Donnernd brach sich das Echo der "Mittagskanone" in der Bergwelt rund um Kabul. Täglich wurde das Geschütz gegen zwölf Uhr von einer Schanze der alten Befestigungsanlagen im Südwesten der Stadt als Zeitzeichen abgeschossen. War es zu hören, beendete jeden Mittwoch eine Arbeitsgruppe im afghanischen Planungsministerium ihr allwöchentliches Treffen. Unter Vorsitz von Minister Abdullah Yaftal saßen der Leiter des sowjetischen Beraterstabes, Wladimir Chupic, der Sprecher der US-Agrarexperten, Richard Saunders, und der deutsche Volkswirt Heinz Klose zusammen, um Vorhaben zu besprechen, die für Afghanistans Wirtschaft in Aussicht standen. Von den Regierungen der Herkunftsländer entsandt, tagte da ein so exklusives wie ungewöhnliches Gremium. Man schrieb das Jahr 1969 und war mitten im Kalten Krieg - Afghanistan gehörte zur Bewegung der blockfreien Staaten, seine Regierung besaß nach außen hin mehr Autorität als nach innen, sie galt als so neutral wie Indien oder Malaysia und brachte Entwicklungshelfer aus Ost und West an einen Tisch.
Sturz der Monarchie
Doch das ist lange her - heute ist dieser Staat unter den Augen der größten Militärallianz der Welt der bedeutendste Opiumlieferant der Welt und kann nicht verhindern, dass noch immer Lehrer ermordet werden, weil sie Mädchen unterrichten, oder die Blutrache als archaisches Ritual Bestand hat. Um manches von dem erklären zu können, was Afghanistan im Jahr 2006 zermürbt, mag ein Blick zurück auf die vergangenen Jahrzehnte helfen - auf eine Periode, in der König Zahir Shah noch Galionsfigur einer maroden Monarchie war und ein Land zu regieren suchte, das schon damals mit seinen 27 Millionen Einwohnern und über 30 Völkern und ethnischen Gruppen nur äußerst fragile staatliche Strukturen zuließ.
Die Führer der wichtigsten Stämme - der Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazaras - rivalisierten miteinander und betrachteten den Staat - sofern sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahmen - bestenfalls als Reservoir unerschöpflicher Pfründe, an denen man teilhaben wollte. Damals schon, Mitte der sechziger Jahre, stellte der Islam, zu dem sich 99 Prozent der Afghanen bekannten, dank seiner vielen Strömungen alles andere als ein einigendes nationalreligiöses Band dar. Die Landbevölkerung entbehrte positive Erfahrungen mit der Zentralregierung, also galt ihre Loyalität zuallererst dem schützenden Stamm und seinen Führern.
Als nach einer verheerenden Hungersnot ein ohnehin schon riesiges Staatsdefizit regelrecht zu explodieren drohte, putschten am 17. Juli 1973 junge Offiziere, die der kurz zuvor gegründeten Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) angehörten und die Monarchie für einen Anachronismus hielten, der es verdiente, abgeschafft zu werden. Ihr Favorit hieß Mohammed Daud, war Vetter des Königs und dazu auserkoren, die vagabundierende Macht zu übernehmen. Die Kader der DVPA stammten vorzugsweise aus dem städtisch-kleinbürgerlichen Intellektuellenmilieu und hatten nur vage Vorstellungen von linken Theorien, wurden aber von ihren Feinden sofort als "Marxisten", "Kommunisten" - auf jeden Fall als hassenswerte "Ungläubige" - stigmatisiert. Mohammed Daud ließ sich von ihnen zum Präsidenten ausrufen, ging aber bald zur offenen Repression gegen die Volkspartei über. Als sich das Gerücht verbreitet hatte, Teile der DVPA-Führung sollten liquidiert werden, kam es zu einem weiteren Staatsstreich - diesmal gegen Daud.
Am 27. April 1978 übernahm Nur Mohammed Taraki für die DVPA das Amt des Premierministers, um postwendend radikale Reformen einzuleiten - neue Ehe- und Scheidungsgesetze, ein Programm zur Alphabetisierung und eine Agrarreform erschütterten die teils noch halbfeudalen Strukturen. Rückblickend meint dazu der heute im Exil lebende und an der Marburger Universität lehrende Matin Baraki: "Bei der Bodenreform unterliefen den Verantwortlichen gravierende Fehler, indem sie die Stammesrechte und die Rolle der Geistlichkeit schlichtweg ignorierten. Nicht selten waren die Großagrarier zugleich Stammes- oder geistliche Führer, was eine Aufteilung des Landes an Stammesmitglieder nicht eben erleichterte."
