In der blauen Banane

Blick zurück ohne Zorn Sieben Jahre nach dem Regierungsumzug ist Bonn weniger denn je vom Fleisch gefallen - ganz im Gegenteil

Als am 20. Juni 1991 kurz nach 22.00 Uhr die Beifallsstürme der siegreichen Berlin-Fraktion für das Votum über die künftige Hauptstadt verebbten, verlor der sonst würdevolle Saaldiener Werner Tondorf aus Bonn-Lannesdorf die Fassung. Unter lautem Schluchzen rief er zornig: "Die Bahnschranken und der ewige Stau auf der B 9. Deshalb is datt schief gegangen. Dauernd sind die Schranken zu. Ständig is Stau auf der B 9. Da jibt et hier nur eine breite Straße und die flicken da ständig rum ..."

So wie der Herr im Frack fühlte auch der Korrespondent der italienischen Zeitung Luca Romano, als er über das Bundesdorf schrieb: "Bonn ist die einzige Hauptstadt der Welt, die durch eine Eisenbahn zweigeteilt ist. Um im Zentrum die Straße zu überqueren, muss man warten, dass sich die beschrankten Übergänge öffnen." Und zur Schlacht um die Kapitale meinte er: "Sie kämpfen wie wilde Tiere, auf die Bonner Art, nicht auf die Berliner ..."

Die STÄV an der Spree

Von derlei Argumenten war in der elfstündigen Debatte des Parlaments nichts zu hören, man hatte Höheres im Sinn: die Identität des größer gewordenen Deutschlands. Dabei fürchteten die Umzugsgegner mit Berlin käme eine Neuauflage preußischer Kommandowirtschaft, während die Befürworter parierten, in der verarmten Metropole an der Spree werde die Politik endlich die Sorgen der kleinen Leute erkennen und die Probleme des Ostens angehen müssen. Für die einen war Berlin durch Preußen-Nostalgie, Nazi-Verbrechen und Kalten Krieg zu rückwärts gewandt, für die anderen eine symbolisch prächtig aufgeladene Stadt - ein Haupt eben, das die Glieder zu lenken versteht.

Inzwischen streiten fast nur noch die Historiker, ob sich diese oder jene mit ihren Argumenten bestätigt fühlen dürfen. Nach Sigmund Freud hat sich im Menschen bekanntlich eine entwicklungsgeschichtliche Anlage erhalten, nach der sich das autoritätssüchtige Massenindividuum gern der Willkür eines Urvaters ergibt. Und die Alphamännchen von Brandt bis Kohl waren eben für Berlin. Undemokratisch war das nicht, Spitzenpolitiker verkörpern stets auch die Neurosen der Gesellschaft.

Auf jeden Fall hat die Bauchentscheidung für Berlin der abgewickelten Hauptstadt ein solides Geschäft beschert. Zwar dauerte es nach der Parlamentsentscheidung vom 20. Juni 1991 Monate, bis die Bundespolitiker aus der Bonner Region die Stadtoberen animieren konnten, ihre Schreckstarre aufzugeben - sie hatten sich schließlich nie um eine lokale Wirtschaftsstruktur kümmern müssen und hielten nun lieber Trauerreden während der Montagsdemonstrationen auf dem Bonner Marktplatz. Doch führte der Handlungszwang alsbald zu einer Koalition der mächtigen NRW-Landesverbände von CDU und SPD, um das Bonn-Berlin-Gesetz mit seinen Ausgleichsregeln zwischen beiden Städten auf den Weg zu bringen. Da es den Abzug von Regierung, Parlament, Botschaften sowie Medien und Verbänden zu kompensieren galt, wurden immerhin 21 Bundesbehörden nach Bonn verlegt - sechs Bundesministerien behielten ohnehin ihren Dienstsitz am Rhein. Überdies gab es satte 1,4 Milliarden Euro Schmerzensgeld vom Bund - und der Schachzug, den Konzernsitz der aus dem Postministerium hervorgegangenen Nachfolgegesellschaften Telekom und Post in Bonn anzusiedeln, war gleichfalls nicht zu verachten.

