Lockerungseuphorie und Corona-Cafard

Corona-Diaries Coronical correctness, der Intellektuellen Koller und ein Corona-Attentat . Aufzeichnungen unseres erblindeten Tagebuchschreibers – Teil 3
Symbolbild Euphorie
Symbolbild Euphorie

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Wonnemonat Mai. Das Wandern ist des Müllers Lust. Mit einer der Ohrschlaufen am Knauf der Spazierstöcke befestigt, flattern fröhlich wie anno dazumal die landsmannschaftlichen Wimpel itzo die Schutzmasken im Wind. Gefühltes Postcorona, tendenziell euphorisch.

Auf Deutschlandfunk leitete gestern die Moderatorin die „Kultur am Abend“ ein mit den Worten, „Man mag es noch gar nicht recht glauben, aber der Exit ist da“. Im Londoner Globe-Theater werden die Stühle und die Stehplätze auseinandergerückt und an Deutschlands Schulen die Schulbänke. Europaweit ein einziges Gerücke und Geschiebe, bis alles an seinem ungewohnten Platz ist. – Wann „Auerbachs Kellertheater“ in Staufen wieder öffnet, ist mir nicht bekannt, vermutlich noch zu wenig Touristen in der Stadt. Der Wiedereröffnung der Kultur des Volkstheaters und seiner lustigen Schwänke wird die der heimischen Esskultur natürlicherweise vorangehen, vor allen Dingen aber die der Trinkkultur. Hinsichtlich der letzteren ist der örtliche Hotspot seit den Tagen des Mittelalters der in der Altstadt gelegene Weinbrunnen. Bis auf den heutigen Tag versammelt sich um ihn, sofern nicht gerade Lockdown ist, eine große Menge Volkes zu zünftigem Gelage, bei welchem die Becher und die Pokale kreisen. Von daher die Scherzrede, wonach Staufen die Stadt ist, die einen Buchstaben zu viel im Namen hat, das t. Der männliche Bevölkerungsteil, soweit er voll im Saft steht (ich spreche nicht von der altersbedingten Risikogruppe und denen, die womöglich in einem halben Jahr sowieso tot sind), kann – von der Straße dringen Laute an mein Ohr, aus denen ich solches schließe – den Himmelfahrtstag kaum mehr abwarten, obschon noch nicht einmal Muttertag war, sie würden am liebsten sofort das Leiterwägelchen aus dem Keller oder dem Schuppen zerren und mit dem Bierfässlein darauf …

Zum Bier gleich noch ein Wort, zunächst eines zum Saft der gepressten Rebe und wie man sie gleich hier um die Ecke anbaut. Seit Monatsbeginn ist es bereits wieder soweit, frühmorgens oder abends ein Wohnungsfenster öffnen, heißt, damit rechnen müssen, es steigt einem der stechende Geruch des Spritzmittels in die Nase, das im Weinberg hinter der Altstadt versprüht wird und dessen in die unterhalb gelegenen Gassen gewehte Chemikalienwolke bei offen stehendem Fenster in die Wohnung dringt. Glücklicherweise bin ich kein Weintrinker, wüsste aber dennoch gern, wie es jemand anstellt, der auch nur ein paar mal diesen Geruch in der Nase gehabt hat, beim Weintrinken den Gedanken aus seinem Bewusstsein fernzuhalten, eine mit Weingeist und Traubenzucker versetzte Chemikalie zu schlucken. Ob dieser Tage das Spritzmittel, penetrant wie es ist, traut man es ihm fast zu, wenigstens das Virus abtötet, von dem es manchmal heißt, es halte sich noch stundenlang in der Luft? – Niemand, weder Ökos noch sonst wer, der gegen das Gespritze dicht bei den Wohnquartieren, das Gift und den Gestank gleichermaßen, auf die Barrikaden geht. Dazu hängen die hier im badischen Land überall viel zu sehr selber am Rebensafttropf, hat uns Fritz früher immer erklärt und lag wahrscheinlich richtig damit, so sehr er mir ansonsten mit seinen Rezitationen aus dem tibetischen Totenbuch bisweilen auf die Nerven ging – nach der Verschlimmerung seiner Parkinson- Erkrankung haben wir ihn nur mehr ein einziges Mal gesehen, er radelte Sutras rezitierend Richtung Münstertal und machte eine grüßende Kopfbewegung zu uns herüber, so Silvia. Wer sich jahrelang, so hat Fritz auch gesagt, die im Gutedelpelz oder was der Tarnnamen sonst noch alle sind angepriesene Chemikalie zugeführt hat, riecht überhaupt nicht mehr die bei ihrer Herstellung über der Allmende unserer aller Atemluft versprühte Giftwolke. Wie die meisten Staufener auch die chemieindustrielle Abluft nicht riechen, wie sie von der Plastikfabrik am Stadtrand mehrmals täglich in die Gassen und Sackgassen der Altstadt abgegeben wird, eine Bürgerinitiative hat bereits vor Jahren die Segel gestrichen, weil sie meinte, einsehen zu müssen, wie „systemrelevant“ für die Stadt die Steuereinnahmen aus dem Fabrikbetrieb sind – dass sie vielleicht auch nur so systemrelevant, also eigentlich auch verzichtbar, sind, wie zur Pandemiezeit der staatsministeriell für systemrelevant deklarierte Kulturbetrieb, haben sich die Bürgerinitiativler damals nicht fragen können.

