Ein Kessel Buntes

Oder Was wollt Ihr? Das Schauspiel Chemnitz sucht seinen Weg und sein Publikum

Es gibt Aufführungen, deren Bilder und Töne für immer haften bleiben. Heiner Müllers Der Bau, 1986, von Frank Castorf in Karl-Marx-Stadt inszeniert, gehört dazu. Als Castorfs Maurerbrigade zur roten Fahne mit dem Lied Es gibt kein Bier auf Hawaii über und unter der rotierenden Drehbühne den Aufbau einer neuen Gesellschaft befragte, setzten sich Autokolonnen mit Theaterenthusiasten nach K.-M.-Stadt in Bewegung. Dessen Schauspiel besaß einen Namen und als Schauspieldirektor einen klugen, sozialistischen Ermöglicher: Hartwig Albiro, im gleichen Jahr 1971 ins Amt gekommen, in dem Lew Kerbels monumentaler Marx-Kopf aufgestellt wurde, hat in Chemnitz ein Ensembletheater mit gesellschaftlich nachfragenden Stücken entwickelt. Das Schauspiel gab immer wieder Schauspieler an die Hauptstadt ab - wie Ulrich Mühe, Gerd Preusche, Matthias Günther, Christian Grashof, Michael Gwisdek, Jörg Gudzuhn, Jutta Wachowiak und Cornelia Schmaus. Heute allerdings wird das Chemnitzer Schauspiel überregional nicht mehr beachtet, wie viele Bühnen mit großer DDR-Vergangenheit.

Nach der Wende haben die Chemnitzer zwar für ihre Stadt wieder den alten Namen gewählt, doch viele haben ihr auch den Rücken gekehrt. Denn die neue Zeit wurde nicht so wie die alte, als Chemnitz Zentrum der industriellen Revolution war und der Satz geprägt wurde, "In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig gehandelt und in Dresen geprasst". Von den 320.000 Einwohnern zu DDR-Zeiten sind mehr als 70.000 in die Ferne geschweift. Mittlerweile blüht die Industrie wieder auf, und die Stadt hat die Kriegswunden im Zentrum mit futuristischen Gebäuden aus Glas und Stahl geschlossen. Neben den neuen Konsumtempeln gibt es das Kultur-Kaufhaus "DAStietz", einen neoklassizistischen Bau von 1913 mit Galerie, Stadtbibliothek und Naturkundemuseum. Das sich einst gern als "Bayreuth Sachsens" darstellende Chemnitz erregt mit seiner Oper und seinen Städtischen Kunstsammlungen wieder überregionale Aufmerksamkeit, und der Marx-Kopf steht noch immer in der Straße der Nationen. Karl Marx ist ein touristischer Faktor geworden. Chemnitz wirbt für sich als "Stadt mit Köpfchen", und der sächsisch "Nischl" genannte Marx-Schädel ist zu kaufen: als Gipsnippes oder Schokoladenguss.

Das Schauspiel liegt abseits des Zentrums, am Rande des "Parks der Opfer des Faschismus". Bei einem Umbau, der - weil er fast doppelt so viel kostete wie veranschlagt - beinahe Generalintendant Rolf Stiska um sein Amt brachte, erhielt es ein schickes Restaurant und eine neue kleine Bühne mit 100 Plätzen neben der großen für 400 Zuschauer. Das Schauspiel steht auch nicht mehr im Zentrum gesellschaftlicher oder gar politischer Auseinandersetzungen, und anders als in kleinen Städten wie Zittau oder Senftenberg, wo Theater als alleinige Kulturangebote zum zentralen Ort der Kommunikation und Diskussion werden konnten, muss es sich in Chemnitz gegen vielerlei Kulturkonkurrenz behaupten.

Immerhin gab es Anfang der neunziger Jahre einige Aufsehen erregende Inszenierungen (und einen wegen Stasi-Verstrickungen ausscheidenden Intendanten). Armin Petras führte hier Regie und Herbert Olschok hat mit Stücken und Formen als Oberspielleiter ebenso experimentiert wie sein Nachfolger Manuel Soubeyrand. Doch das Publikum reagierte kontrovers, zwischen Begeisterung und Ablehnung. So geriet das Schauspiel in den Jahren nach der Wende fast in existentielle Not. Schauspieldirektorin Katja Paryla, einst Alexander Langs Protagonistin am Deutschen Theater, später Oberspielleiterin in Weimar, angetreten vor zwei Spielzeiten in Chemnitz mit der Absicht, nicht nur das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums zu bedienen, versucht nun, ein breites Spektrum von Geschichten und Erzählweisen zu bieten. In ihrer ersten Spielzeit verpflichtete sie für 13 Inszenierungen 11 Regisseure!