Die Bonner Bürger reagierten höchst unterschiedlich: die Herrenausstatter setzten die Preise herunter, Juweliere bedienten wieder freundlich, Taxifahrer und Kneipenwirte fluchten weiter auf die da oben. Und während Makler und Spediteure für das umzugsbedingte Riesengeschäft gerade erst Witterung aufnahmen, hatte der Bonner Wirt des Restaurants Amadeus schon eine Konzession in Berlin-Mitte angemeldet, um dort fortan einem betuchten Publikum in der Ständigen Vertretung des Rheinlandes (genannt STÄV) "Himmel und Äd" mit Kölsch vom Fass zu servieren. Sein Kollege Guntram Fischer antwortete darauf mit rührendem Trotz an der Bonner Adenauerallee, wo er ein Etablissement namens Bonner Republik eröffnete, auch wenn ihm das Bundesverwaltungsamt in Köln verbot, den Namen des Lokals mit dem Bundesadler zu zieren. In der Bonner Republik konnte der Gast fortan unter einem Porträt Adenauers mit roter Jeckennase "Steinbeißerfilet à la Stoiber mit Limonensoße" oder "Rinderroulade à la Rosemarie Nitribitt" genießen.

Währenddessen delektierte man sich im Berliner Senat, als dort in den neunziger Jahren noch CDU und SPD einträchtig miteinander regierten, an Wunschträumen und hoffte auf den Geldsegen aus der Bundeskasse. Der Spiegel sekundierte heftig und sah Berlin gar als "Labor der Zukunft", in dem statt Skepsis Aufbruch herrsche: "Wo sonst Lähmung lastete, blüht der Spaß am Neuen." Die Allianz der romantisierenden Schwärmer aus Politik und Medien war offenbar blind für ökonomische Realitäten in der einst wichtigsten europäischen Industriemetropole. Weder in Berlin noch in seinem Umland war von früherer Produktivität viel geblieben und die Zahl der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe auf gerade noch 100.000 gefallen (2006: 93.000). Schon bald nach dem Jubel über die Berlin-Entscheidung hatte an der Spree der Niedergang der New Economy begonnen. Allmählich wuchs das Bewusstsein, drei Opern und eine fabelhaft szenige Stadt schaffen noch keinen Mehrwert. Sexy und arm hilft keinem Arbeitslosen.

In Beton statt in Köpfe

Nach formalen Kriterien war Bonn nie eine Hauptstadt, sondern eine gut funktionierende Verwaltungszentrale in einem föderalistischen Staat. Auch gab es nie eine "Bonner Republik", eher eine unfertige deutsche Demokratie. So hieß der Bonner Neubau der SPD-Parteizentrale im Volksmund "SPD-Baracke", und die sieben Pressehäuser - mittlerweile wie die traditionsreiche Parlamentarische Gesellschaft plattgemacht - nannte man "Presse-Baracken". Gearbeitet wurde fast bis zuletzt in Provisorien ohne kreischenden Bedeutungswillen. Und die Politiker traten im Bundesdorf "eher als Gäste auf" - in Berlin-Mitte wirken sie wie Eigentümer. Freilich fühlte sich der Erfinder der "Berliner Republik", Gerhard Schröder, 1980 als junger Abgeordneter im Bonn nur unzureichend beachtet und flüchtete in eine zunächst verpatzte Kandidatur als niedersächsischer Ministerpräsident.