Bierschwemme, Ölschwemme, Ozapft is

Also das Wort zum Bier noch. Ich frage mich, wo der Lockerungsfrühling jetzt so richtig Fahrt aufnimmt, war es da nicht vorschnell, dass der Söder, sonst kein Blöder, „die Wiesn“ gecancelt hat? Gesetzt der Fall, nach einem ebenfalls erfolgreichen Lockerungssommer – vielleicht wird von einem zweiten „deutschen Sommermärchen“ nach 2006 die Rede sein – erwartet nicht nur Bayern, sondern die ganze Welt mit dem Oktoberfest einen mindestens genau so lockeren Herbst und dann heißt es, von wegen „ozapft is“, nix is, mir habn zu! Das versteht dann endgültig kein Mensch mehr – bayuwarische Trinkkultur als wirtschaftlicher Standortfaktor, da träfe das mit der Systemrelevanz endlich mal zu: Kultur und Ökonomie, weil Hand in Hand, systemrelevant. Ausgerechnet an dieser Schnittstelle dann im hoffentlich rückfallfreien Lockerungsherbst dem Volk „Pustekuchen“ zurufen, wenn den Verantwortlichen diese Fehlentscheidung mal nicht auf die Füße fällt. Die Wiesn, die zu dieser Jahreszeit gewöhnlich im Bier schwimmt, künstlich trocken halten, wo eh alles draußen in der Natur viel zu trocken ist, weil es „himmelsakra“ nicht regnen will.

Während vor ein paar Wochen stattdessen noch von einer Ölschwemme die Rede war, von der man momentan auch nichts mehr hört. Außer, dass die Benzinpreise heruntergefahren sind, was beweist, dass „herunterzufahren“ nicht immer schlecht sein muss. Als es in den Wirtschaftsnachrichten kurzzeitig hieß, die Ölanbieter zahlten den Abnehmern sogar etwas drauf, legte ich mir schon einen Plan zurecht. Wenn wir uns zwei Benzinkanister besorgen, mehrmals die Woche tanken und das Geld, das uns die Zapfsäule dafür auszahlt, am Monatsende zusammenrechnen, kommen wir locker auf die Einnahmen eines 400 Euro Minijobs, für unsereins kein Pappenstiel. – Eine typische Milchmädchenrechnung, wie sich herausgestellt hat. In der Häckselmaschine der systemrelevanten Systeme der Wirtschaft sind wir Habenichtse allemal die Gelackmeierten. Das ändert sich auch nicht, wenn einmal für kurze Zeit einige Zocker am Ölmarkt um Hilfe schreien, weil sie fürchten, von einem Rohöltsunami weggeschwemmt zu werden, den sie selber auf sich gelenkt haben und nicht mehr stoppen können.

Ich nehme mir vor, in den nächsten Tage Martine in Südfrankreich anzurufen. Von ihr kam an einem der frühen Märztage der erste wegen Corona besorgte Anruf. Das letzte Mal in der „aktuellen Krise“ mit ihr telefoniert habe ich dann nach Ostern, also vor bald einem Monat. – Martine wohnt allein im Haus ihrer verstorbenen Eltern, in einer ländlichen Gegend in der Nähe von Grasse, der Name der Stadt ist deutschen Lesern aus Patrick Süßkinds „Parfüm“ bekannt als Herkunftsort des Grenouille. Die Eltern waren erst mit dem Eintritt des Rentenalters aus der Normandie in den Süden gezogen. Eine kleines Haus im Bungalow Stil in der typischen Leichtbauweise des Midi, wegen der Hanglage zusätzlich noch eine winzige Souterrain Wohnung. Dafür ein gar nicht so kleines Gartengrundstück, wo sich Martine im Freien die Füße vertreten kann, ohne Berechtigungsbillet in der Tasche, wie es die strenge französische Ausgangssperre, das Confinement, verlangt.

Heute ist der 8.Mai. Während das nicht einmal feststehende und daher bislang gar nicht datierbare Corona-Ende noch um viele Monate überhaupt von einem ersten Jahrestag entfernt ist, jährt sich das Kriegsende nach dem Zweiten Weltkrieg an diesem 8.Mai schon zum 75.Mal.

Durchaus passend koinzidiert in diesem Jahr der „Tag der Befreiung“ mit dem Dank der soeben begonnenen Lockerungen wiedergewonnenen „Gestaltungsmöglichkeiten“. Man kann diesen Begriff nicht deswegen aufgeben, weil er sich kontaminiert anfühlt durch eine missbräuchliche Verwendung seitens eines in die Politik verirrten Hobbyornithologen, der alles über die Vogelwelt und ihre Ausscheidungen zu wissen glaubt. Womöglich noch von der Wissenschaft den Nachweis erwartet, dass auch der Covid-19- Erreger von einem „Vogelschiss“ herrührt.

