Im Freitag 17 vom 27. April hatte Regina General dem Vorwurf widersprochen, in der DDR sei eine tiefer lotende Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus vermieden worden. Sie verwies darauf, dass durch Schule und Erziehung, Kunst und Medien das Thema "Völkermord an den Juden" stets einen hohen Stellenwert besessen habe. Dem stimmte Karsten Laske in seinem Artikel (Freitag 21 vom 25. 5. 2007) zwar prinzipiell zu, hielt dem aber entgegen, dass "der Bodensatz des Antisemitismus in der DDR tatsächlich nie abgetragen wurde". Er führte dies vor allem auf ein Geschichtsbild zurück, das die sozialen - sprich: klassenbezogenen - Wurzeln des Antisemitismus verabsolutiert und damit das Volk pauschal entschuldet habe. In dieser Ausgabe antwortet der Hamburger Politikwissenschaftler Harald Schmid auf den Text von Regina General.
Die jüngst in Berlin von der Amadeu-Antonio-Stiftung präsentierte Ausstellung Das hat´s bei uns nicht gegeben! hat mit der darin aufgeworfenen Frage nach Ursachen und Reichweite von Antisemitismus in der DDR Debatten entfacht. Dies war zu erwarten und ist zu begrüßen. Fraglos lebte die antisemitische Mentalität in Deutschland auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort, allerdings mit dem Unterschied, dass entsprechende Ausschreitungen seit 1949 nur noch in der Bundesrepublik öffentlich wurden. Die in der Ausstellung titelgebende empörte Haltung Das hat´s bei uns nicht gegeben! kann somit auch als lebensgeschichtliche Spiegelung diktatorischer Verhältnisse verstanden werden, verweist aber zudem auf die generelle Spannung zwischen objektivierender wissenschaftlicher Forschung und subjektiven Erinnerungen.
Dass eine Gesellschaft, in der es antijüdische Vorfälle gibt, nicht pauschal mit dem Etikett "antisemitisch" versehen werden kann, versteht sich dabei von selbst, genauso, wie das Selbstbild des antifaschistischen Staates nicht automatisch auf eine damit deckungsgleiche empirische Realität schließen lässt. Dies kann nur geklärt werden, wenn Grundstrukturen des politischen Systems und der Gesellschaft berücksichtigt werden.
Allerdings hat die weitreichende Entwertung der DDR-Geschichte seit 1989/90 dazu geführt, dass die politische Kontroverse um die Neubewertung des ostdeutschen Antifaschismus oft als symbolischer Stellvertreterkonflikt um die Beurteilung der gesamten Geschichte des Realsozialismus ausgetragen wird. Antifaschismus gleichsam als Erst- und Letzt-Begründung von SED und DDR - darin liegt die ganze Schwierigkeit des öffentlichen, vor allem des linken Sprechens und Schreibens über diese Zeit deutscher Geschichte. Hierbei treffen Ost- auf West-Perspektiven, historische auf aktuelle politische Interessen, ebenso wie lebensweltliche Erinnerungen mit zeithistorischen Analysen konfligieren. Mit einem nostalgischen Antifaschismus-Bild, wie es Regina General im Freitag entworfen hat, reproduziert - und verharmlost - man freilich eher alte Klischees aus dem Selbstdarstellungsarsenal der ehemaligen Staatspartei.
Ein grundlegender Maßstab in der Entwirrung des "komplizierten Dreiecksverhältnisses von Antifaschismus, Antisemitismus und Antizionismus" (Angelika Timm, s. Fußnote mit Literaturverzeichnis) ist die internationale historische Forschung. Beispielhaft erwähnt seien hier nur die Studien von Mario Kessler, Angelika Timm, Lothar Mertens und Thomas Haury. Auf auch nur eine einzige seriöse, ähnlich fundiert gearbeitete "Gegenstudie" wartet die zeitgeschichtlich-politikwissenschaftliche Forschung bis heute. Dies hat Gründe. Olaf Groehler, der hierzu die wichtigsten kritischen Beiträge aus den Reihen der ehemaligen DDR-Historiker erarbeitet hat, bemerkte 1993 zu seinen Archivrecherchen in diesem Zusammenhang: "Niemand glaube, diese Arbeit wäre befriedigend. Sie ist selbstquälend, gelegentlich auch selbstzerstörerisch, weil sie mit eigenen Illusionen und subjektiven Wahrnehmungen bricht, weil die eigene Erfahrung vielfach nicht in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Vorgängen zu bringen ist."
