Mobilmachung eines Phantom-Staates

MAROKKO/WESTSAHARA Die UNO favorisiert eine Autonomie zugunsten Rabats - die Unabhängigkeitsbewegung "Polisario" einen neuen Waffengang

Über Jahre war Ibrahim Ghali eine bekannte Figur in der politischen Szene von Madrid. Der Mann aus der Westsahara, der 1975 reichlich kopflos aufgegebenen und umgehend von Marokko (im Süden von Mauretanien) besetzten letzten Kolonie Spaniens - er vertrat in der spanischen Hauptstadt die Frente Polisario. Jene Befreiungsbewegung also, die vor 25 Jahren die Demokratische Arabische Republik Sahara (RASD) proklamiert sowie in einem 16-jährigen Krieg gegen die neuen Okkupanten des phosphatreichen Wüstenstreifens an der Atlantikküste für diesen Staat gekämpft hatte. Bis heute eine virtuelle Größe, denn faktisch existiert der "junge Staat" noch immer nur in jenen Flüchtlingssiedlungen nahe der algerischen Grenzgarnison Tindouf, in denen gegenwärtig an die 150.000 Saharauis im Exil leben müssen.

Seit 1991 unter Federführung der UNO ein Waffenstillstand zwischen der marokkanischen Regierung und den RASD-Repräsentanten um den Polisario-Generalsekretär Mohamed Abdelaziz ausgehandelt wurde, sollte der Polisario-Mitbegründer und spätere RASD-Verteidigungsminister Ibrahim Ghali von der Capitale der vormaligen Kolonialmacht aus für den Staat im Exil die diplomatischen Kontakte zu Westeuropas politischen Entscheidungsträgern pflegen. Diesen Posten hat er nun verlassen. Ibrahim Ghali wird aller Voraussicht nach auch nicht so bald nach Madrid zurückkehren. Nun sei wohl wieder eher seine militärische Erfahrung gefragt, ließ er alte Bekannte aus dem Ausland wissen, die Ende Februar zur Feier des runden RASD-Jubiläums in das Polisario-Hauptquartier bei Tindouf eingeladen waren. Dort wurde aus diesem Anlass eine Militärparade zelebriert, die besonders eines beweisen sollte: Die Wüstenkrieger machen erneut mobil. Junge Saharauis, die zuletzt in Algerien oder Mauretanien, aber auch in etlichen westeuropäischen Staaten einem zivilen Beruf nachgegangen waren, haben dieses Dasein inzwischen aufgegeben, um in die Polisario-Militärbasen einzurücken. Angeblich ist die je etwa 15.000 Aktive und Reservisten zählende RASD-Streitmacht, die zumal in den achtziger Jahren der vom Westen großzügig aufgerüsteten Armee Marokkos immer wieder schmerzliche Schläge zugefügt hatte, schon wieder zu 80 Prozent einsatzbereit. Ein neuerlicher Krieg könnte somit jeden Tag beginnen.

Wenn es dazu kommt, dann ist das vor allem einmal ein Zeugnis für das Unvermögen oder den mangelnden Willen der Vereinten Nationen, diesen Konflikt dauerhaft beizulegen, obwohl die Weltorganisation scheinbar große Anstrengungen in diese Richtung unternahm. UN-Generalsekretär Kofi Annan nominierte für die Mission mit Ex-Außenminister James Baker immerhin einen politisch durchaus schwergewichtigen Sonderbeauftragten.

Der Lösungsansatz war einfach: Die betroffene Bevölkerung sollte in einem Referendum unter internationaler Aufsicht darüber abstimmen, ob sie Marokko zugeschlagen oder in ihrem eigenen Staat leben wolle. Ein erster Abstimmungstermin wurde bereits 1992 angesetzt. Doch die Volksbefragung musste seither immer wieder verschoben werden, weil sich die beiden Konfliktparteien nicht auf einen Zensus der Stimmberechtigten einigen konnten. So erklärte Marokkos Regierung einen großen Teil der in die Polisario-Lager geflüchteten Saharauis zu rechtlosen Ausländern und ernannte dafür eine sechsstellige Anzahl von Marokkanern, die beginnend mit dem von Hassan II. angeordneten "Grünen Marsch" des Jahres 1975 in Richtung Süden geschickt worden waren, zu autochtonen Saharauis.

Welche Entwicklung da vollzogen wurde, zeigen zwei simple Zahlen: Als die Spanier ihre Kolonie aufgaben, lebten dort ganze 75.000 Menschen. Nun hat die Westsahara laut marokkanischen Angaben beachtliche 250.000 Einwohner. Der vorerst letzte Verhandlungsstand für ein Referendum sah so aus, dass man sich provisorisch auf 86.381 Stimmberechtigte einigte. Doch Rabat wollte über 135.000 weitere hinzu reklamieren.

Da auch der ansonsten als flexibler Reformer gepriesene neue marokkanische König Mohamed VI. in dieser Frage keinerlei Kompromissbereitschaft erkennen lässt, beginnt Kofi Annan neuerdings von seinen eigenen Referendums-Plänen abzurücken und einen "dritten Weg" ins Spiel zu bringen: Die Westsahara soll endgültig Marokko eingegliedert, doch von Rabat mit gewissen Autonomierechten ausgestattet werden. Da sich die Marokkaner bis zu dem vom UN-Chefdiplomaten deklarierten Stichtag 28. Februar zu diesem Vorschlag nicht geäußert hatten, verlängerte Annan die Frist um zwei Monate. Nun ließ Rabat durchblicken, man könne über diesen Vorschlag reden, eine Verhandlungsgrundlage wäre er allemal.

Wohl nicht zufällig begann zugleich in der betroffenen Region eine seit langem sattsam bekannte Figur aktiv zu werden: Jalihenna Uld Rachid, der sich schon früher den Spaniern als politischer Repräsentant der Kolonialisierten angedient hatte, dann auf die Seite der Marokkaner wechselte und von diesen sogar vorübergehend zum Minister für Westsahara-Angelegenheiten ernannt wurde, sowie nunmehr als Bürgermeister der Regionalhauptstadt El Aaiun amtiert. Er brach umgehend zu einer Rundreise durch alle größeren Siedlungen des von Marokko kontrollierten Teiles der Westsahara auf, um für eine Autonomielösung zu werben sowie deutlich zu machen, dass "die Saharauis nicht allein von der Frente Polisario repräsentiert werden".

Wie verworren die Situation ist, zeigte vor allem eine der Reaktionen auf Uld Rachids Umtriebigkeit: In der Zeitung Al Ittihad al Ichtiraki, deren nomineller Chefredakteur Marokkos sozialistischer Premierminister Abedelraman Yussufi ist, wurden die Aktivitäten des Bürgermeisters als "gefährlich" verurteilt, weil sie Gegensätze zwischen den Bewohnern der Westsahara und allen anderen Marokkanern provozierten und damit "die Einheit Marokkos" in Frage stellen könnten.

Die Antwort war postwendend im algerischen Blatt Al Watan zu lesen, dem Polisario-Chef Abdelaziz erklärte: "Wir wollen keine Marokkaner sein und sind es müde, immer wieder hingehalten zu werden. Wir müssen wieder zu den Waffen greifen und an allen Fronten den Kampf gegen die Okkupanten erneut aufnehmen."

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