Infizierte siehst Du, aber keine Menschen

Corona-Diaries Unser erblindeter Tagebuchschreiber schickt Aufzeichnungen zu einer Ohnmachtserfahrung oder: Über die Corona-Pandemie im Hölderlin-Jahr – Teil 1
„Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen“/Von der schwer zu fassenden Geisel der Pandemie/Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen/jahrlang ins Ungewisse hinab.“
„Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen“/Von der schwer zu fassenden Geisel der Pandemie/Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen/jahrlang ins Ungewisse hinab.“

Foto: Greg Wood/AFP/Getty Images

Mitte Februar im Hölderlin Jahr 2020

„Einen Sommer nur und einen Herbst gönnt mir … Die Mauern stehen sprachlos und kalt … Wo aber Gefahr ist …“ Wo aber Gefahr ist? Wächst das Rettende auch nicht mehr! Wie denn auch, zu perfekt „abgerichtet“, mit Hyperions Schelte zu sprechen, haben wir uns selber. Statt der frommen Rettungslegende zur Abwechslung die Briefstelle, wo der Dichter mit noblem Understatement von seinen Schweizer Wirtsleuten sagt, „gründliche Menschen, die gerade soviel Anteil nehmen an Fremdem, als es ihr Herz nicht schwächt“. – Statt „gründlich“ würde man heute „fit“ oder „tough“ sagen. Vulgo, der Typ Mensch, der zu werden die neoliberale Tagesordnung allen dringend anrät. Sich an „Fremdem“ alles vom Leib halten und mehr noch von der Seele, was unnötig belastet. Indem es unseren Tagesgeschäften in die Quere kommt oder die anschließende Erholung von denselben beeinträchtigen könnte.

Analog transkribiert lautete des Dichters Klage über „die Deutschen“ in seinem Hyperion, „Handwerker siehst Du, aber keine Menschen …“: IT-Spezialisten siehst Du, aber keine Menschen. Webdesigner, Influencer, Veganer, Buddhisten, Selbstoptimierer allesamt. – Legt sich heutigen Freunden des Dichters die Frage nahe: Wo er bereits seine damaligen Landsleute „allberechnende Barbaren“ gescholten hat, wie ginge es dem sensiblen „Musenjüngling“, sähe er heute, wie alle sich zu „Unternehmern ihrer selbst“ gemausert haben. Allberechnende unternehmerische Selbste, „friedlich und heiter ... das Alter“ nicht einmal mehr ...

„Bald sind wir aber Gesang“

Unterdessen bemühen sich Gegenwartsautoren, den gleichermaßen am Widrigen seiner Zeit-und Lebensumstände wie an mentaler Selbstvergiftung durch idealistischen Höhenrausch zugrunde gegangenen Dichter einer gegenwärtigen Leserschaft nahezubringen. Mit suggestiven Titeln wie „Komm ins Offene Freund“ und „Bald sind wir aber Gesang“, deren vermeintlicher Orientierungsanker für zeitgenössische Suchende nicht allein das Schicksal des Dichters, dessen poetische Metaphern sie sind, Lügen straft.

Rüdiger Safranski will Hölderlins Alternativprogramm zu dem seiner Freunde Hegel und Schelling, „es ist die Poesie, nicht die Philosophie“, die uns „die Erfahrung des Absoluten erschließt“, noch einmal für heutige Heimwerker oder Bastler am „Kunstwerk ihres Lebens“ attraktiv machen. Mit Hölderlin und dem Befreienden der Poesie die begrifflichen Gehäuse der Philosophie oder auch der Wissenschaften sprengen und den Schritt ins Offene wagen. Wobei unter den Tisch fällt, dass Hölderlins Dichtung, über weite Strecken mythologische Begriffspoesie, den gleichen idealistischen Höhenflug vollführt wie Hegels Systemphilosophie, mit dem Unterschied, dass dieser gegen das mental Toxische des Unternehmens – nur andere haben sich an ihm angesteckt – durch Konstitution und günstigen Karriereverlauf geschützt gewesen ist und ihn erst gegen Ende seines Lebens die Cholera dahingerafft hat. – Was sich Navid Kermani (oder sein Verlag) bei dem Titel §Bald sind wir aber Gesang“ gedacht hat, weiß ich nicht. Vielleicht stellt sich Kermani vor, einem heute lebenden Hölderlin würde unter den so ganz anderen Verhältnissen eine vergleichbare Karriere offen gestanden haben, wie dem von ihm verehrten Rockpoeten Neil Young, „der gerade“ – die „Retrospektive“ aufs eigene Werk selbst in die Hand nehmend und diese nicht, wie der historische Hölderlin seinen Nachlass, anderen überlassend – „ein fantastisches Stück nach dem anderen aus seinem Archiv herausbringt“.