Schlange im Ärmel
Die Radikalität der Reformen, Nepotismus und der Mangel an sensibler Konsenssuche bei potenziellen Partnern jenseits des Säkularismus der DVPA und des Dogmatismus der Islamisten führten zum Erstarken der Gegner des Umbruchs. Bewaffnete Mudjahedin eroberten mehrere Provinzen, so dass die Regierung in Kabul gemäß Artikel 4 des afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages die Regierung in Moskau seit März 1979 mehrfach um Militärhilfe und die Entsendung von Truppen ersuchte. Als dann im September 1979 Vizepremier Hafizullah Amin an Stelle des mit einem Kissen erstickten Taraki die Regierungsgewalt an sich riss und der innere Zwist die DVPA zu lähmen drohte, zeichnete sich mit dem Vormarsch der Mudjahedin erstmals die Möglichkeit eines wachsenden Einflusses der USA auf Afghanistan und damit in direkter Nachbarschaft zur Sowjetunion ab. Die daraufhin im inneren Führungszirkel des damaligen Parteichefs Leonid Breschnew Ende 1979 beschlossene Intervention von 80.000 sowjetischen Soldaten sollte sich bald als gravierende Fehlentscheidung erweisen, erst jetzt wurden - getragen von der geopolitischen Lage - die inneren Konflikte Afghanistans endgültig internationalisiert.
Rigoros, ja pathologisch, wie US-Administrationen im Kalten Krieg auf alles reagierten, was nach Kommunismus roch, waren die Mudjahedin bereits vor dem Einmarsch der Sowjets über Pakistan unterstützt worden. Der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates schreibt in seinen Memoiren: "Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, dass sie es tun, wissentlich erhöht."
Unter der Regie der CIA und des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI wurde Afghanistan zu einem Frontstaat des Kalten Krieges, in dem eine islamische Guerilla gegen die sowjetische Armee kämpfte. Allerdings gelang es den Mudjahedin trotz des massiven Beistands der Amerikaner bis zum Abzug der Sowjets im Februar 1989 nicht, die größeren Städte zu erobern. Erst am 25. April 1992 wurde Kabul durch Vermittlung der UNO kampflos übergeben und mit Seb Jhatulla ein gemäßigter Islamist erster Präsident der "postkommunistischen Ära".
Der von den Menschen sehnlich erhoffte Frieden kehrte freilich nicht ein. Die Sieger kämpften gegeneinander und gegen die "Ungläubigen" im eigenen Volk. Eine Fraktion in diesem immer erbarmungsloser geführten Bürgerkrieg bildeten die Taliban, die hauptsächlich in pakistanischen Flüchtlingscamps rekrutiert wurden. Die Entscheidung, sie als eigenständige militärische und politische Einheit operieren zu lassen, ging auf die Regierungen der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens zurück, die nicht zuletzt an einem Pipeline-Projekt interessiert waren, mit dem Öl und Gas aus Mittelasien über Afghanistan zum Indischen Ozean transportiert werden sollte. Die nach 1992 gebildete Regierung des Präsidenten Burhanuddin Rabbani hatte das Versprechen, dieses Vorhaben zu fördern, nicht einhalten können.
Es war nie ein Geheimnis, dass an der seit 1994 zugunsten der Taliban forcierten militärischen Eskalation reguläre pakistanische Truppen beteiligt waren. Geld für die Gotteskrieger aus den Medrasa, den traditionellen islamischen Schulen, kam besonders aus saudischen Quellen, glaubte doch die Führung in Riad, die Taliban könnten eine Form des Wahhabi-Islam, wie er in Saudi-Arabien herrscht, in Afghanistan durchsetzen. Der saudische Geheimdienstchef Prinz Turki al-Faisal arbeitete eng mit Pakistan zusammen und schenkte den Taliban Tausende von Geländefahrzeugen.