Zeit für die monatliche Presseschau, meine intellektuelle Blütenlese. Wer nichts zu sagen hat, dem hilft ein Wortungeheuer aus der Verlegenheit. Wie Otto-Normalverbraucher gelegentlich einen Darmwind fahren lässt, so sondert der gewitzte Medienintellektuelle einmal kurz einen Neologismus ab – z.B. „medico-kollektivistische Diktatur (Sloterdijk) oder „Hygienismus“(Markus Gabriel) – und landet mit seinem flatus vocis auf den Titelseiten der Feuilletons. Und wo kein Begriffsungetüm zur Hand ist, tut es auch ein bizarrer Vergleich, uns den argumentativen K.O.-Schlag zu versetzen. „Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte …“, so Georgio Agamben in der NZZ. Was ist das? Ein intellektueller Gedankenbeitrag, der zur Aufhebung der Altensegregation beiträgt, indem er die auch mit Corona nicht zu rechtfertigenden Isolierpraktiken skandalisiert? Oder lediglich der Umstand, dass den Theoretiker des „nackten Lebens“ einzig die Aufmerksamkeitsdividende interessiert? – Womit ließe sich der intellektuelle Scharfsinn beim nächsten Mal noch toppen? Vielleicht mit einer Feststellung wie der des südkoreanischen Staatspräsidenten, nachdem sich Meldungen einer erneuten Ansteckungswelle aus dem Seouler Nachtleben heraus bestätigt haben:„Es ist erst dann vorbei, wenn es vorbei ist.“ Weisheit des Ostens wie sie im Buche steht oder wie der Gebildete sagen würde, „ex oriente lux“.

Dann meldet sich auch noch der Vermieter

Odo Marquards zungenbrecherisches Begriffskompositum „Inkompetenz-Kompensations-kompetenz“ zählt zu den wenigen luziden seiner Gattung. „Inkompetenz-Kompensationskompetenz schält sich mehr und mehr als die Schlüsselkompetenz der Intellektuellen, sprich der intellektuellen Überflieger, heraus unter den Bedingungen funktioneller Differenzierung und ihrer Nachfrage nach Expertenwissen. Anders als das a priori limitierte, bereichsspezifisch beschränkte Expertenwissen, dessen je aktuelle Expertise – das Beispiel mit der Virologenexpertise im Verlauf der Pandemie – sich schon morgen durch neue Erhebungsdaten oder Studien als widerlegt, „falsifiziert“, erweisen kann, scheinen sich die Einfälle und Kommentare der Intellektuellen immer schon in die höheren Sphären empirischer Nichtbelangbarkeit entzogen zu haben, brauchbar bestenfalls für ein sinnverleihendes Framing und assoziationsreiches Storytelling. – Es sei denn, die Intellektuellen brächten Erfahrungen aus der Lebenswelt zur Sprache, welchen andernfalls die öffentliche Artikulation versagt bliebe. Aber die tonangebenden unter den Intellektuellen, diejenigen, die gehört werden, mit Zugang zu den prominenten Medienformaten, sind selber in einer privilegierten Lebenswelt situiert, fernab solcher Lebenswelten an den Rändern der Mehrheitsgesellschaft oder auch nur abseits der neuen akademischen Mittelschicht, von woher der Transfer in die allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung geschehen müsste. Beispielsweise unserer eigenen in Staufens „Hinterstädtchen“, durch dortige Umstände und Vorgänge sozial und psychisch depraviert, wie dies das Diminutiv am allerwenigsten vermuten lässt.

Eine Mail unseres Vermieters, dass wir ihm „Zutritt zur Wohnung erlauben, um die Mietwohnung in Augenschein zu nehmen ...“ Die dem Eigentümer nach einer gewissen Dauer des Mietverhältnisses zustehende Routinebegehung, „selbstverständlich mit den derzeit gebotenen Abstandsregeln und dem Mund-und Nasenschutz“. Silvia in hellem Aufruhr, nicht das jetzt noch. Bei ihr und mir liegen die Nerven blank. Maskierten Eigentümern Zutritt zur Wohnung gewähren, damit sie in den Ecken herumschnüffeln, unseren Intimbereich inspizieren… Gefühle sind nicht rational, aber sie kommen auch nicht von ungefähr. Da bereits etliche Grundrechte auf ungewisse Zeit unter Coronavorbehalt stehen, aufgehoben oder eingeschränkt sind, was schützt uns davor, dass nicht demnächst auch die „Unverletzlichkeit der Wohnung“ nur mehr bedingt, mit der Einschränkung regelmäßiger Inspektionen, gilt?

Gefühlt kann für Silvia und mich schon seit langem von Unverletzlichkeit der Wohnung und des Wohnens schwerlich noch die Rede sein. Für uns kein ungehindertes „Begehen“ der Gasse vor dem Haus, kein Zutritt zur eigenen Wohnung ohne Belästigung und Beleidigung möglich. Keine Anwohner, die einschreiten. Silvias Alpträume, in denen uns der Stalker nicht nur draußen nachstellt, außerhalb der Wohnung. – Nichtzuständigkeit unseres Wohnungseigentümers. Wie er uns auch jetzt nochmals wissen lässt in seiner Mail, er „auf das Verhalten der Nachbarschaft nicht einwirken kann“. Unsere Bitte, aus gesundheitlichen Gründen vorerst von einer Wohnungsbegehung abzusehen, wird akzeptiert. Der Eigentümer, eigentlich die Eigentümer – ein Ehepaar, das im Vorort Grunern wohnt, Staufens „besserem Viertel“ – möchten uns jedoch vorsorglich „auf die im Mietvertrag geregelte Bodenpflege hinweisen“.