Mitte März, kalter Frühling, „social distancing“

Diskursiver Schnitt, von Hölderlin zu Corona. Statt „Und so kam ich unter die Deutschen …“ ein planetarisches „Und so kam das Virus unter sie“. In China hat der Drache zuerst sein Haupt erhoben, um vom Gelben Fluss aus den giftgen Odem zu verbreiten bis zu den fernen Gestaden „Hesperiens“, nicht ausgenommen den „Archipelagos“ mit den Flüchtenden all auf Joniens Inseln. Dem Lande selbst, wo in grünem Haine die goldne Pomeranze glänzet, Italien. Anstelle von Hölderlin nehmen einige nun ihren Boccaccio aus dem Bücherregal. Statt in statu nascendi neunzehntes Jahrhundert Mitte vierzehntes Jahrhundert, „Tigersprung“ ins Spätmittelalter. Die „Heimsuchung hatte in den Herzen der Männer und der Frauen einen solchen Schauer erregt, dass ein Bruder den andern verließ, … und die Frau ihren Gatten … sogar die Väter und die Mütter scheuten sich, nach ihren Kindern zu sehen und sie zu pflegen … Und nicht wenige waren, die bei Tag oder bei Nacht auf der öffentlichen Straße verschieden.“ – Warum erneut Italien, der liebliche Norden, nach so vielen Jahrhunderten? Bevorzugt der Seuchengott vertrautes Gelände? Ist südländischer Schlendrian im Spiel? Bis vor wenigen Tagen wiegte man sich nördlich der Alpen in trügerischer Sicherheit.

Mittlerweile steht fest, mit der Poebene als Beute gibt sich die Seuche nicht zufrieden. In Nordrhein-Westfalen feiert einer Karneval und denkt sich nichts dabei. Es hat böse Folgen. Mir fällt der Faschingsschlager aus Kindertagen ein, „am dreißigsten Mai ist der Weltuntergang, mir läbe nimmer lang, mir läbe nimmer lang …“ Apokalyptische Bilder drängen ins Kopfkino, vielleicht sind es auch Bilder aus der Wirklichkeit, aus der Nachbarschaft. Wohlstandsflagellanten, von Kopf bis Fuß in Toilettenpapier gewickelt, tänzeln durch Einkaufspassagen. In Parks und auf Plätzen zeigt sich kurzzeitig der Corona-Flashmob, ehe die Ordnungskräfte zur Stelle sind, ist der Spuk vorüber. Die Toten werden erst nach Einbruch der Dunkelheit aufgelesen und zu den Krematorien im Hinterland verbracht.

Oder wächst, da Gefahr ist, das Rettende jetzt doch? Sein Losungswort: „sozialer Abstand“.

Nomen est Omen und kein gutes, fürchte ich. „Körperlicher Abstand“ wäre das zutreffende Wort gewesen, physische Distanz im sozialen Verkehr. Sprachlich beschwört der Lapsus einmal mehr, was uns als in der Wolle gefärbten neoliberalen Ichlingen in Fleisch und Blut übergegangen ist, die soziale Distanzierung vom Anderen. Vielleicht werden ja nach der Aufhebung des von der Seuche erzwungenen Burgfriedens die durch ihn suspendierten egozentrischen und antisozialen Konnotationen des Gebots der sozialen Abstandswahrung anstandshalber noch eine Weile in Quarantäne gehalten, bis die Übergangsfrist zur jetzt schon herbeigesehnten Normalitätsrückkehr abgelaufen ist.

