Kürzlich fragte mich, nach einem lebhaften, kreuz und quer durch Themen springenden "Hirnsturm", ein junger Mann, ob ich Jüdin sei. Verschiedene Umstände deuteten darauf hin, dass der Anlass für diese Frage nicht nur mein Name, sondern meine - in seiner Umgebung unübliche - Flexibilität war. Er hat die Frage so gestellt, wie sensibilisierte junge Deutsche sie mittlerweile politisch korrekt stellen: er fragte: "Ist Rosenstrauch ein jüdischer Name?" Aus Schaden klug geworden, sagte ich, freundlich lächelnd: "Ich bin das Kind von Emigranten." Ich markiere auf diese Art eine Grenze und wechsle den Assoziationsrahmen, um mir und meinem Gegenüber das peinliche Abklappern von Klischees zu ersparen ... unter günstigen Umständen entsteht so manchmal doch ein Gespräch. Der Schaden, aus dem ich immer noch hoffe, klug werden zu können, sind jene Rituale deutsch-jüdischer Begegnung, die - manchmal nur öde, selten produktiv - dazu führen, dass beide Seiten Mauern aufbauen, um sich vor Verletzungen zu schützen, die auch nach dreißig Jahren deutsch-jüdischer Wiedergutmachungsdiskurse ungewollt wie Unfälle passieren.
Beim Stichwort "Juden" denken jüngere Leute (und das wären in diesem Kontext alle bis etwa Mitte Dreißig) nicht mehr primär ans Wandern; schon gar nicht kennen sie die von mir so heiß geliebten Witze, in denen Luftmenschen vor allem unterwegs zu Hause sind, sich einen anderen Globus wünschen, nicht mit ihresgleichen verwechselt werden möchten oder misstrauisch werden gegen einen Verein, der sie aufnimmt. Auch die second generation, die noch Spuren trägt aus den Erlebnissen ihrer Eltern, ist inzwischen ein Auslaufmodell, repräsentativ nur noch für Probleme von gestern.
Juden haben in den letzten Jahrzehnten mehrere Heimaten gefunden. Wahrnehmbar für heutige Deutsche oder Österreicher sind sie als freundliche alte Herren, die relativ pflegeleicht geworden sind, als Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion oder als Israelis, als Berufsjuden und als Repräsentanten mit vorhersehbaren mahnenden Worten. Jüdisches Leben in Deutschland hat sich so weit differenziert, dass man je nach Bedarf Legitimationsjuden für alle Zwecke bekommen kann, ob als Wahlhelfer oder Museumsdirektoren, von konservativ-integriert-deutsch bis zu authentisch-heimatlos mit allen Gefühlen, die in der Fachliteratur beschrieben werden. Sie 'wandern', wenn, dann durch Ausstellungen und Feuilletonseiten, Kongresse und Gedenkstätten - als Juden, die ermordet wurden, und Juden, die wir vermissen; wir alle kennen den gut verdaubaren, in geordnete Trauerrituale verpackten Juden, der in Kulturinstitutionen und Schulen, von Sammelbandherausgebern und Symposienorganisatoren umhegt wird.
'Emigrant' gehört heute zu einem anderen Assoziationsfeld. Der Emigrant oder auch die Emigrantin kommen heutzutage aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus der Türkei, aus Albanien, Bulgarien oder Indonesien. Wenn ich also nicht sage, ich bin Jüdin, sondern ich bin das Kind von Emigranten - was so gut stimmt wie das erstere - verursache ich damit eine Irritation, die den Kontext verändert. In dem eingangs erwähnten Gespräch mit dem jungen Studenten habe ich - als Warn- und Einleitungssatz, um seine Assoziationen wegzuwischen und eine andere Tür zu öffnen - noch dazugesagt: "Wer in mehr als einer Kultur aufgewachsen ist, hat gute Voraussetzungen für das, was derzeit Âvernetztes Denken genannt wird. Verbindungen herstellen, scheinbar auseinanderliegende Wahrnehmungen verknüpfen, Dogmen auseinandernehmen und neu zusammensetzen ..."
Die Formulierung "Ist Emigrans erblich?", hatte sich entwickelt aus Situationen, in denen gutmeinende Leute meine Flexibilität oder Wanderlust oder Unruhe rassisch definierten, jüdisch genannt und nicht als individuelle Eigenschaft anerkannt haben; ich habe damit aber auch junge Menschen ermutigt, die meinten, sie hätten nicht die Voraussetzungen, um sich in dieser atomisierten, keine Heimstatt bietenden Welt (Universität, Großstadt) souverän bewegen zu können.