Niemand will bestreiten, dass es Berlin nach 1991 viel schwerer hatte, in eine erfolgsträchtige Zukunft zu starten, als die Köln-Bonner Region. Die Wirtschaftkraft Europas lag immer schon in der so genannten "blauen Banane" zwischen London, Brüssel und Mailand und bot für Bonn geradezu ideale Voraussetzungen, einen international ausgerichteten Strukturwandel ins Werk zu setzen. Heute arbeiten im ehemaligen Regierungsviertel 35.000 Menschen für Bundesbehörden, Post, Telekom, Deutsche Welle und UN-Sekretariate, mehr Beschäftigte als vor dem Umzug. Wen kümmert es da noch, dass die geplante Wissenschaftsregion Bonn ein Fehlschlag war. Man hatte die 380 Millionen Euro für das Projekt CAESAR (Center for Advanced Europaen Studies and Research) in Beton statt in Köpfe oder intelligente Projekte investiert.

Natürlich sind Bonner Honoratioren mit Erfolgsmeldungen dezent, um mögliche Begierden Berlins - nach den sechs verbliebenen Ministerien etwa - zu meiden. Gibt es derartige Forderungen, liegen die in Bonn verbliebenen Ministerialbeamten wie die Hasen in der Ackerfurche und denken: "Et is noch immer alles jut gegangen." Die umtriebige Oberbürgermeisterin wird die vom Osten heraufziehenden Unwetter schon weglächeln.

Zweifellos war die vertikale Aufteilung der Regierung auf zwei Städte auch für den Autor, der 1991 als Bundestagsabgeordneter klar für Bonn eintrat, grober Unfug. Diese Entscheidung schien mehr Ausdruck eines schlechten Gewissens als Zeichen von Rationalität. Vielleicht bietet nun, in der laufenden Legislaturperiode, die vom Haushaltsausschuss des Bundestages angestoßene Debatte über die Verlagerung der sechs "Bonner" Ministerien an die Spree eine letzte Chance, bei dieser Gelegenheit auch die gesamte Bundesverwaltung zu modernisieren.

Seit 1949 haben sich die Ministerien inklusive des Kanzleramtes zu einem bürokratischen Monster mit über 21.000 Beschäftigten aufgebläht, das jährlich 1,34 Milliarden Euro kostet. Schon vor der Arbeitsaufnahme der Bundesregierung in Berlin schien der Augenblick günstig, den Koloss zu verkleinern. Immerhin haben die meisten Industriestaaten seit Ende der achtziger Jahre ihre obersten Verwaltungen rationalisiert, nur Deutschland kann in den OECD-Reports über "new public management" mit keinem einzigen Projekt punkten.

Nach den Kriterien des Bundesrechnungshofs (BRH), der zugleich Rationalisierungsbeauftragter der Bundesverwaltung ist, muss ein Referat als unterste Arbeitseinheit eines Ministeriums einen kontinuierlichen Arbeitsbezug zu den Gesetzgebungsverfahren aufweisen. Bei etwa 40 Prozent der Referate ist das zwischenzeitlich nicht mehr der Fall. Fast die Hälfte aller Referatsleiter beaufsichtigt im Schnitt weniger als vier Sachbearbeiter. Wie etwa das Referat Wasserstraßenmanagement (Binnen) oder das Referat Wasserstraßenmanagement (Küste) im Bundesverkehrsministerium sind viele Arbeitseinheiten rein verwaltenden Charakters. Hunderte davon könnten in nachgeordnete Bundesbehörden integriert werden. In Europa gelten ansonsten längst überall die auf "policy making" reduzierten Ministerien als Muster. "Ihr müsst doch krank oder verrückt sein", meint der Rotterdamer Universitätsprofessor Walter Kickart, dass ihr "euch immer noch nicht bewegt". Die Bonner Stadtoberen aber - wie auch die NRW-Landesgruppen von CDU und SPD - zeigen wenig Neigung, das kleinkarierte Besitzstandsdenken aufzugeben und sich Reformen zu verschreiben, die diesen Namen verdienen. Noch ist schließlich für die sechs Ministerien etwas einzuhandeln.

Der Autor saß in drei Legislaturperioden für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag.


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