Jahrzehnte einer Eiszeit
Das Diktum vom "verordneten Antifaschismus" (Ralph Giordano) beschreibt ebenso historische Wirklichkeit wie die Rede vom gelebten Antifaschismus. "Wir Antifaschisten" (Erich Honecker) - mit dieser Selbstetikettierung war es der SED-Führung gelungen, eine ursprünglich auf den KPD-Widerstand gegen die NS-Verfolgung begrenzte Erfahrung auf die gesamte ostdeutsche Bevölkerung zu projizieren. Dieser politisch-historische Mythos, verstanden als sinnstiftende und machtpolitisch integrierende Erzählung, fungierte als schier unangreifbare Legitimitätsbasis und bildete für große Teile der Bevölkerung den Kern des politisch-historischen Bewusstseins. Der ahistorisch übersteigerte kommunistische Widerstand wurde mit der ganzen geschichtspolitischen Macht der Einheitspartei in den Mittelpunkt staatlicher Selbstdarstellung und Erziehung gestellt. Die Judenverfolgung wurde nicht verschwiegen, sie spielte - primär in der Fassung des SED-konformen Geschichtsbildes - in Schule, Literatur und Kunst eine beträchtliche Rolle, anders als in der Geschichtswissenschaft, die jüdische (Verfolgungs-)Geschichte bis Mitte der achtziger Jahre an den Rand drängte. Anders auch als in der staatlichen Repräsentationspolitik, in der das Thema erst seit Ende der siebziger Jahre langsam breiteren Eingang fand.
Warum aber hat die SED, die für sich stets in Anspruch nahm, den politisch-moralisch hochstehendsten, weil konsequentesten Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus zu praktizieren, den Staat der Auschwitz-Überlebenden ins Feindlager des Imperialismus gerückt und so lange Zeit bekämpft? Vor und noch kurz nach der Gründung der DDR hatte sich die SED um gute Beziehungen zu Israel bemüht. Und vor dem Ende der DDR versuchten die PDS und die erste frei gewählte DDR-Regierung, erneut positive Beziehungen zu Israel anzuberaumen. Dazwischen lag eine über drei Jahrzehnte währende Eiszeit im Verhältnis zu Israel und den Vertretern internationaler jüdischer Organisationen. Hat diese "Nicht-Beziehung" (Peter Dittmar) zwischen Ost-Berlin und Jerusalem Rückwirkungen auf Haltungen und Einstellungen zu Juden und Israel in der DDR-Bevölkerung gezeitigt? War der offizielle Antizionismus ein Medium antisemitischer Mentalität oder begünstigte er eine solche?
Während sich "Bonn" nachhaltig von einem offiziellen Philosemitismus und der deutschen Verpflichtung zu materieller und politischer "Wiedergutmachung" leiten ließ, dadurch aber lange Zeit die moralische Herausforderung des repressiven Umgangs Israels mit den palästinensischen Flüchtlingen und dessen Missachtung von UN-Beschlüssen ignorierte, trennte "Ostberlin" den Komplex "Israel" vollständig von der Frage einer fortwirkenden Verantwortung für den Nationalsozialismus ab. Die SED bejahte zwar das Existenzrecht Israels, verweigerte aber dem jüdischen Staat jegliche Kompensation für das NS-Unrecht. Unbeirrt etwa durch die immer wieder formulierten arabischen Vernichtungsdrohungen gegenüber Israel, vertrat sie die Sache des palästinensischen Volkes.
