfalls mit hochmodernen Mitteln der Zerstörung durchzusetzen - das Faustrecht kehrt zurück, und man fragt sich: Würde Minister Jung eine solche Militärdoktrin auch der Weltmacht China zubilligen?
"Freedom from attack and freedom to attack", lautet das Credo der Bush-Administration und meint damit das Recht zum Präventivkrieg. Wollte die Bundesregierung dem folgen, käme das nicht nur einem Verfassungsbruch gleich - es würde der Erfahrung widersprechen, dass gewaltfreie Demokratisierungsbemühungen noch immer die erfolgversprechendere Konfliktregulierung sind. Südafrika ist nur ein Beispiel dafür.
Als Bundestagsabgeordneter der SPD hat der Autor 1993 im Parlament die Konzeption eines Umwelt- und Katastrophenhilfswerks ("Grünhelme") erarbeitet, das sich nichtmilitärischen Risiken wie Überschwemmungen, Erdbeben, Tankerhavarien, Dürrekatastrophen und deren Folgen, aber auch dem Wiederaufbau und der Minenräumung nach einem Bürgerkrieg stellen sollte (Drucksache 12/8447). Die entsprechende Gesetzesinitiative, die eine Beteiligung von Teilen der Bundeswehr, von Nichtregierungsorganisationen und freien Experten vorsah, wurde im Bundestag klammheimlich während einer Nachtsitzung von einer Mehrheit aus CDU/CSU und FDP niedergestimmt. Die der schwarz-gelben Koalition nachfolgende rot-grüne Regierung vergaß die Beschlüsse ihrer Parteien über zivile Konfliktvorsorge und widmete sich stattdessen 1999 lieber einem Luftkrieg gegen Jugoslawien. Von so genannten Realpolitikern zu fordern, sie sollten Alternativen zum einträglichen Geschäft der Zerstörung entwickeln, hieß damals schon, die Frösche zu beauftragen, die Sümpfe trockenzulegen. Inzwischen fehlt in der sich immer mehr abschottenden politischen Klasse zusehends der Wille, in der Außen- und Sicherheitspolitik einen humanen, zivilen Pfad auch nur in Erwägung zu ziehen.
Ich erinnere mich, nach dem ersten Irak-Krieg 1991 haben österreichische Soldaten zusammen mit Chemikern ihres Landes, die einst den Wehrdienst verweigerten, mit hochgiftigem Sarin gefüllte Scud-Raketen entschärft. Eine gefährliche Arbeit, die aber getan werden musste, um weitere zivile Opfer zu vermeiden. Wie viel wäre in zivilisatorischer Hinsicht schon gewonnen, hätte sich Kanzlerin Merkel in Washington berufen gefühlt, der jetzigen US-Regierung deutlich zu machen, dass es andere kulturelle Identitäten, wie sie sich im Unabhängigkeitswillen der Paschtunen in Afghanistan spiegeln, nicht verdienen, per Handstreich als Terrorismus denunziert zu werden. So viel Tapferkeit vor dem Freund sollte möglich sein.
Der Autor war drei Legislaturperioden lang als SPD-Politiker Mitglied des Bundestags und in den Ausschüssen Entwicklungszusammenarbeit und Verteidigung tätig.
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