Als die Gotteskrieger schließlich am 27. September 1996 Kabul eroberten, war die US-Regierung unter Bill Clinton nicht nur zu fortgesetzter Hilfe bereit, sondern erkannte auch das theokratisch-autoritäre Regime des Mullah Mohammed Omir Akhund umgehend an. Doch war es selbst den Taliban nicht möglich, die Sicherheit beim Bau der Öltrasse vom turkmenischen Daulat Abach durch Afghanistan nach Moltan in Pakistan zu garantieren. Die Unacal Corporation, Mehrheitsgesellschafter des amerikanisch-saudischen Ölkonzerns Centgas, musste das Projekt 1998 wegen fehlender Sicherheit auf Eis legen - die Alliierten in Kabul hatten versagt, also wurden aus "islamischen Freiheitskämpfern" bald "menschenverachtende Terroristen", die nach dem 11. September 2001 das Feindbild Nr. 1 auf der "Achse des Bösen" abgaben. "Wer eine Schlange in seinem Ärmel hausen lässt, wird eines Tages von ihr gebissen", lautet ein afghanisches Sprichwort.
Zwar haben die USA die afghanischen Kartenhäuser ihrer egozentrischen Außenpolitik letzten Endes selbst zum Einsturz gebracht, freilich ohne dabei irgendetwas zu riskieren - geschweige denn zu lernen. Nach ihrer Intervention, die am 7. Oktober 2001 begann und zum Sturz der Taliban führte, setzten sie sich in Kabul mit Hilfe einiger "US-Afghanen" wie des späteren Staatschefs Hamid Karzai auf die gewohnt rüde Weise durch. Der im Dezember 2001 vom damaligen deutschen Außenminister Fischer gefeierte diplomatische Erfolg der Petersburger Afghanistan-Konferenz sollte unter diesen Umständen zum Public-Relations-Blendwerk degradiert werden. Die heutige afghanische Regierung fühlt sich längst nicht mehr an die "Bonner Vereinbarung" gebunden, sie besteht zur Hälfte aus "US-Afghanen", einigen "Euro-Afghanen" (Außenminister Abdullah, Wiederaufbauminister Amin Farhang) und einem Warlord (Energieminister Ismail Khan).
Hass auf alle Fremden
Nicht nur die Afghanen, auch viele Entwicklungshelfer empfinden das Land inzwischen als Militärprotektorat der NATO und der USA, das in Besatzungszonen aufgeteilt ist. Dies gilt um so mehr, als seit Anfang Oktober die internationale Schutztruppe ISAF ihren Verantwortungsbereich auf ganz Afghanistan erweitert hat und immerhin 31.000 Mann (aus 37 Staaten) unter ihrem Kommando zusammen führt, davon allein 11.000 aus dem Bestand der US-Truppen am Hindukusch und 5.000 aus dem britischen Expeditionskorps.
Und die Bundeswehr? Sie ist mit 2.900 Soldaten und dem Argument zur Stelle, den Wiederaufbau im Norden zu sichern, und muss tatsächlich neun Zehntel ihrer Zeit dafür aufwenden, sich selbst zu versorgen und zu schützen. Der Regionalbeauftragte der Deutschen Welthungerhilfe für Afghanistan, Theo Riedke, meint: "Nach unseren Sicherheitsrichtlinien halten wir uns von den Soldaten fern. Die deutsche Presse stellt das nahezu auf den Kopf". Ähnlich verhalten sich auch die meisten der im Auftrag der Bundesregierung arbeitenden Experten der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Die Bundeswehrführung ist der Auffassung, dass "Flagge zeigen" und die Pflicht zum Anti-Terror-Kampf allein die Anwesenheit eines deutschen Kontingents in ausreichendem Maße rechtfertigen. Keine sehr überzeugende Begründung angesichts der Tatsache, dass seit Beginn des Einsatzes Anfang 2002 18 junge Soldaten starben und 41 verwundet wurden.
Den deutschen Steuerzahler hat diese Präsenz bisher 1,86 Milliarden Euro gekostet, zu addieren ist seit 2002 eine Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe von 448,3 Millionen. Nach Ansicht vieler der in Afghanistan tätigen Nichtregierungsorganisationen (NGO) kommt davon allerdings viel zu wenig bei der Bevölkerung an. Noch einmal Theo Riedke von der Welthungerhilfe: "Es fehlt am ausgebildeten Mittelbau in den Ministerien, an rechtsstaatlichen Strukturen bei Polizei und Justiz. Von etwa 2.500 NGOs werden derzeit 80 Prozent aller öffentlichen Dienstleistungen Afghanistans aufrechterhalten. Auf diese Weise ist keine nachhaltige Entwicklungspolitik möglich." Und seine Kollegin Johanna Gassmann ergänzt "Beamte, Warlords und die Entwicklungshelfer können sich Konsum leisten. Afghanen fast nichts. Seit 2001 schießen außerdem in Kabul die Bordelle wie Pilze aus dem Boden. Das löst bei vielen Frauen Hass auf alle Fremden aus."