Vor dem Virus sind wir keineswegs alle gleich

Behinderte, die, wie ich als Erblindeter, täglich das subtile, unspektakuläre „social distancing“ ihrer nichtbehinderten Mitmenschen erleben, verstehen die Artikulation eines Unbehagens beim Gebrauch des Wortes „sozialer Abstand“. Zur Illustration ein autofiktionales Telefonat: Mal was anderes, blühen bei Euch auch wie hier die Kirschbäume so schön, oder ist da die Blütezeit schon vorbei? – Weiß ich nicht, ich sehe es ja nicht. – Vielleicht würdest Du es riechen. – Hier sicher nicht, vor dem Fenster ist die Straße. Kirschbäume müsste ich erst suchen. – Stimmt, das geht jetzt nicht. – Richtig, aber nicht wegen der Ausgangssperre nicht. Wegen des Nachbarn nicht. Du weißt, was passiert ist. Allein gehe ich nicht nach draußen. – Tja, so was auch. Weißt Du, wir hatten nämlich vor, dieses Jahr zur Kirschblüte nach Japan zu fliegen. Geht nun auch nicht. Ich sage Dir, es geht uns allen gleich…

Vor dem Virus sind wir alle gleich, lebendig und als Leich, schallt es einem sinngemäß allenthalben ins Ohr. Ich wundere mich, wer sich da alles auf einmal mit unsereinem gleichermaßen betroffen und solidarisch erklärt. Unsereinem, der weder privatversichert ist, bestenfalls grundgesichert, noch sich in ein herrschaftliches Haus auf dem Land zurückziehen kann, wütet die Seuche gar zu arg im aufgedunsenen Leib des urbanen Moloch. Der wie ich nicht erst seit Corona als unfreiwilliger Eremit eingeschlossen in den vier Wänden einer Mietwohnung seine Tage zubringt. Weil er, seitdem ihn die Angriffe jenes Nachbarn in Bedrängnis gebracht haben, seitens seiner Mitbürger vergebens auf Beistand und Solidarität hofft. Schon zuvor sahen sie in ihm nicht Ihresgleichen, wandten den Blick ab, wenn sie dem Blinden und seiner Begleiterin auf der Straße begegneten. Und da soll unsereins den medial verstärkten Gleichheits- und Solidaritätsadressen Glauben schenken?

Wie manch andere, so wundere auch ich mich, wie über Nacht der Staat die Spendierhosen überstreift, die Säckel so prall gefüllt mit Dukaten, dass er schier nicht mehr laufen kann. Mir fallen meine jahrelangen vergeblichen Bittgänge aufs hiesige Sozialamt ein. Da ich bereits grundgesichert bin, gehe ich auch diesmal leer aus, an mir geht das staatliche Füllhorn – Helikoptergeld ist keines dabei, es sind nur Rettungshubschrauber am Himmel und Überwachungsdrohnen – gezielt an mir vorüber. Um der ausgleichenden Gerechtigkeit willen, dann hoffentlich auch der Kelch der künstlichen Beatmung – „die du geheim den Stachel und Zügel hältst, zu hemmen und zu fördern, o Nemesis“ erinnere dich meiner dann ...

Ende März, strenger Nachtfrost, „Ruhe vor dem Sturm“

O, mein Bellarmin, die schönen Tage von Kalaurien neigen dem bittern Ende zu. Heute Mittag Henkersmahlzeit. Königsberger Klopse. Ab morgen im Bioladen mit Imbiss die warme Mahlzeit nur noch to go, ins Jenseits der häuslichen Abgeschiedenheit. – Mein Schwager am Telefon: „Bei uns hier in der Metzgerei wird dir das Wurstpaket nicht mehr über die Theke gereicht, es kommt einem über eine Plastikrutsche entgegen.“ Der Kunde, noch immer König, muss nur die behandschuhten Hände aufhalten, wie im Schlaraffenland.

Derweil, der Kunde verzehrt seine Bratwurst, ruht der arglistig böse Feind, das Virus, nicht und macht Geschichte. Die wiederum nach Sinngebung des Sinnlosen verlangt. Was Sterndeuter und Intellektuelle auf den Plan ruft.

Slavoj Žižek sagt, nach Corona wird der Mensch nicht mehr der alte sein. Was beweist, dass Žižek nach Corona noch der alte ist.

Ich nehme an, für die Gegenwart gilt das gleiche, was schon der alte Thukydides beobachtete, wenn der peloponnesische Krieg einmal durch das Wüten der Pest vorübergehend zum Erliegen kam: Die Seuche verwandelte die Menschen nicht, es treten lediglich sowohl ihre edlen und großmütigen Charakterzüge wie auch die niederen und engherzigen Verhaltensweisen um ein Vielfaches deutlicher zutage.