Dabei war die DDR weder eine bloße staatliche Souveränitätsattrappe, die nur am Faden der sowjetischen Vorgaben hing, noch war sie ein autonomer Staat, der frei über die eigene Politik hätte entscheiden können. Es gab politischen Handlungsspielraum, aber in bestimmten, sehr engen Grenzen. In der Politik gegenüber Israel ist dies greifbar. Die SED-Führung verfolgte zunächst eine pro-israelische Linie, wie sie Stalin mit seiner Unterstützung der Teilung Palästinas und der israelischen Staatsgründung in den Vereinten Nationen 1948 vorgab. Dazu gehörte die anfängliche Bereitschaft, eine materielle Wiedergutmachung für die Überlebenden der NS-Judenverfolgung in Aussicht zu stellen. Mit der Kehrtwende der sowjetischen Nahostpolitik, wie sie sich zwischen Korea-Krieg (1950), israelischer Westorientierung und Suez-Krise (1956) vollzog, schwenkte auch die DDR auf eine pro-arabische und anti-israelische Politik ein.
Für die SED hatte dabei die direkte Konfrontation mit der von Anfang an israelfreundlich agierenden Bundesrepublik stets eine besondere Bedeutung: staats- und außenpolitisch im Kampf um die internationale Anerkennung, geschichtspolitisch im Bemühen, sich als das andere, als das bessere Deutschland darzustellen. So war die Denunziation der 1952 beschlossenen westdeutschen Wiedergutmachungszahlungen an Israel als Camouflage tatsächlicher Militärhilfe für dieses "Werkzeug der Imperialisten" im "Kampf gegen die nationale Unabhängigkeitsbewegung der Völker des Nahen Ostens" (Neues Deutschland) sowohl Teil der sich formierenden DDR-Nahostpolitik als auch der sich von der westdeutschen "Vergangenheitsbewältigung" strikt abgrenzenden Antifaschismus-Doktrin.
Mit der "Ausrottung der Wurzeln des Faschismus" durch die sozialistische Staats- und Gesellschaftsgründung, der radikalen Entnazifizierung und den erbrachten Reparationen habe man das Bestmögliche zur Kompensation und zur Vermeidung jedweder Wiederholung getan. Dass die DDR sich im Kontext dieses "dicken roten Schlussstrichs" (Thomas Haury) anders als die Bonner Republik staatsrechtlich nicht als Nachfolgestaat des Dritten Reiches begriff, ermöglichte es, alle internationalen Wiedergutmachungsansprüche besonders Israels und jüdischer Organisationen propagandistisch elegant und wirksam an den Klassenfeind und scheinbar allein Verantwortlichen westlich der Elbe umzuadressieren. Man lasse sich - hieß es etwa 1973 bei Radio DDR - "mit dem heuchlerischen Gerede irgendwelcher besonderer Beziehungen zwischen Juden und Deutschen" nicht erpressen. Angelika Timm, vormals Mitakteurin und Insiderin der SED-Außenpolitik gegenüber Israel, hat deshalb zu recht festgehalten: "Aus dem antifaschistischen Credo erwuchs keine gesonderte Verpflichtung gegenüber den Juden."
Seit Anfang der fünfziger Jahre, spätestens zementiert mit dem Suezkrieg 1956, bestimmte die ideologische Wendung zum Antizionismus die Prämissen der DDR-Nahostpolitik. Die folgenden drei Dekaden waren bestimmt durch eine offene Konfrontationspolitik gegenüber Israel, verstärkt im Gefolge des Sechs-Tage-Krieges vom Juni 1967. Dabei tat sich die SED-Führung innerhalb der Staaten des Warschauer Paktes in zweierlei Hinsicht hervor: Sie zählte zu den frühesten und konsequentesten Unterstützern der PLO, und sie war oft in der vordersten Reihe aggressiver Propagandaangriffe gegen Israel. Den Gestaltungsraum nutzte die SED hier erkennbar in eine bestimmte Richtung - nicht der Mäßigung und des Ausgleichs, sondern der Verschärfung. Erst seit Mitte der achtziger Jahre versuchte sie, primär aus wirtschaftspolitischen Gründen, mit Israel zu einem besseren Verhältnis zu kommen.
