Rest-Sehnsüchte In den sechziger Jahren brachen junge Frauen aus den tradionellen Rollen aus. Was ist ihnen an Gefühlen geblieben? Helke Sander erzählt vom neu erfundenen Altern
Als die jungen Frauen in den sechziger Jahren auf- und ausbrachen aus den traditionellen Rollen, die während des Faschismus neu zementiert worden waren, dachten sie doch nicht, dass sie alleine alt werden und meist auch ihre Kinder alleine erziehen würden. So ist es aber gekommen und weil sie alles neu erfinden mussten, erfinden sie jetzt auch das Altern neu. Helke Sander, Filmemacherin und kämpferische Individualistin, hatte damals den Weiberrat und Kinderläden in die Nachkriegswelt gesetzt, jetzt blickt sie in Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern zurück, keineswegs im Zorn, aber tendenziell melancholisch.
In dem titelgebenden Aufsatz fällt ihr zuallererst auf, dass man sich im Unterschied zum ersten Beischlaf an den letzte
chlaf an den letzten schon deshalb nicht erinnern kann, weil man meist nicht weiß, dass es der letzte ist. „Erst viel später wird klar, dass da ein Ende war.“ Es geht keineswegs nur, jedenfalls nicht nur, um das Altern und auch nicht allein um Frauen oder gar Frauen ohne Sex, die Autorin nimmt Paare und Männer, abgenutzte Ehen und Frauengruppen, einen 95. Geburtstag und eine Goldene Hochzeit unter die Lupe, und porträtiert unterschiedliche Menschen, die vor 40 Jahren rebellisch waren und sich noch immer nicht den Konventionen beugen wollen.Sie erzählt von der Bibliothekarin, die auf eine Partner-Suchanzeige antwortet und räsoniert dabei über den großen Unterschied zwischen ihr und Männern, die ihre Altersgenossinnen wegwerfen und gegen Studentinnen, Assistentinnen oder auch (was in dem Buch fehlt) junge Asiatinnen und Russinnen austauschen.Sex bleibt im HintergrundIhr Interesse gilt dem Selbstverständnis der Frauen, die in der sexuellen Befreiung heftig mitgemischt hatten, mentalen Veränderungen und Arrangements. Sie fragt, was es mit dem Rest der Paarungsbereitschaft an sich hat, was von den Gefühlen der Frauen und was von denen ihrer Partner nach langen Jahren des Zusammenlebens bleibt, wie eine Zweitbeziehung „auf der Höhe der abstrakten Erkenntnisse“ beider Partner auseinander geht, oder gealterte Ex-Rebellen mit überholten Ritualen umgehen. Das ist kein Stoff für bösartige Glossen à la „Best-Ager auf vollgefederten Mountainbikes“ mit Stützstrümpfen und Gichttabletten im Rundum-Sorglos-Paket, wie das kürzlich im Streiflicht der Süddeutschen Zeitung gedruckt wurde. Auch Voyeure werden nicht bedient, Sex bleibt, jedenfalls als Gymnastik überanstrengter Körper, eher im Hintergrund. Die Protagonisten haben keine Ideologie, keine der Geschichten endet mit irgendeiner Moral, es gibt keine Lösungen, nur offene Enden und auch kein politisch korrektes großes I (à la ProtagonistInnen).Inzwischen berichten ja mehrere selbstbewusste Frauen jenseits der 60 über ihre Rest-Sehnsüchte und Kränklichkeiten. Soweit ich die Literatur kenne, besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen diesen Erzählungen und männlichen Altersbüchern, in denen es allzu häufig um die gerade noch oder eben nicht mehr vorhandene Potenz geht. Die Frauen in Sanders Geschichten wollen vielleicht noch einmal die Wärme eines anderen Körpers neben sich spüren, die Leistungsschau der gezählten Orgasmen interessiert sie kaum und aus vielerlei Gründen wollen sie sich, anders als alternde Männer, nicht mit geistig unterlegenem Frischfleisch jung halten. „Rein sexuell gesehen, würde sie auch lieber mit einem Jüngeren schlafen, wäre da nicht die Furcht vor versiegenden Gesprächen, die Furcht, damit so was wie Inzest zu begehen, und die Peinlichkeit, sich nur noch mit Mühe ihre Strümpfe anziehen zu können.“Köstlicher LesestoffManches legt die Autorin Männern in den Mund wie den zwei Professoren auf der Bahnfahrt 1. Klasse, die bei einem Gläschen Wein über die Eindimensionalität neumodischer Theorien, über Studenten, die ihre Doktorarbeiten irgendwie zusammenschustern, über junge Männer, die grundlos zuschlagen, klagen. Auch sie fragen sich, ob das eine Alterserscheinung oder berechtigte Kulturkritik ist.Sander hat selbst an einer Hochschule unterrichtet und man darf annehmen, dass sie auch von ihren eigenen Irritationen spricht. Norbert B. hatte „echte Schwierigkeiten, diese ganzen verbissenen Fragen rund um verschiedene Identitäten, die zunehmend in der Öffentlichkeit aber eben auch bei den Studenten eine Rolle zu spielen schienen, ernst zu nehmen. Ihn langweilten diese ganzen hundertprozentigen Migranten, Mütter, Väter, Schwulen, Lesben – wie ihn früher auch schon die hundertprozentigen Marxisten/Leninisten geärgert hatten.“ Die Heldin der letzten Geschichte heißt Alice, sie ist nun neun Jahre tot und wie das manchmal beim Leichenschmaus ist, erinnern sich die Freundinnen beim fröhlichen Zusammensein nicht nur an die netten Seiten der Verstorbenen, die verehrte, geschätzte, tüchtige Journalistin war eben auch ein weiblicher Macho.Lächelnd, ironisch und durchaus nostalgisch wirbelt die Autorin Rollenbilder und Vorurteile, Gesellschaftskritik und Feminismus, Klischees und Tabus durcheinander; sie bietet weder Rezepte, noch Modelle, nur köstlichen Lesestoff mit tiefen Gedanken und lässigen Skizzen des einst revolutionären Mittelstands.
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