Das Bemerkenswerteste im Augenblick: Wie zwei vollkommen konträre Vorstellungen mit gleich starker Suggestibilität durch den öffentlichen und medialen Raum schwirren, die, man weiß nicht in wie vielen Köpfen, tatsächlich in unmittelbarer Nachbarschaft ihren Platz gegeneinander behaupten. Dass hinterher nichts sein wird wie zuvor und dass nach Ostern, schrittweise, die Normalität zurückkehrt. Indem vor allem die Wirtschaft wieder „hochfährt“, dieses von allen im tiefsten Innern gefühlte Barometer, dass alles beim Alten ist. Schon nach einer Woche „Stillstand“ fiebert alle Welt danach, endlich „loslegen“ zu dürfen. – Weniger oder nichts auf Erden erweist sich effektiver programmiert als menschliche Gehirne. Besonders, wenn ihre Inhaber nicht darin geübt sind, von den noch am ehesten beeinflussbaren Programmierungen und Konditionierungen, den gedanklichen oder intellektuellen, immer wieder einmal Abstand zu nehmen. Dann führen intellektuelle Reflexe und gedankliche Automatismen noch den klügsten Kopf aufs Glatteis bzw. zum gewagten Kurzschluss. So Hartmut Rosa, wenn er Trumps Aufforderung an die Autoindustrie, Atemmasken statt Autos herzustellen, schon als Beweis für die bislang stets in Abrede gestellte Möglichkeit nimmt, politisch und wirtschaftlich radikal umsteuern zu können, „was man daran sieht und dazu sagen kann, ist nur, na also, es geht doch“.

„Nichts mehr wie vorher“, das ruft bei mir Beklemmung hervor

Es sind persönliche, lebensgeschichtliche Gründe, wenn anders als bei gesellschaftlich abgefederten Intellektuellen – soweit sie in den ihnen vertrauten gedanklichen Abstraktionen verharren – bei mir die Vorstellung nichts mehr wie zuvor weniger die intellektuelle Phantasie anregt als vielmehr Beklemmung hervorruft. Wer durch seine Lebensumstände, so wie ich, in das Bermudadreieck von Armut, Alter und Behinderung geraten ist, hat bereits unter Normalitätsbedingungen kaum mehr die Chance, eine normale oder durchschnittliche bürgerliche Existenz zu bestreiten. Selbst wenn ich meine persönliche Abweichung vom statistischen Mittel berücksichtige, scheint mir die Annahme realistisch, unter den Ausnahmebedingungen eines nichts mehr wie zuvor, so wie diese höchstwahrscheinlich beschaffen sein dürften, zu den am meisten Leidtragenden zu gehören. – Weshalb ich mich auch durch den „Possibilisten“ Matthias Horx nicht angesprochen fühle, wenn er mich auf dem Wege und unter der Maßgabe eines abstrakten Gedankenspiels für die viel zahlreicheren „Möglichkeiten“ als gemeinhin angenommen begeistern will, mich „nicht als Opfer zu verstehen“. Die von mir favorisierte Möglichkeit, mich nicht als Opfer zu verstehen, besteht stattdessen gerade darin, mich in einer geistigen Askese zu üben, die mich davor bewahrt, intellektuellen Abstraktionen wie den Horxschen zum Opfer zu fallen beziehungsweise auf den Leim zu gehen.

Der Philosoph und Hochschullehrer Markus Gabriel hat seinen erst gar nicht coronabedingt „heruntergefahrenen“ Geist sogar ein Stockwerk höher gefahren und empfiehlt einen gesellschaftsweiten Diskurs über Fragen der „Metaphysik“, über „Ethik“ sowieso, insbesondere für die Jungen, als die gesellschaftlich und politische Rettung, wenn nicht Heil versprechende Lehre aus der unsere Welt an den Rand des Abgrunds befördernden Pandemie. Trivialitäten, selbst philosophische haben den Vorzug, dass man sich mit ihnen stets irgendwie auf der sicheren Seite wähnen kann. – Unberührt von einem solchen Einwand dürften freilich auch die empirisch belastbaren „Lehren aus der Coronakrise“ ausnahmslos unspektakuläre, mithin triviale Wahrheiten zutage fördern, weniger „just in time“, bessere medizinische Vorratshaltung et cetera. Das für mich allein signifikante Nichttriviale in puncto Wahrheit oder Lehre aus Corona liegt im Bereich jenseits des Intellektuellen, einschließlich des religiös Gedanklichen. Es handelt sich um jenes unter der Conditio Humana zu allen Zeiten gültige Nichttriviale, das in Gestalt der erwähnten geistigen Askese wenn schon keine physische Immunität gewährleistet, so doch einen seelischen oder mentalen Immunschutz verspricht, wie ihn keine andere Praktik oder Maßregel zu bewerkstelligen vermöchte.