Darüber, was das konkret heißt, eine sozial und psychisch depravierte Lebenswelt, wenn Corona oder auch nur ein Wohnungseigentümer sie zusätzlich unter Stress setzt, wird man von öffentlichen Intellektuellen nichts hören, weil sie, milieubedingt, keinen persönlichen Erfahrungszugang zu diesen Lebenswelten haben. Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach haben für den Luchterhand-Verlag in zwei Telefonaten, vormittags und nachmittags eine Stunde, auf die Schnelle ein intellektuell hochkarätiges Corona-Gespräch heruntergehaspelt. Mit langen Thukydides-Passagen, so die Rezensentin, wie man sie mal nicht so eben aus dem Ärmel schüttelt, ergo per copy and paste unauffällig hinzu montiert. Von Schirach habe zudem gerade seine brandaktuelle Coronastory fürs Fernsehen abgeschlossen, im Mittelpunkt ein krimireifer Triage-Showdown zwischen einer topfitten Vierundneunzigjährigen und einem Dreiundzwanzigjährigen mit Vorerkrankungen und also miserabler Prognose. Im Übrigen empfinde auch er, Ferdinand von Schirach, sich durch Corona in Mitleidenschaft gezogen, gewöhnlich schreibe er im Café, dass dies zur Zeit nicht möglich ist, mache ihm schon etwas aus…

Die zweite Maiwoche, an ihrem Ende, schon Monatsmitte. Wegen der Eisheiligen und nicht dem Virus muss man sich noch einmal warm anziehen, die „kalte Sophie“ lässt grüßen.

Montag ist der 11. Mai gewesen, ich habe endlich Martine in Südfrankreich angerufen, um ihr zu gratulieren. Geburtstag hatte sie bereits im April, nein, es ist wegen dem Lockerungsbeginn in Frankreich an diesem 11., herzlichen Glückwunsch! – Aber es besteht dann doch kein Anlass, Martine trauert den stillen Tagen des „confinement“, der Ausgangssperre hinterher. Zwischen fünf und sechs Uhr in der Frühe sei sie heute draußen gewesen, herrlich das Vogelgezwitscher, kein Mensch unterwegs. Später im Ort seien alle schon wieder wie die Hühner durcheinander gelaufen. Dem ist zu entnehmen, dass sich die Franzosen im Lockerungsfieber nicht viel anders verhalten als die Leute hier. Etwas aus der schönen Zeit, sagt sie, bleibe ihr vorerst erhalten, ihre netten Nachbarn bringen ihr weiterhin die paar Sachen, die sie zum Leben braucht, vom „drive-in“ im Supermarché mit, solange sie ihnen kein Zeichen gibt, hat sie regelmäßig und zuverlässig eine Nachricht von ihnen auf dem Handy, die Einkäufe stünden vor ihrer Tür.

Martine ist wirklich bescheiden. Als in der Anfangsphase der Pandemie alle Welt Klopapier und Nudeln gehortet hat, deckte sie sich mit nahrhaftem Körnerzeug ein, was mich bei ihrem ersten Anruf im März einen Moment lang an die Paralleluniversum der „Prepper“ denken ließ, die müssten jetzt eigentlich einen Zulauf verzeichnen. Aber recht hatte sie, gestern hörte ich im Radio, dass die einzige im Alter nachweislich anschlagende Gesundheitsdiät darin besteht, weniger zu essen, dafür jedoch um so nahrhaftere Sachen. Irgendwie bin ich als Schüler diesbezüglich schon mal auf dem richtigen Weg gewesen, wenn ich mir beim Kinobesuch die Tüte „Studentenfutter“ mit ins wohlige Dunkel der kinematographischen Gebärmutter nahm, bloß, dass die bereits in der Mitte des Films leergefuttert war und „Die glorreichen Sieben“ oder „Spiel mir das Lied vom Tod“ noch lange nicht zu Ende.

Coronical correctness

Auf alle Fälle von ihr, Martine, keine Hiobsbotschaften oder Horrorgeschichten von Leuten aus ihrem weiteren Bekanntenkreis. Ähnlich wie bei uns auch bei ihnen im Fernsehen heftiges Debattieren über das Prozedere der Lockerungsmaßnahmen, für jedes Kind in der „école maternelle“, der Vorschule, müssten ab sofort vier Quadratmeter Raum gewährleistet sein, wo die kleine Marianne doch nichts Eiligeres zu tun habe, als nach dem lang ersehnten Wiedersehen ihren Kameradinnen um den Hals zu fallen. – Ich fürchte, die wirklich anstrengende und nervlich aufreibende Zeit im nicht terminierbaren „Coronaschlauch“ hat gerade erst begonnen. Dieses „Fahren mit angezogener Handbremse“, die „coronical correctness“, ein kontrollierter Alltag, dessen sozialem Miteinander oder auch bloß Nebeneinanderher, die Spontaneität und alle Unbefangenheit abhanden gekommen ist. Die einen bekommen in kürzester Zeit den Kontroll-und Regulationskoller – wie Klaus Peymann, der, zum Tod von Rolf Hochhuth befragt, sich in Rage redet darüber, „wie die Theater jetzt niedergemacht werden“, gegen Merkels politisches Gesundheitsregime vom Leder zieht, das sich anmaßt, zu entscheiden, ob, wann und wie Theater gespielt werden darf.

