Bildungsstreit

1809 200 Jahre nach Gründung der Berliner Universität ist von den Idealen des Initiators und Namensgebers Wilhelm von Humboldt nicht viel übrig geblieben

Hätte Wilhelm von Humboldt sich durchgesetzt, gäbe es vermutlich keine „Bildungsstreiks“. Denn er schlug vor, die Universitäten aus Domänen zu finanzieren. Es gab seinerzeit genügend frei verfügbare Grundstücke, die bei der Säkularisierung den Kirchen – nicht nur katholischen – weggenommen wurden und nach sinnvoller Umnutzung verlangten.

Man stelle sich vor, die Alma Mater Berolinensis, wie die Berliner Humboldt-Universität zu Beginn hieß, hätte „die Güter auf ewige Zeiten hinaus“ selbst verwalten und bewirtschaften können: Die Uni wäre reich, die Professoren nicht überlastet, die Studierenden würden gut betreut, auch wenn sie „nur“ den Bachelor oder Master machten. Als der „Chef der Sektion für den Cultus, öffentlichen Unterricht und das Medicinal-Wesen“ seinen Vorschlag gegen Widersacher verteidigen musste, war sein wichtigstes Argument: Solche Einkünfte könnten der Universität „mehr Selbständigkeit, mehr innere Würde und größeres Vertrauen beim Ausland“ gewähren.

Er hat sich in diesem Punkt nicht durchgesetzt und nach knapp 14 Monaten das Handtuch geworfen, weil er zwar beraten, aber nicht entscheiden durfte. Als er für forschendes Lehren und Lernen warb, konnte er natürlich nicht ahnen, dass die Universitäten einst ein Drittel der Bevölkerung nach seinen Idealen bilden müssten, um dem Staat, wie damals, aufzuhelfen.

Man hört derzeit viel von Humboldts Bildungsideal, der Vervollkommnung des Selbst und dem ebenbürtigen Austausch zwischen Professoren und Studenten. Aber der Universitätsgründer war auch ein erstaunlich praktisch denkender Mensch. Sein Plädoyer für Freiheit der Wissenschaft und Künste war zuallererst ein Gegenkonzept zu den absolutistischen Zwecken des Staates. Die Idee eines selbst denkenden Individuums hatte einen sehr praktischen Grund: Nach der Niederlage des preußischen Heeres 1806 war selbstständiges Denken, die Fähigkeit zu entscheiden und die Notwendigkeit, untere Schichten – jedenfalls Nicht-Adelige – in verantwortungsvolle Positionen zu holen, eine Überlebensfrage des Staats. Drill und Untertanengeist hatten sich nicht (mehr) bewährt. Die Bildungsreform war Teil der Militärreform.

In mancher Hinsicht lassen sich Pisa, Bologna, Exzellenzinitiativen und die Spaltung zwischen dem Plebs der Lernenden und ein paar Genies, in die viel Geld gesteckt wird, mit der Situation vergleichen, die Humboldt überwinden wollte. Er reformierte ja auch das Schulwesen und plädierte dabei für „ein gemeinsames Fundament“, damit „der gemeine Tagelöhner nicht roh und der feinst Ausgebildete nicht ... verschroben wird“. Ein durchlässiges System würde man heute sagen, um – auch so ein aufhebenswertes Zitat – zu „verhüten, dass der Schüler einen Weg mache, der ihm unnütz seyn würde“.

Bei aller Skepsis gegenüber Pauken, Modulen und Studienverkürzungen wird niemand ernsthaft behaupten, dass jahrzehntelanges Studium in un-nützlichen Fächern die Alternative zur jetzt praktizierten Effektivierung sei. Aber man kann Humboldt auch noch als Schutzherrn für die nicht ganz so hohe Bildung zitieren, zum Beispiel, weil er es wichtig fand, die Lehrenden zu motivieren. Er wollte das Engagement für guten Unterricht honorieren und hätte sich wohl gegen eine Exzellenz verwahrt, die besonders Befähigte von der Lehre freistellt.

Der Sohn aus gutem Hause hat sein Wissen selbst kaum an Universitäten erworben, erst hatte er Privatlehrer – die besten, die es in Berlin gab –, dann studierte er ein Semester Jurisprudenz in Frankfurt/Oder, wo er sich langweilte, und zwei Semester an der Universität Göttingen, die im Unterschied zur preußischen sehr modern war. Er hörte sich dort an, was ihn interessierte. Er studierte das Leben, Sprachen und Menschen, beobachtete, reiste und diskutierte. Er lernte an seinem Schreibtisch, im Gespräch mit Freunden und in der Korrespondenz mit den klügsten Köpfen der Zeit. Georg Forster war sein Leitstern, bevor der ein führender Jakobiner im revolutionären Mainz wurde – während Wilhelm mit Gattin und Tochter auf den Gütern seines Schwiegervaters im idyllischen Auleben in Thüringen saß und sich dem „Studium der Ueberreste des Alterthums“ widmete. Sein Leben bestand in diesen Jahren zu großen Teilen aus Geselligkeit, Reisen, Lektüre und Korrespondenz. Die Humboldts hatten auch genügend Personal.