Anlässlich der Verlängerung des Afghanistan-Mandats um ein Jahr am 28. September 2006 im Bundestag hörte man von den Koalitionsparteien, zur Stationierung der Bundeswehr gebe es "keine Alternative" - eine Apologie, wie man sie auch für die Besatzung im Irak zu hören bekommt. Es gibt Alternativen, die es verdienen, ernsthaft geprüft zu werden, anstatt Jahr für Jahr Truppen aufzustocken und neue opferreiche Schlachten zu führen. Die einzigen Kräfte, die das Land möglicherweise konsolidieren könnten, sind jene technokratischen Experten, die Berufs- und Regierungserfahrung besitzen und zu den Millionen von Flüchtlingen gehören, die in den USA sowie in zahlreichen Ländern Europas leben. Allein in Deutschland gibt es mehr als 70.000 afghanische Emigranten mit unterschiedlichem Rechtsstatus, die sich nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) "erfolgreich" integriert haben.
Innerhalb des Reintegrationssonderprogramms Return to Employment in Afghanistan sind laut BMZ zwischen Januar 2002 und Juni 2006 nur 2.730 Rückkehrer vermittelt worden - es könnten entschieden mehr sein. Man sollte vielleicht umdenken und die Finanzen statt in Militäroptionen in derartige zivile Programme investieren. Vielleicht hilft dabei die Erfahrung der Brecht-Preisträgerin Dea Lohea, die in Kabul gemeinsam mit Afghanen arbeitete: "Es mag naiv und utopisch erscheinen - und dennoch: Die Arbeit mit afghanischen Studenten, der Austausch mit Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen ist eine der wenigen Möglichkeiten, das Land aus der Isolation zu holen."
Der Autor saß über drei Legislaturperioden bis 1998 für die SPD im Bundestag.
NATO-Protektorat
Dezember 2001
Der UN-Sicherheitsrat beschließt mit Resolution 1386 die Entsendung von Truppen (ISAF/International Security Assistance Force) nach Afghanistan "zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung". Es wird gebilligt, dass parallel dazu bei der Operation "Enduring Freedom" (OEF) US-Truppen unter gesondertem Kommando auf afghanischem Gebiet operieren. Am 22. Dezember 2001 erteilt eine Bundestagsmehrheit das Mandat für eine deutsche Beteiligung bei ISAF.
März 2002
Beim Entschärfen von Munition sterben in Kabul zwei deutsche und drei dänische Soldaten.
Mai 2002
Der UN-Sicherheitsrat verlängert das ISAF-Mandat bis Ende 2002.
November 2002
Der UN-Sicherheitsrat beschließt mit Resolution 1444 die Verlängerung des inzwischen NATO-geführten ISAF-Einsatzes erstmals um ein ganzes Jahr. Im Dezember 2002 kommen bei einem Helikopter-Absturz sieben Bundeswehrsoldaten ums Leben.
Februar 2003
Übernahme der Lead-Nation-Verantwortung bei ISAF durch Deutschland und die Niederlande.
Oktober 2003
Nachdem ISAF auch den Norden als Operationsfeld einbezieht, treffen die ersten Bundeswehrsoldaten in Kunduz ein.
Januar 2005
Auch der Westens Afghanistans gehört ab sofort zum Einsatzgebiet von ISAF.
September 2005
Der Bundestag beschließt mehrheitlich, das ISAF-Mandat um ein weiteres Jahr zu verlängern, die Personalobergrenze wird von 2.250 auf 3.000 Mann erhöht. Außerdem gibt es ein Plazet für einen Einsatz der Bundeswehr über die Nordregion und Kabul hinaus.
Juli 2006
Nach schweren Gefechten mit den wieder erstarkten Taliban übernimmt ISAF auch das Kommando über den Süden Afghanistans.
September 2006
Der Bundestag verlängert das Afghanistan-Mandat erneut, zugleich dehnt ISAF das Kommando auf ganz Afghanistan aus.
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