Eine Prise Poesie zur Erholung. Wer kann Hölderlins Elegie „Hammer und Tanz“ aus dem Stegreif mit Mundschutz und ohne Atembeschwerden aufsagen? Niemand? Richtig! Es gibt sie nicht. „Brot und Wein“ ist von Hölderlin. „Hammer and Dance“ ist aus dem Innenministerium. Läuft es schlecht und zeigt der Hammer keine Wirkung, fällt der Tanz flach und der Hammer saust nach Ostern noch einmal nieder, so das Expertenpapier. Läuft es ganz dumm, Szenario Nr.4, „worst case“, gähnt der Abgrund, wirtschaftlicher Zusammenbruch, die Zahl der Toten siebenstellig.

Im Jenseits sind auf alle Fälle noch Plätze frei

Doch wenn schon die Wahrscheinlichkeit so hoch ist, vom Virus angesteckt zu werden, so muss man sich nicht auch noch von Panik anstecken lassen. Vorerst heißt es: Abstand halten, Hände waschen und abwarten. Oder wie es bei den Experten heißt: „Flatten the curve“, die Durchseuchung strecken. Und eines noch, Tierfreunde mögen es sich gesagt sein lassen: Keine Schleichkatzen und anderes asiatisches Getier von dubiosen Händlern andrehen lassen (wie hieß noch gleich der Infektiologe, der mit dieser Warnung um die Ecke kam? Heiteres Virologenraten). – Bis zum Zeitpunkt der Herdenimmunität wahlweise der Verfügung eines Impfstoffs sind für Risikogruppler im Jenseits auf alle Fälle noch Plätze frei. Die speziell für Katholiken attraktiv sind, weil ihnen per päpstlichem Ablass die Jenseitsstrafen erlassen sind, wie im vorgezogenen Ostersegen bei strömendem Regen und gespenstisch entvölkerten Petersplatz der Stadt und dem Erdkreis verkündet. Haben sich hienieden die Reihen gelichtet, wird dann auch vor Ort wieder vermehrt Platz sein. Worauf sich die Rede von der „gestaffelten Exitstrategie“, Expertensprache kennt keine Pietät, natürlich nicht bezieht.

Apropos Exit-Strategie. Da sie die „fürsorgliche Belagerung“ der Gesamtgesellschaft zu einer der Risikogruppen zurückzufahren gedenkt – auch mir geht das Hoch-und-runter-und-vor-und-zurück-Gefahre allmählich auf die Nerven –, läuft sie auf eine de facto „Segregation“ der Alten hinaus. Ein weiteres dieser sozialen Großexperimente im Zuge der Coronapandemie. Der inzwischen achtzig jährige Publizist und Altachtundsechziger Peter Schneider hat in den „Zwischentönen“ des Deutschlandfunks anklingen lassen, er sehe in dem, was da möglicherweise doch eine Überreaktion sein könnte, die Angst und das schlechte Gewissen der Jüngeren in Politik und Verwaltung am Werk, deren vormalige Entscheidungen beziehungsweise Fehlentscheidungen die derzeitigen Engpässe in der medizinischen Notfallversorgung und eine speziell den Alten und Hochbetagten drohende humanitäre Katastrophe zu verantworten haben. Weil sie aber – typisch „postheroisch“ und tragikscheu ließe sich ergänzen – diese Katastrophe und ihr moralisches Desaster fürchten, muss sich nun die Risikogruppe der Alten zu ihrem eigenen Besten ins Schicksal der Separierung und Absonderung bequemen. – In Anbetracht von soviel Fürsorglichkeit erlaubt sich Peter Schneider, einen Wunsch zu äußern. Wenn denn Altensegregation, er folge ja der Anordnung, würde er wünschen, alle versammelten sich „auf einem großen Kreuzfahrtschiff“. Daraufhin, so spinne ich seinen Traumgedanken frei assoziierend fort, treibt der an einem Fleck konzentrierte demographische Altersüberhang aus gewöhnlichen Alten, Hochbetagten, Höher-und Höchstbetagten auf dem seltsam verfremdeten Floß der Medusa zu den Klängen von „Wenn auf Capri die rote Sonne...“ aufs offene Meer hinaus. Ich bin sicher, auch mir hätte man an Bord den meiner Altersarmut angemessenen Platz zugewiesen, eine Kabine im dritten Unterdeck. Was sollte ich als Blinder auch auf dem Oberdeck anfangen, ohnehin würde ich das Meer nicht sehen.