Vielleicht ist es erblich? Ich bin zwar das Kind von Emigranten, doch ich war knapp zwei Jahre alt, als meine Eltern mich nach Österreich verpflanzt haben. Mein Sohn ist in Wien geboren, aber er war immer über die Norm seiner jeweiligen Altersgruppe hinaus selbständig. Das hat mit den Bildern zu tun, die ich auf Grund meiner Familiengeschichte mit mir trage - von dem 9- oder 12-Jährigen, der allein über die Grenze ging, vom 7-Jährigen, der ins Internat kam, von der 14-Jährigen, die bei einer fremden Familie als Haushaltshilfe gearbeitet hat. Die Kinder meiner Schwester haben mehr Zugehörigkeit erlebt als ein Großteil durchschnittlicher europäischer Jugendlicher. Aber auch sie haben offensichtlich diesen flüchtigen Stoff, den ich als Emigrans bezeichne. Bei Juden aus den USA oder aus Israel hab ich es oft vermisst und bei nicht-jüdischen Deutschen, die durcheinander gewirbelt wurden, manchmal gefunden. Weder haben es alle Juden noch alle Emigrantenkinder, es ist noch nicht einmal an Emigrationserlebnisse gebunden. Mit Blick auf Zionisten, Orthodoxe, Berufsjuden und andere, die sich gut in ihrer Identität eingerichtet haben, schließe ich aus, dass es im Blut liegt; ich forsche noch, was es ist.
Zum Katalog der spezifisch emigransischen Eigenschaften gehöre es, sich durchbeißen zu müssen, verschiedene Jobs anzunehmen, sich immer wieder neu zu organisieren. Eine Flexibilität und Mobilität, die es erlaubt, zwischen Gruppen und Schichten zu wechseln, wenngleich historisch konkret eher vom Professor zum Tellerwäscher, als umgekehrt. Es gehört zur Identität dieses Elements, dass es nirgends dazugehört. Es löst sich bei Bedarf von seinen Wirtsvölkern und -organen und kann woanders hinwandern; es vermag immer neue Veränderungen durchzumachen und wird trotzdem nicht zu jenem ÂanderenÂ, dem es sich assimiliert. Es passt sich Gegebenheiten eher pragmatisch an, um sich bei der nächstbesten Gelegenheit aus dem beengenden Kontext zu lösen, neue Verbindungen einzugehen; manchmal entwickelt es Resistenzen, um nicht abgestoßen zu werden ... und immer nimmt es etwas mit, wird größer, weiter und reicher, manchmal auch giftiger und schwerer auszumerzen. Emigrans ist eine schwer definierbare Disposition, die lange Zeit, aus den bekannten Gründen, mit den wandernden Juden assoziiert wurde, bei den Juden nur noch selten vorkommt (und auch in den Juden gewidmeten Erinnerungs-Einrichtungen eher marginalisiert wird). Ich interessiere mich für diesen Botenstoff nicht primär wegen Nostalgie, obwohl es mir schon sehr leid tut, dass ausgerechnet die zumeist politisch engagierten, linken, assimilierten - Juden eine so geringe Rolle in der Erinnerungskultur des sie umgebracht habenden Wirtsvolkes spielen. Es handelt sich, soweit bin ich mit meiner Forschung schon, um ein Stück Kuchen, das mit einer langen Geschichte von Vertreibung, Assimilation, Anpassung, Diaspora, Hin- und Abwenden von einer "eigenen" Identität zu tun hat. Womit ich endlich in der Gegenwart ankomme. Interesse darf es beanspruchen, weil Emigration so allgemein geworden, weil alle Welt entwurzelt, instabil, notgedrungen flexibel, alleingelassen, unbehaust ist. Heimat und Wurzel sind gerade noch Sehnsuchtsvokabeln aus einer früheren Welt, geeeignet für Werbung, nicht nur (ich schreibe dies im September 1999) der CDU oder FPÖ. Meine Bank wirbt mit dem Spruch "Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause", und die Berliner Stadtreinigung hat seit neuestem Mülleimer mit Aschenbecher und dem Spruch "Wir geben Ihrer Kippe ein Zuhause".