Humboldt nahm mit 35 Jahren seine erste bezahlte Stelle an, zuvor war er, abgesehen von einer kurzen Zeit als Azubi am Kammergericht, Privatgelehrter, der vom Vermögen seiner Frau und nach 1796 zusätzlich vom Erbe seiner Mutter leben konnte. Auch wenn er die Ruhe und Abgeschiedenheit schätzte, waren seine Ideen von Bildung nicht weltenfern. Reflexion, Vervollkommnung der Persönlichkeit und die Ausbildung des Geschmacks waren für einen kleinen Kreis von Gebildeten die Ausrüstung für ein Leben ohne fremde Autoritäten.

Im Mai 1809 hatte Humboldt den Antrag auf die Errichtung der Universität Berlin geschrieben, deren Gründungsurkunde am 16. August 1809 von Friedrich Wilhelm III. unterzeichnet wurde. Bereits 1816, nachdem Napoleon besiegt und die alten Regimes wiederhergestellt waren, wurde ihm berichtet, dass der Geist aus der Universität gewichen sei. „Seine“ Universität wurde schnell dirigistisch und zweckorientiert umgewandelt, spätestens seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 war es mit der Freiheit von Forschung und Lehre ohnehin vorbei. Seine Freundin Henriette Herz nannte 1820, also zehn Jahre nach der Gründung im Geiste des Aufbruchs, „das Bestreben sich zu bilden ... ein Wort, welches jetzt beinahe lächerlich geworden ist“. Forschendes Lernen im Dienst der Selbstvervollkommnung war eine schöne Idee, aber auch damals mussten sich die meisten Studenten praktisch ausrichten. Nicht viele konnten sich die Freiheit des Denkens leisten, die einem Humboldt vorgeschwebt hatte.

Es gehört zur bemerkenswerten Hinterlassenschaft Humboldts, dass sich bis heute die verschiedensten Leute auf ihn berufen können. Je nach Anliegen und Absicht werden aus seinen Schriften die passenden Zitate geklaubt. In diesem Geiste lässt sich auch die – mit einer sonst nicht mehr üblichen deutschen Akkuratesse durchgesetzte – Bolognisierung mit Worten des großen Reformers kommentieren: Als überlegt wurde, ob die Universitäten in Frankfurt/Oder und Breslau zugunsten der Berliner Gründung geschlossen werden sollten, argumentierte er für die Beibehaltung der älteren Anstalten, denn: „Das Alte zerstören, ehe das Neue die gehörige Haltbarkeit gewonnen hat, ist überaus misslich.“ Nicht unerwähnt soll auch bleiben, dass er nicht nur an Konzepte von großen Denkern oder die Vorarbeiten seiner Mitarbeiter anknüpfen konnte, auch Jena war ein Vorbild, dort lehrten junge Gelehrte am Beginn ihrer Karriere, Privatdozenten und Honorarprofessoren ohne feste Stellen – sie waren noch preiswerter als die Lehrbeauftragten und Privatdozenten heutigen Tags.

Bewahrenswert scheint auch, dass Wilhelm viel von den Frauen gelernt und das immer wieder betont hat. Die schöne Henriette Herz vermittelte ihm Hebräisch und Herzensbildung, mit Therese Forster, schwärmte er, könne er sich über alles unterhalten, Karoline von Wolzogen dankte er, dass sie ihn lehrte, sich selbst zu kennen. Was er bei den käuflichen Damen, die er gerne und regelmäßig besuchte, gelernt hat, können wir nur ahnen. Seine wichtigste Gesprächspartnerin, Beraterin und Lehrerin war seine Frau Caroline, sie hat ihn angeregt, ihm Sicherheit gegeben und, wie er schreibt, ihn sehen, hören und fühlen gelehrt. Eine Aufgabe, die selbst in Humboldts Universitätskonzept keinen Platz fand.


Hazel Rosenstrauch lebt und arbeitet in Berlin als Autorin und Wissenschaftsjournalistin. Im Mai 2009 ist ihr Buch Wahlverwandt und ebenbürtig erschienen, eine Doppelbiografie über Wilhelm und Caroline von Humboldt

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