Abschließende Notiz. Vor Beginn der Osterwoche. Noch steht in den Sternen, ob nach Ostern die Gewehr bei Fuß stehenden Leistungsträger der Wirtschaft „durchstarten“ können und noch vor den Sommerferien mit der Fernreisewelle der Dachs durch die Decke geht. Wo doch derzeit der Osterhase, traurig anzusehen, die Löffel angelegt hat und sich ängstlich in die Ackerfurche duckt.

Draußen immer seltener Gesichter, höre ich, mehr und mehr Masken. Die heimische Produktion läuft gerade an, die fabrikmäßige wie die häusliche. Unter den Selbstgebastelten sollen auch ganz lustige sein. Schnabelmasken sicher keine, reflexartig habe ich das Bild der Schnabelmaske aus Illustrationen zur mittelalterlichen Pest vor Augen, wenn dieser Tage von Masken die Rede ist. Blinde können sich nur an ihre Bilder im Kopf halten, unter die sich bei einigen noch die erinnerten Bilder von einmal tatsächlich gesehenen mischen. Eine Burka habe ich noch nie live gesehen. Osterhasen schon, als Kind. Schokoladenhasen laufen nicht weg, ob ich sie im Supermarktregal bei den derzeitigen Einschränkungen ertasten dürfte? Mit Plastikhandschuh vielleicht. Tastende erkennen sie unschwer an den langen Löffeln. Vorausgesetzt, Wittgensteins Hasen-Enten-Kopf funkt nicht dazwischen, weil sie dann nie wissen können, ob sie statt der Hasenohren nicht einen Entenschnabel befingern.

Was aber bleibet ist Ungewissheit. „Sein“, so kalauerte einst E.M. Cioran , wenn er nächtens schlaflos die leeren Boulevards am Montmartre entlangvagabundierte, „Sein heißt In-der-Klemme-sein.“ – Ändern lässt es sich nicht, die Stellschraube gibt es nicht. Möglich wäre ein Perspektivenwechsel, wie beim Hasen-Enten-Kopf. Sich bewusst darauf einlassen, in der Klemme zu sitzen. In gedankenfreier Geistesgegenwart. Der klassische Name dieser Praktik geistiger Askese ist Yoga. Yoga gleich Joch, Klamm, Klemme. Der Unterschied zum gewöhnlichen in der Klemme sein: Es atmet sich leichter. Etwas öffnet sich, ein Lichtstrahl. Es ist wie Benjamins „kleiner Türspalt, durch den jeden Augenblick der Messias eintreten kann“.

Was bleibt, wo aber Gefahr ist, vom Hölderlinjahr? Es rettet sich, wie jeglicher Kulturbetrieb, bis Jahresende über die Runden. Nur, trifft es zu, dass gegenwärtigen Lesern des Dichters an dessen Dichtung – wegen deren Ironiefreiheit, Pointen- und Humorlosigkeit – als erstes ihre Gegenwartsferne ins Auge springt, wie es noch kürzlich der Kritiker Tillmann Krause in vor-coronarischer Unbedachtheit auf den Punkt gebracht hat? Inzwischen, finde ich, hängt es einmal mehr davon ab, an welcher Stelle man das Werk des Jubilars aufschlägt. „Hyperions Schicksalslied“, die Schlussverse zeitnah variiert, liest sich momentan nicht sonderlich gegenwartsfern. „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen“/Von der schwer zu fassenden Geisel der Pandemie/Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen/jahrlang ins Ungewisse hinab.“

Hans-Willi Weis, geb. 1951, ist Philosoph und Kulturwissenschaftler. Er lebt und arbeitet als freier Publizist in Staufen bei Freiburg im Breisgau. 2012 erschien seine Studie zu Wittgenstein, Heidegger, Adorno und Benjamin als Grenzgänger zwischen Denken und kontemplativer Versenkung unter dem Titel „Denken, Schweigen, Übung – eine Philosophie des Geringfügigen“

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