Präsent sind "die Juden als Außenseiter" noch auf eine andere, wirkungsmächtige Weise. Er wandert durch Soziologie, Ethnologie, Demographie, durch die gesamte wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Literatur über die Probleme, die mit dem entfesselten Multinationalismus entstanden sind. Ein Großteil der Metaphern und Denkfiguren, die soziale oder subjektive Folgen von Migration, ethnischen Säuberungen und Vermischungen zu erklären versuchen, sind - im Gefolge von Max Weber, Adorno oder Zygmunt Baumann - aus der Geschichte des Juden als paradigmatischem Außenseiter entwickelt worden. Es fällt schwer, sich die ganzen Kongresse, Sendungen oder Bücher über Migration vorzustellen ohne Rückgriff auf Juden. Allein das Vokabular: Diaspora, Mischehen, Loyalitätsprobleme zwischen zwei Gemeinschaften, die multiple Identität, die Assimilation und Emanzipation, der kulturelle Eigensinn und die 5. Kolonne, die Ambivalenz und Aufstiegsorientierung knüpfen an das Beispiel der beststudierten europäischen Minderheit an. Die Bücher und Kongressmappen zum Thema die Fremde, das Fremde, der Fremde türmen sich mittlerweile. Diaspora ist (glaubt man den Interpreten) überall. Und weit mehr als die armen Emigranten handeln die Feuilletons von flexiblen, zappelnden, bindungslosen Yuppies, die statistisch gesehen, vor allem Vor- und Angstbilder einer postnationalen Gesellschaft sind.
Eine kleine unwissenschaftliche Umfrage in meiner Umgebung ergab, dass ein Großteil meiner Bekannten für sich beansprucht, zu den Fremden zu gehören. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass ich viele sogenannte Ausländer kenne. Sesshafte Deutsche, Leute, die ein bisserl im Ausland waren, joblose Habilitierte, vielreisende Künstler ... sie alle fühlen sich fremd, sind mehr oder weniger überzeugende Spezialisten der Unzugehörigkeit.
Ich bin zwar das Kind von Emigranten, aber - anders als Türkinnen, Chileninnen oder Tschechinnen meiner Generation - habe ich nicht wirklich in zwei Kulturen gelebt. Was hab ich geerbt, was ist dieses Ding, das ich mal mag, mal nicht, aber nicht mehr loszuwerden vermag? Second generation bedeutet auch: Dazwischen. Ich gehöre zur Generation, die den Holocaust nicht erlebt hat, und gehöre nicht zu der, für die er ferne Geschichte ist, stehe am Übergang und wenn ichs aktiv wende, spiele ich Brücke. Die Rolle habe ich mir angezogen, sie gefällt mir!
Meine Lust daran, fremd zu sein und nirgends dazuzugehören - noch nicht einmal zur Gruppe der Âsecond generation - sie ist, als Lust, schwer erarbeitet. Als junges Mäd chen und auch noch als junge Frau wollte ich dazugehören, wollte geliebt, anerkannt, nochmal geliebt und in diese oder jene Gruppe aufgenommen werden. Aber in welche Gruppe, in welchen Verein sollte ich mich aufnehmen lassen? Wessen Anerkennung ist für mich wichtig? Wäre ich hineingewachsen in die Kultur des einen, sagen wir katholischen, Dorfs mit gesicherter (arischer) Herkunft, hätte ich mir die Frage nicht stellen müssen. Wer nicht nur eine Welt kennt, kann pendeln, vergleichen, tanzen zwischen den Regeln. Und hat die Wahl und die Not, sich entscheiden zu müssen. So habe ich für lange Zeit die Frage für mich geformt und konnte damit im philosemitischen Deutschland einigermaßen gut leben. Das Modell muss, wieder einmal, geprüft, justiert und eventuell den neuen Verhältnissen angepasst werden. Das heile Dorf, die sauber abgegrenzte Nation, die nur rot oder grün oder deutsch oder baskisch interpretierbare Welt gibt es nur noch als Ideologie.