Chemnitz´ Schwierigkeiten und künstlerische Suchbewegungen sind die üblichen in einer ostdeutschen Theaterlandschaft, die durch ein gesellschaftlich und ästhetisch verunsichertes Publikum bestimmt wird. Selbst Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe, die in unseren neokapitalistischen Globalisierungszeiten eigentlich ein "Selbstläufer" sein könnte, hat in Chemnitz Publikumsprobleme. Ich sah Alejandro Quintanas bildkräftige Inszenierung zusammen mit nur 35 Zuschauern.

Johannas Bewusstwerdung wird von Sylvia Bretschneider als böser Prozess der Entindividualisierung gezeigt. Mit flammender Empörung und tiefer Emotionalität tritt sie an gegen die Kapitalisten, die sie als Propagandafigur missbrauchen, und gegen das falsche Verhalten von Kommunisten, die ihre Emotionalität nicht akzeptieren. Der Fabrikant Mauler wird von einer Frau gespielt, was die üblichen Figurenklischees wunderbar unterläuft. Anne-Else Paetzold gibt den Mauler mit stilisierten, fließenden Bewegungen als Clown und gleichzeitig sentimentale Existenz, während Ivan Gallardo den Makler Slift mit ebenfalls wunderbarer körpersprachlicher Artistik als mephistophelischen bösen Buben verkörpert.

Anne-Else Paetzold spielt auch - gemeinsam mit Antje Weber - eine deutlich entpolitisierte Kammerspielversion von Schillers Maria Stuart, bei der Daniel Call alle Männerrollen von nur einem Darsteller spielen lässt. Doch der Versuch, allein die Kampf- und Krampf-Beziehung der beiden Herrscherinnen theatralisch auszustellen, bleibt im komisch-virtuosen Beeindruckungsspiel zweier hervorragender Darstellerinnen stecken.

Katja Paryla steht in der Rolle der alternden Diva Alexandra Del Lago in Tennessee Williams Süßer Vogel Jugend selbst auf der Bühne, vor allem aber ist sie als Regisseurin tätig. Ihre Inszenierung von Schillers Fiesco ist eine kluge und solide Ensemblearbeit, während sie Kleists Der zerbrochne Krug zugleich als Komödienmaschine wie als Nachwendeparabel präsentiert. Der Gerichtsrat Walter kommt hier als verklemmt nervöser Paragraphenreiter von außen in eine geordnete soziale Wärmestube mit Konflikten, die man lieber gemeinsam lösen will. Die Kontrahenten finden sich im kollektiven Einverständnis zusammen, während das Regelsystem des Gerichtsrates dagegen zwanghaft erscheint. Die Musik aus dem neuen Kassettenrecorder des Dieners bringt die Menschen in lustvoll-zwanghaften Tanz: man weiß nicht, nach wessen Pfeife sie tanzen müssen oder wollen. Die Inszenierung kümmert sich weder sonderlich um Kleists Sprache noch beachtet sie Kleists in dieser Komödie steckende Weltparabel; Regisseurin Paryla stellt in der Form einer enorm komischen Provinzposse die soziale Wärme eines Alltags aus, in dem man sich arrangiert. Ein Schelm, der das nur komisch nimmt.

Der Spielplan ist bunt. Das Musical Pinkelstadt und Boris Vians Abdeckerei für alle floppten eher, während Claudia Bauers 100-Minuten-Version von Lessings Miss Sara Sampson umjubelt wurde. In der neuen Spielzeit möchte die Schauspielchefin mehr junge Leute erreichen. Mit Shakespeare (Sommernachtstraum und Othello) und Schiller (Kabale und Liebe), und mit Charleys Tante, dem Lonely Hartz Club und einer Chemnitz Soap. In der letzten Premiere bot Sascha Hawemann Kleists Prinz Friedrich von Homburg als ein grelles, brüllend lautes Spiel mit Menschen unter Überdruck. Eine Inszenierung, aufgepumpt mit Musik, Pathos, Schauspielergetobe und Bilderwut. Die Bühne zeigt Bilder vom und Haltungen zum Krieg. Alle sind Produkte einer Militärgesellschaft, selbst die Frauen tragen Uniform unterm Kleid. Die dramaturgisch intelligente, szenisch sich allzu mächtig aufblasende Inszenierung spaltete das Publikum.

Katja Paryla erklärte nach ihrer ersten Spielzeit: "Mit den verschiedenartigsten Stücken und sehr unterschiedlichen Handschriften wollten wir vor allem Geschichten erzählen. Und mit dem tollen Ensemble ist das in guter Qualität auch aufgegangen." Jetzt muss nur noch mehr Publikum gewonnen werden. Für alle Formen von Theater. Genau das ist kein genuin Chemnitzer, sondern ein allgemeines Problem in ostdeutschen Theaterlanden.


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