Die anderen, zu denen ich mich selber rechne, reagieren mit Resignation und Lethargie auf die gefühlte Endlosschleife einer im Lockerungskrampf erstarrten neuen Normalität. Mir kommt dazu der Ausdruck „Corona-Cafard“ in den Sinn. Ich entsinne mich, wie ich, das ist 25 Jahre her, Martine über die Bedeutung des Ausdrucks „Cafard“ befragte, den E.M. Cioran in einem Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs gebraucht und zur Charakterisierung seines existenziellen Grundgefühls herangezogen hatte. Man ist „irgendwie deprimiert“, so Cioran, eine tägliche Verzweiflung, „auf französisch gibt es den Ausdruck cafard, das ist eine Art von – es gibt kein deutsches Wort dafür, Katzenjammer oder so gibt es… das Gefühl, verdammt zu sein“. – Martine meinte damals, „cafard“ sei nicht sehr gebräuchlich, aber jeder wisse ungefähr, was ein anderer damit meint. Mit den neuen Normalitätszwängen wird es nicht lange brauchen, vermute ich, bis jeder ungefähr weiß, was mit Corona-Depression bzw. mit meinem Corona-Cafard gemeint ist.

Ich frage Martine, ob sie noch Haikus macht, die Frage liegt mir auf der Zunge, ob sie nicht auch mal mit Corona ein Silbengedicht machen will. Sie sei inzwischen an etwas anderem, sagt sie aber, in der Schreibwerkstatt hätten sie sich ein Sujet aus der Biographie vorgenommen. Sie schreibe an einer Geschichte aus ihrer Freiburger Zeit, es überrasche sie, wie viele Straßen-oder Cafe-Namen von dort ihr mittlerweile nicht mehr einfallen, zu Recherchezwecken notiere sie ein paar Stichworte für ihren nächsten Freiburgbesuch. Als ich ihr von meinem Coronatagebuch erzähle, landen wir dann doch wieder beim Topthema. „Was sind das für Idioten, die da bei euch demonstrieren, diese Komplottleute?“ Sie meint die Verschwörungstheoretiker, im sonst so demonstrations-und randalefreundlichen Frankreich hat man für so etwas derzeit offenbar wenig Verständnis. Ich versuche mich an einer holprigen „Unterscheidung der Geister“, hie die „echt Besorgten“, viele Grüne und Ökos darunter, da die „Wirrköpfe“ und die „rechtsextremen Scharfmacher“, die den „berechtigten Unmut der Bürger“ für sich ausschlachten…

Ein „resilientes Korrektiv“ nennt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard, was sich da gerade als Bürgerprotest und Aufbegehren regt. Die auch wissenschaftlich solid klingende Formel „resilientes Korrektiv“ – gegen die möglicherweise zu bereitwillig von einer verängstigten Majorität hingenommenen Freiheitsbeschneidungen durch die regierungsamtlich verhängten Coronamaßnahmen – gefällt mir als vorläufig optimistischer Deutungsvorschlag, auch wenn ich mich selber nicht in der Rolle eines Demonstrierenden auf den Cannstatter Wasen bei Stuttgart oder irgendwo anders vorstellen kann, inmitten einer so gemischten Versammlung mit allenfalls anderthalb Metern Sicherheitsabstand zu den neben mir laufenden „Verschwörungstheoretikern, Antisemiten und radikalen Impfgegnern“, von denen in den Nachrichten die Rede ist. Ich ziehe es vor, zuhause zu bleiben und zunächst einmal das „resiliente Korrektiv“ machen zu lassen. Für letzteres spricht sich auch Heribert Prantl sich mit Vehemenz aus, wenn er im Ton äußerster Besorgnis seine Irritation darüber kundtut, wie glatt das mit den Grundrechtseinschränkungen über die Bühne gegangen ist. Die Grundrechte hießen deshalb so, weil sie unter allen Umständen zu gelten hätten und keinesfalls unter irgendeinen Krisenvorbehalt gestellt werden könnten, vielmehr erst recht in Zeiten der Krise uneingeschränkt in Kraft bleiben müssten. Und wie sie auch genauso für Linksradikale und Rechtsradikale gelten, ob es uns gefällt oder nicht.

Nicht minder als der politisch eindeutig rechtsextreme Sumpf – der ja einigermaßen überschaubar je nach Zählweise auf ein zehn bis fünfundzwanzig prozentiges Potential an „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, Antisemitismus und Rassismus in der Gesamtbevölkerung leider rechnen kann – irritiert und beunruhigt mich die nicht bezifferbare, wohl aber nicht geringe Anzahl partiell wirrer oder verwirrter Köpfe. Intellektuell und kognitiv Depravierte oder Regredierte, die, weil sie nur mehr Textschnipsel auf ihrem Smartphone zu lesen gewohnt sind, zusammenhängende Texte nicht mehr lesen, geschweige denn ihren Inhalt verstehen können. Ist dies bei den Betreffenden nicht die beste Voraussetzung dafür, sich von der anonymen Hetzmeute vereinnahmen zu lassen, wie sie sich in den einschlägigen sozialen Netzwerken austobt. Dieses unheimliche Gemisch aus Bösartigkeit, Niedertracht, Missgunst, blankem Hass und Rachegelüsten. Menschliche Biowaffen, deren Explosion in der Offline-Realität man sich nicht ausmalen mag, ihrer Online-Giftemissionen allein sind gruselig genug. Aggressive Risikoträger für die humane Substanz des sozialen und politischen Zusammenlebens, deren Bedrohungspotential hinter der von den Virusträgern ausgehenden Gefahr für Leib und Leben kaum zurücksteht. Die unkalkulierbare Paranoia von nebenan, deren Unheimlichkeit die der literarisch aufbereiteten Paranoia in einem Pynchon-Roman um einiges übersteigt. Leute, die derart vernunftresistent davon überzeugt sind bzw. ihrer filterblaseninduzierten Paranoia folgend fürchten, Bill Gates wolle ihnen ein Chip unter die Haut pflanzen, so dass man ernstlich fürchten muss, sie haben schon ihren Chip, nicht den unter Haut von Bill Gates, aber einen im Hirn und der spielt tatsächlich ganz schön verrückt.