Wandernd von der Theorie zu den konkreten Menschen, fallen mir wichtige Unterschiede ins Auge. In der multikulturellen Gesellschaft entstehen lauter Inseln mit rein sein wollender Kultur, in der eine molukkische, karibische, anatolische oder westindische Abweichung von der Emigranten-community streng geahndet wird. Das Phänomen, das ich als Emigrans bezeichne, hat sich mit der Auflösung fester Grenzen zwischen Völkern, Schichten und Kontinenten keineswegs verbreitet. Im Gegenteil, die Regeln sind rigider. Die "Kosmopoliten" neueren Schlags, die sich in Tokyo, Brüssel, N.Y. und Canberra gleichermaßen zu Hause fühlen, bleiben meist unter sich, sie mischen sich mit anderen Angehörigen jener fünf Prozent Weltreisender, deren Flüge meist von der Firma bezahlt werden. Die kommen zwar aus verschiedenen Ländern, aber meist aus der gleichen Kultur.
Andrej Sczypiorski hat einmal geschrieben, die Juden waren der Mörtel Europas. Auch das galt nicht für alle Juden und vornehmlich für jene, die am Rand lebten, dazwischen, am Übergang. Ich wäre gern Mörtel, verknüpfe und hüpfe, wo immer möglich, zwischen Ressorts und Boxen, eher Nestflüchter als Nesthocker. Mittlerweile bezeichne ich diese gelegentlich sehr lästige Begabung, den Sprachspielregeln angepasst, als "postmoderne Schnittstellenpersönlichkeit". Früher war es typisch jüdisch.
Der exemplarische, für die Theorien über Globalisierung so gern verwendete Fremde ist, genauer er war, Kosmopolit; einer der - im Unterschied zum entwurzelten Flaneur - von verschiedenen Ländern und Kulturen und Sprachen etwas weiß und versteht. Wie Lisette Buchholz so hübsch formuliert hat, er war überall zu Hause, und nicht, wie die postmodernen Nomaden, überall heimatlos. Und weil ich ein jüdisches Emigrantenkind aus der Generation bin, die den Nationalsozialismus noch zu verstehen versucht und seine Mitläufer noch erlebt hat, vertrete ich die derzeit nicht opportune Idee, dass der Unterschied nicht nur ein kulturelles, sondern vor allem ein politisches Problem sei. Zur Politik gehört, dass mehrere Leute, eine Nation oder eine Gruppe, ein Bild haben, eine Vorstellung, eine Idee, was man wollen könnte. Ohne Vorstellung von den Möglichkeiten einer Verständigung werden die um ihren Bauchnabel und ihre Identität kreisenden Ethnien kein gemeinsames Haus bauen. Auch jene Gesellschaft, die wir als scheinbar stabiles Maß nehmen, wenn von Auflösung aller Strukturen die Rede ist, hat ihre "gemeinsame Kultur" aus vielen abgeschotteten Gruppen und Untergruppen mit jeweils eigenen Gesetzen und Gewohnheiten erst nach und nach entwickelt. Juden hatten sie - neben anderen Mittlern, Reisenden, Flügelmännern und Toröffnern - verfugt, weil sie am Rand standen, verschiedene Sitten und Welten kannten, Verwandte andernorts oder heftige Gründe für ihr Engagement beim Brückenschlag hatten. Im gegenwärtigen Babylon werden Juden diese Aufgabe nicht mehr erfüllen können, weil die Verfolgung zu erfolgreich war.
Aber es hat immer Grenzüberschreiter, Übersetzer, Kommunikatoren gegeben, auch jetzt gibt es Einzelne, die aus ihren ziemlich geschlossenen Emigrantenkulturen ausbrechen, Transmitter wie die türkische Schriftstellerin, die nicht nur über türkische Angelegenheiten schreiben will, der Molukke, der nicht mit Folklore, sondern als Dirigent klassischer europäischer Musik zu reüssieren versucht, Außenseiter von Minderheiten-communities, die sich als Einzelne mit den Grenzgängern anderer communities oft besser verstehen, als mit ihren Ahnen.
Emigrans ist nicht mehr aktuell. Ich würde trotzdem gerne einen Platz dafür reservieren, in Schmuddelecken, als Keime und Viren gegen Saubermänner, Säuberer, Menschen züchter.
Man sollte, wollte ich abschiednehmend vom Etikett "second generation" sagen, das Wissen über Emigrans aufheben. Vielleicht wird es noch einmal gebraucht. Mein Vorschlag wäre, es zwischenzulagern. Als Ort eignen sich möglicherweise die nicht so recht mit Leben gefüllten Jüdischen Museen in Berlin oder auch in Wien.
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