Ein wichtiges Instrument im Rahmen dieser Annäherungsversuche war die großangelegte Gedenkkampagne zum 50. Jahrestag der Pogromnacht 1988. Nun durfte die gelenkte Presse auch über vormals tabuisierte Aspekte wie Antisemitismus und Neofaschismus - nicht in der Bundesrepublik, sondern in der eigenen Gesellschaft - schreiben. Selbst vereinzelte öffentliche Kritik am DDR-Antifaschismus war nun zu lesen, so etwa durch den Schriftsteller Stephan Hermlin in der Zeitung Junge Welt.
"Zionistisch-imperialistisch"
Die binnengesellschaftlichen Wirkungen der kanonisierten antizionistischen Haltung und der erkennbaren geschichtspolitischen Öffnung der achtziger Jahre sind nicht einfach zu konkretisieren, aber schwerlich zu unterschätzen. Die DDR war kein antisemitischer Staat, aber es gab Phasen und Elemente politischen Handelns, die man kaum anders einordnen kann. In der Interpretation dieser Aspekte im Hinblick auf die Gesamtgeschichte und Grundstruktur der DDR liegt die eigentliche zeitgeschichtlich-politische Herausforderung. Das bekannteste Beispiel markieren die Judenverfolgungen im Gefolge der antisemitischen stalinistischen Säuberungen besonders 1952/53, als Hunderte Juden fluchtartig den antifaschistischen Staat verließen, um nicht ins Räderwerk der Repression zu geraten. Zu erinnern ist auch an die heftigen Propaganda-Attacken gegen Israel, etwa im Rahmen des israelischen Präventivkriegs gegen Ägypten im Juni 1967 oder aus Anlass des Angriffs arabischer Truppen beim Oktoberkrieg 1973.
In diesen Auseinandersetzungen wurde oftmals eine Sprache benutzt, die historisch Sensibilisierten mitunter die Hetze gegen Juden in Erinnerung rufen musste. Simon Wiesenthal hatte dies bereits 1968 dokumentiert und kritisiert. Da wurde etwa der "Aggressorstaat" Israel in die Nähe der NS-Massenmorde und -Kriege gerückt ("israelische Wehrmacht", Blitzkrieg", "Konzentrationslager", "Massenpogrom", "Völkermord", "Genozid-Politik", "Generalgouvernement Jordanien") und in offen antisemitischer Konnotation eine "imperialistisch-zionistische Verschwörung gegen die arabischen Völker" angeprangert. Die Durchsetzung des SED-Antizionismus mit antisemitischen Stereotypen verweist auf einen Topos der jüngeren Antisemitismusforschung, die in der projektiven Täter-Opfer-Umkehrung eines der Kennzeichen des Antisemitismus nach Auschwitz erkennt.
Es geht nicht um simple Gleichheitszeichen, sondern um die Wahrnehmung vertrackter Kontinuitäten. "Der Antifaschismus als Grundkonsens war eine Säule des DDR-Staates", schrieb Regina General in ihrem Beitrag. Was diese "Säule" aber tatsächlich alles umfasste und stützte, sollte endlich zur Kenntnis genommen werden. Nochmals Olaf Groehler: "Der Aktenbefund spricht zwar für Differenzierung, aber auch für ein noch deutlicheres Urteil."
Der Autor ist Politikwissenschaftler in Hamburg. Zum Thema hat er unter anderem veröffentlicht: Antifaschismus und Judenverfolgung. Die "Reichskristallnacht" als politischer Gedenktag in der DDR, Göttingen 2004.
Literatur: Mario Kessler, Die SED und die Juden - zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995; Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997; Lothar Mertens, Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945 - 1990, Hildesheim u.a. 1997; Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002
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