Zweite Maihälfte. Maikäfer flieg, es geht auf Himmelfahrt zu.

„Der internationale Flugverkehr liegt am Boden“, dämpft Außenminister Heiko Maas allerdings vorerst die Erwartungen. Fußballfans haben dafür ab sofort die Alternative, das Geisterspiel ihres Lieblingsclubs in der Glotze zu verfolgen, denn wie Die Welt schreibt, „auch vor leeren Rängen gibt es packende Zweikämpfe“. Wo ich schon bei der Sparte „Vermischtes“ bin: Kulturstaatsministerin Grütters hat noch einmal in Sachen Systemrelevanz des Kunst-und Kulturbetriebs nachgelegt. „Die Demokratie braucht, auch wenn sie gesund ist, ständige Beatmung. Die Freiheit der Kunst verschafft der Demokratie überlebensnotwendigen Sauerstoff.“ Über diese famose Notbeatmungstheorie der Demokratie hat sich Patrick Bahners in der FAZ gleich gehörig echauffiert, mein Kommentar erübrigt sich. – Doch um die Staatsministerin nicht im Regen stehen zu lassen: Wie wäre es mit einem Zitat von Julian Barnes für ihre nächste Sonntagsrede? „Die Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das man durch den Lärm der Zeit hören kann.“ Das mythische Raunen, das man durch die Syntax diese Satzes vernehmen kann, hat zwar auch nicht sonderlich viel Substanz (im Unterschied zu Julian Barnes ansonsten sehr schönem Schostakowitsch-Buch), aber es brächte mal eine Abwechslung zum Atem-und Beatmungsgeraune. „Der coronagerecht zurückgefahrene Kunstbetrieb ist das Flüstern der Geschichte, das man durch den Lärm der Coronazeit hindurch hören kann.“

Vom Parnass des höheren Blödsinns zurück in die Niederungen des gewöhnlichen. Wäre schön, ja, aber hat nicht sein sollen. Maikäfer flieg, draußen vor der Tür ist Krieg. Oder sagen wir „wie im Krieg“. Nicht vom alltäglichen homo homini lupus der neoliberal konditionierten Subjekte, der „unternehmerischen Selbste“, spreche ich, davon war an früherer Stelle die Rede. Vom bellizistischen Gebaren der Autonomiesubjekte dem nicht so heißen dürfenden Krieg zwischen uns Hyperautonomen, die ihr Leben im Modus der unbedingten Selbstbestimmung und des eifersüchtigen Vergleichs untereinander permanent optimieren und diesem kriegerischen individuellem Überlebensfortkommen alles unterordnen, demgegenüber alles als nachrangig betrachten, was sonst um sie her vorgeht und als potentieller Störfaktor ihnen in die Quere kommen könnte.

Maikäfer flieg

Diesen vorderhand mentalen „Krieg aller gegen alle“ meine ich jetzt nicht mit jenem Maikäfer flieg, vor unserer Haustür ist es wie im Krieg. Was also ist passiert? Unser Verfolger aus der Nachbarschaft hat zugeschlagen, dieses Mal, horribile dictu, „tätlich“ auch im strikt juristischen Wortsinn. – Silvia musste in der Gasse auf dem Weg zur Haustür unter seinem geöffneten Fenster vorüber und in diesem Augenblick hat er von oben eine Flüssigkeit auf sie gegossen mit den Worten. „Das hast du dein Corona“. Es geschah gegen halbeins, Silvia war kurz zum Auto, wir parken unseren Fiat Panda immer mindestens zwei Straßen weiter, beim Haus geht nicht wegen der Enge und der „Sicherheitslage“ für uns, sie holte drei Flaschen Wasser, den ganzen Kasten in die Wohnung schleppen ist zu schwer für sie, als sie aus dem Haus trat, war das Fenster gegenüber noch geschlossen. Ich bin in unserer Wohnküche, als unten die Haustür aufgeht und gleich wieder heftig zugeschlagen wird. Dann höre ich im Flur Silvias Stimme, durch die Brandschutztür zu unserer Wohnung ihr lautes Schluchzen, ihr ersticktes Rufen um Hilfe und dass „der“ etwas über sie geschüttet hat … Und da bin ich es auch schon, der schreit, dieses verzweifelte, beinahe unartikulierte Schreien, etwas in der Art, „was soll ich denn jetzt machen, hilft uns denn keiner...“

Der Mieter über uns kommt heruntergelaufen, ich höre ihn „beruhigen Sie sich doch“ zu Silvia sagen und dann wieder die Stiege zu seiner Dachwohnung hinaufrennen, wo er das Fenster öffnet und zu dem Nachbar hinüber schreit, „damit hörst du mir sofort auf“, jetzt sei Schluss, das mache er nicht noch einmal. Es ist das erste Mal überhaupt, dass wir ihn dies so deutlich sagen hören, an die Adresse dessen gerichtet, der uns seit Jahr und Tag nachstellt. – Ich halte Silvia die schwere Stahltür auf, damit sie herein kann mit den Wasserflaschen im Rucksack, die feuchten Schuhe schon abgestreift, auch die Hose und Jacke nass, beschmutzt, sie zittert am ganzen Körper. Fürchtet, dass auch Spucke oder Kotze in der Flüssigkeit gewesen ist, die er aus einem Becher über sie geschüttet hat.

