Bei der Erinnerung an Wolfgang Engels Inszenierungen stehen sie sofort immer beide vor dem inneren Auge: die großen Bilder und die Schauspieler in deren Zentrum.
Wolfgang Engel zerschlägt Stücke nicht, wenn er sie inszeniert, sondern er liest sie und lässt den Zuschauer daran teilhaben. Carlo Goldonis Der Krieg (Staatsschauspiel Dresden 1983) begann mit einer Leseprobe, aus der sich die Schauspieler langsam in Spielversuche lösten. Die Aufführung zog die Zuschauer durch ihre für Engel typische Spannung zwischen Behutsamkeit und aggressiver Kraft schnell in ihren Bann. Dabei wurde man nicht belehrt, über Gewalt, Krieg und individuelle Haltungen, sondern ihnen beiläufig ausgesetzt. Wenn auf der offenen, riesigen Bühne für das alte Stück (mit aktuellen politischen Nachrichten aus dem Fernseher, mit überdeutlichen Dialekten, mit einer sich zum Abgrund aufreißenden Bühne) zwar auch plakativ scheinende Wirkungsmittel eingesetzt wurden, so blieb es, obwohl politisch aktuell aufgeladen und umspielt, doch immer kenntlich.
Regieeinfälle sind bei Engel keine Regie"einfälle", sie kommen nicht von außen, sondern von innen. Sie ergeben sich aus dem Text. Dabei versucht er nicht, Texte vordergründig zu verbessern, sondern sie zu übersetzen. Das kann, wie bei Sonette nach William Shakespeare (Dresden 1985) auf zeichenhaft leerer Bühne passieren, auf der der Regisseur als sein eigener Schauspieler im Reifrock-Kleid mit der Schauspielerin Cornelia Schmaus und der Tänzerin Arila Siegert Shakespeares Verse zum Klingen und Schweben brachte. Oder es kann, wie 1987 bei der DDR-Erstaufführung von Becketts Warten auf Godot, mit der Zartheit des derben Clownsspiels in einem Zirkusrund zwei junge Männer zeigen, die sich "buchstäblich zu Tode strampeln" (Engel). Vorgeführt wurde ein Spiel, das sowohl allgemein existentiell wie sehr speziell politisch zu verstehen war. In einem Ensemblespiel, das die Schauspieler beförderte. Wie bei Müllers Anatomie Titus. Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar, das, im Ambiente eines Klassenzimmers gespielt, auf der Dresdner Probebühne Astoria als eine Lern-und-Lehr-Geschichte verfremdet und verdeutlicht wurde.
Oft sind es geschlossene Räume, aus denen Engel die Figuren in seinen Inszenierungen ihren (Aus-)Weg suchen lässt. Ibsens Peer Gynt (Leipzig 2005) spielt in einer Art Obdachlosenheim oder Nachtasyl zwischen Stahlrohrbetten. Hier rennt man mit dem Kopf durch die Wand oder flüchtet sich in eine trollige Traumwelt. Äußerliche Figurenaktualisierungen braucht solch szenische Lesart nicht, um aktuell zu sein.
Begonnen hat Wolfgang Engel als Bühnenarbeiter. In Schwerin, wo er 1943 geboren worden war. Hier betrat er auch den Weg zum Schauspieler und Regisseur. Seine große DDR-Zeit erlebte Engel zwischen 1980 und 1991, als er Regisseur und Spielleiter am Staatsschauspiel Dresden war. In den achtziger Jahren fuhren Theaterenthusiasten der realsozialistischen Republik zu Schroth nach Schwerin, folgten Frank Castorf von Anklam nach Karl-Marx-Stadt und warteten auf die nächste Inszenierung von Engel in Dresden. Seine Maria Stuart verstörte das kulturvolle Dresdner Publikum und holte die jungen Rucksack-Zuschauer ins Theater, seine Penthesilea von Kleist und seine Nibelungen von Hebbel machten den Regisseur bei einem Gastspiel noch vor der Wende in der Bundesrepublik bekannt. Und sein in die Wendezeit fallender Dresdner Faust, bei dem Engel als einer von zwei Fäusten auf der Bühne stand, war klassisches zeitgenössisches Theater. (Dem er 1999 in Leipzig eine neunstündige Version folgen ließ, mit der er durch die Stadt wanderte.)
Wolfgang Engel macht politisches Theater. Wenn man darunter versteht, dass er etwas erzählen und fragen will. Über die Menschen und über die Gesellschaft. In szenischen Modellen. Von Schillers Don Carlos hat der Regisseur, als er ihn im Frühjahr 2005 in Leipzig inszenierte, alle überkommenen Fragen weg geschoben. Liebes- oder Ideendrama, politisches Tendenzstück oder Historie, bürgerliches Trauerspiel oder Läuterungsdrama? Schillers "Lieblingskind des Geistes" wird zur aktuellen Analyse des Systems der Macht. Auf einer von einer Art riesigem Drehkreuz aus durchbrochenen Wänden bestimmten Bühne sind die Überwachungsmöglichkeiten, die Machtkämpfe und die Öffentlichkeit einer modernen Gesellschaft ins Bild gesetzt. Wer hier politische, wirtschaftliche oder kriminelle Macht besitzt, kann der Zuschauer selbst erkennen. Eine Inszenierung, die Engels hohe Kunst beweist, alte Texte zu neuer Spannung zu bringen und ein Ensemble zu beeindruckender Homogenität zu formen.
Wolfgang Engel bekennt sich zum Stadttheater. Einem Stadttheater, dessen Repertoire eine große Breite von Stoffen, Themen und Formen umfasst. Nachdem Engel sich von 1991 bis 1994 als Spielleiter am Schauspiel von Frankfurt am Main versucht hatte, übernahm er 1995 die Intendanz des Schauspiels Leipzig. Hier hat er (trotz regelmäßiger Abwanderungen ins lockende Berlin) nicht nur ein tolles Ensemble geformt, sondern auch dem Regienachwuchs viele Möglichkeiten geboten. Engel hat sich in Leipzig als Förderer und Entdecker gezeigt. Der auch loslassen kann: Zwar wird er im Frühjahr ein in die Stadt ausgreifendes Wallenstein-Projekt inszenieren, doch 2008 ist Schluss für den Intendanten Wolfgang Engel, der dann nur noch als freier Regisseur arbeiten will.
Den Nationalpreis der DDR lehnte Engel noch 1989 ab, das Bundesverdienstkreuz nahm er 1999 an. Jetzt sprachen ihm drei berühmte Kollegen - der Regisseur Christoph Schroth, die Schauspielerin Dagmar Manzel (die 1980 in Dresden seine Maria Stuart war) und der Schauspieler Ulrich Matthes (der 1987/88 am Bayerischen Staatsschauspiel in Shakespeare-Inszenierungen von Engel spielte) - den seit 1986 von der Akademie der Künste verliehenen Konrad Wolf Preis zu. Der schönen Jury-Begründung stimmt man gern zu: "Seit mehr als 30 Jahren prägt Wolfgang Engel die deutsch-deutsche Theaterlandschaft. (...) In seinen Arbeiten gelingt es Wolfgang Engel immer wieder, die Figuren als individuelle wie politische Wesen in ihrer Zerrissenheit und Emotionalität zu zeigen. Seine Inszenierungen sind hochpolitisch, nie privat."
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