Der „Vorfall“ hat sich am 16. Mai ereignet, einem Samstag. Die Polizeidienststelle in Staufen ist nicht besetzt, der Anrufbeantworter verweist uns an die Dienststelle Müllheim. Der Diensthabende dort notiert Silvias Angaben zum „Tathergang“, er werde das gleich anschließend an die Dienststelle in Staufen weiterleiten, bei der wir Montag früh wieder anrufen sollen. Ein freundlicher Mensch, er meinte von sich aus, das sei ja „ekelhaft“, sagt Silvia. – Montagvormittag ist telefonisch kein Durchkommen bei der Polizeidienststelle Staufen. Am frühen Nachmittag endlich wird uns am Telefon bestätigt, die Meldung vom Samstag aus Müllheim sei eingegangen und ein Herr Wenk (Name geändert) mit der Bearbeitung befasst, er ist jedoch nur vormittags in der Dienststelle erreichbar, wir hinterlassen unsere Telefonnummer, damit er anderntags zurückrufen kann. Dienstagvormittag schildere ich Herrn Wenk – ein junger Beamter, neu in der Dienststelle, an den deren Leiter Herr Liebenach (Name geändert), mit dem Silvia bereits die Woche zuvor ein längeres Gespräch über unsere Situation geführt hat, unsere Angelegenheit abgegeben hat – die Ereignisse vom Samstag noch einmal, da aus der Meldung der Dienststelle Müllheim die Einzelheiten für ihn wohl nicht ersichtlich sind und bekunde ihm unsere Absicht, Strafantrag zu stellen. Das könnten wir machen, sagt er, er schicke uns das entsprechende Formular zu. Auf meine Frage, wie es dann weitergehe, erwidert er, das werde eine Weile dauern und in dieser Zeit werde er auch irgendwann „den Betreffenden“ zu der Sache befragen.

Sein Tonfall lässt erkennen, dass für ihn die Angelegenheit fürs erste geregelt oder abgeschlossen ist. Trotzdem hake ich mit meinem „Aber-Satz“ nach, der mir die ganze Zeit auf der Zunge liegt, was wir „aber“ jetzt machen sollen, wir könnten ja nicht vor die Tür, ohne uns der nächsten Attacke auszusetzen. Sein „Kontakt vermeiden, was anderes gibt es da nicht“, kommt wie aus der Polizeipistole geschossen und in seiner Stimme schwingt eine leichte Belustigung mit über den älteren Herrn, dem er das erst noch sagen muss. Und um mich zu beruhigen, als ich zu einem erneuten „aber“ ansetze, fügt er hinzu, „es ist ja noch nichts passiert und solange das nicht der Fall ist, lässt sich jetzt über ihren Strafantrag hinaus nichts tun“. – Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich daraufhin das mit den Aschenbechern noch zu ihm gesagt habe. Die beiden Aschenbecher auf dem Fenstersims des Nachbarn, einer aus Glas und der andere aus Metall, wie Silvia mir versichert hat. Ob ich also den jungen Beamten wirklich noch gefragt habe, „also müssen wir warten, bis uns das nächste Mal ein Aschenbecher die Schädeldecke einschlägt, damit dann endlich der Fall eingetreten ist, dass etwas passiert ist...“

Das war Dienstag früh. Nachmittags öffnet Silvia zum Lüften einen Spalt breit das Fenster, als ihr von gegenüber die Ansage entgegenschallt, „das nächste Mal sind es fünf Liter...“ Wir dürfen uns also entspannen, das mit den Aschenbechern hebt er sich allem Anschein nach für einen späteren Zeitpunkt auf. – Wenn die protektive oder Schutzfunktion des Staates, hier der Polizeibehörde, in der konkreten Bedrohungslage vor unserer Haustür praktisch entfällt, sehen wir uns wieder auf die zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten verwiesen, dass Nachbarn, Freunde, Bekannte etwas zu unserem Schutz beitragen. Womit wir seit fünf Jahren alles andere als ermutigende Erfahrungen gemacht haben. Der Mieter über uns, der unmittelbar nach dem Anschlag einen Moment lang überraschend Flagge gezeigt hat, lässt sich tags darauf auf der Gasse gegenüber einem Nachbarn bereits wieder mit den Worten vernehmen, das stinke ihm allmählich, er werde da in etwas hineingezogen, mit dem er nichts zu tun habe. Wir überlegen, im Hörgeräteladen zu fragen, er befindet sich im unter unserer Wohnung gelegenen Parterre des Hauses und von dort gibt es einen direkten Durchgang in den Flur. Silvia berichtet, was geschehen ist und hat noch nicht ihre Frage gestellt, als die Angestellte sie schon auffordert, den Laden zu verlassen, „Ihre Aggressionen möchten wir hier drinnen nicht haben...“

„Identifikation mit dem Aggressor“ hat Freud diese primitive Seelenreaktion genannt: Dritte, die statt gegen den Täter oder den Angreifer vorzugehen, das Opfer zum Schuldigen oder Urheber der Gewalt erklären und nun ihrerseits auf es „einprügeln“ oder es wie eine lästige Fliege verscheuchen. Daneben begegnen Silvia und ich auch der milden Variante dieser identifikatorischen „Tätermimesis“, dem verstehenden Sich-Hineinversetzen-Können in den Aggressor. Eine Freundin Silvias, in der Altenpflege tätig, meinte, „die“ hätten das so an sich, „diese aggressive Art“, man müsse ihnen halt entsprechend „ausgeben“. – Ähnlich reagierte eine Bekannte von mir, als ich ihr vor Jahren von ersten Verbalattacken des Nachbarn auf mich berichtet habe, „ja, gell“, sagte sie, „das will einfach auch raus...“, so ihr einziger Kommentar.

Seither ventiliere ich von Zeit zu Zeit aus dem stets selben trostlosen Anlass in meinem Kopf die Frage, wie diese beflissenen Täterversteherinnen – ja, es sind in der Tat meistens Frauen mit einem sozialpädagogischen Background und dem dazugehörigen küchenpsychologischen Beipackzettel, böse gesagt – wohl auf gewisse Vorgänge im Deutschland der 1930er und 1940er Jahre reagiert haben würden. Sie hätten womöglich gesagt, „so ein SS-Mensch und mehr noch ein einfacher SA-Mann kann nicht anders, er muss einfach einem Juden die Fresse polieren, das ist seine Art, sich selbst auszudrücken, „das will halt auch raus...“ – Ist diese Frage bzw. dieser Vergleich ungerecht, unpassend, übertrieben, maßlos und also letztlich ungehörig? Ich würde es mir nur zu sehr wünschen. Bloß, das wirklich unheimliche bei dieser gedanklichen Assoziation ist, egal wie ich mir das Hirn zermartere, ich finde nicht einen einzigen verlässlichen Anhaltspunkt für die Legitimation solch einer Beruhigung oder Selbstbeschwichtigung.

Die letzten Maitage sind angebrochen. Es werden voraussichtlich doch nicht die letzten Tage der Menschheit sein. Unter Lockerungsoptimisten macht ein Lied die Runde, eine Variation auf den alten Karnevalsschlager „am 30. Mai ...“ Es geht so, „Am 30. Mai ist kein Weltuntergang, mir läbe noch ganz lang, mir läbe noch ganz lang ...“

Heute ist wieder Samstag, genau acht Tage sind vergangen, seit dem Corona-Attentat auf Silvia. Das Strafantragsformular, das uns die Polizeidienststelle per Mail zuschicken wollte, ist noch nicht eingetroffen, wegen Überlastung, nehme ich an, Bagatellfälle wie der unsere müssen hintanstehen. – Eine Schwester von Silvia meinte am Telefon, sie hätte die bekleckerten Sachen, Hose, Schuhe und Jacke nicht gleich in einen Müllsack stopfen und diesen im Müllcontainer versenken sollen, sondern für den Fall einer DNA-Spurenprobe aufbewahren. Ein Bekannter aus Staufen, der schon lange die Auffassung vertritt, andere könnten für uns nichts tun, wir könnten das nur selbst, schrieb Silvia in einer Mail „Hans-Willi soll ruhig mal mit seinem Blindenstock um sich schlagen, wenn der euch wieder bedrängt“.

Nun weiß ich wirklich nicht, wie ich nach dem Anschlag vor einer Woche das nächste Mal draußen reagieren würde, wie das dann ausginge, auch ein noch so in sich ruhender Yogi ist unter den obwaltenden Umständen irgendwann zermürbt. Und so bleibe ich jetzt notgedrungen drinnen. Nur Silvia wagt sich, wenn es gar nicht anders geht, für die allernötigste Besorgung vor die Tür. Sie hat fürchterliches Stechen in der Herzgegend. Ich hüpfe, um den Kreislauf in Gang zu halten, mehrmals täglich an dem Wohnungsfenster, das nicht zur Gasse hinausgeht, sondern zum Spital hinüber. Mein Geist hüpft mit, vorwärts und rückwärts in der Zeit. Vorgestern war Donnerstag, der Himmelfahrtstag. Auf ihn folgt in der Sukzession der christlichen Feiertage das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes. Geschieht vielleicht ein Pfingstwunder?

Den ersten Teil des Tagebuchs von Hans-Willi Weis lesen Sie hier

Den zweiten Teil des Tagebuchs von Hans-Willi Weis lesen Sie hier

Hans-Willi Weis, geb. 1951, ist Philosoph und Kulturwissenschaftler. Er lebt und arbeitet als freier Publizist in Staufen bei Freiburg im Breisgau. 2012 erschien seine Studie zu Wittgenstein, Heidegger, Adorno und Benjamin als Grenzgänger zwischen Denken und kontemplativer Versenkung unter dem Titel Denken, Schweigen, Übung – eine Philosophie des Geringfügigen

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