Zweiter Klasse von Ost nach West

Hör-Bar Roger Willemsen fährt dorthin, wo die meisten nicht hinwollen, die Mehrheit jedoch zu Hause ist

Magdeburg ist ein einziges riesiges Einkaufszentrum, Rostock hat eine Barkeeperschule, und Hildchen aus Eisleben hat alles verloren: ihren Sohn im Krieg, ihren Laden nach der Vereinigung und ihre Gesundheit irgendwann. Viel architektonischer Glanz ist also nicht mehr übrig von Magdeburg, viel biografischer nicht mehr im Leben von Hildchen. Aber er reicht aus, um die Netzhaut von Roger Willemsen zu belichten, und das, was er sieht und zu berichten weiß, genügt, mit unseren Gedanken das Gleiche zu tun und unsere schwarz-weiß gewordenen Erinnerungen mit einem verhaltenen Farbfilm zu überziehen.
Roger Willemsen fuhr im Sommer des vergangenen Jahres weit weg. Nach Deutschland. Wochenlang reiste er mit der Bahn durch die Republik und berichtet in DeutschlandReise von seinen skurrilen wie anrührenden Beobachtungen und Begegnungen, von Menschen und ihren Hoffnungen oder dem, was davon übrig blieb. Viel ist das im Osten nicht.
Rostock-Lichtenhagen. Heute gilt die Stadt als die unternehmerfreundlichste im Osten. Dem Kapital gibt man gern Asyl. Um den "Brunnen der Lebensfreude" lungern die Punks, und die Attraktion für das nächste Wochenende heißt DJ Bobo. In Rostock begegnet Roger Willemsen Katrin, mit der er einige Tage unterwegs sein wird. Sie zeigt ihm ihr Poesiealbum und selbstgeschriebene Gedichte, und sie will das tun, was im Moment alle ihrer Generation machen, um Aufmerksamkeit zu erregen: ein Buch schreiben. Später wird sie sich bei ihm melden und sagen, dass sie jetzt eine Arbeit gefunden hätte und dass das ganz toll ist. Schreiben ist es nicht.
Wünsche und Ziele sind schnell entflammbar und haben die Biografie eines brennenden Streichholzes. Aber es kann nicht schaden, auf Reserve zu träumen. Vielleicht kann man ja dem Leben irgendwann mal wieder erfolgreich unter die Arme greifen.
In einer anderen Stadt vielleicht? Berlin ist einen kurzen Aufenthalt wert. Gendarmenmarkt, Potsdamer Platz oder Ku´damm locken allenfalls als touristische Attraktionen, geben aber nichts mehr her im abgewetzten Veranstaltungskalender der Hauptstadt. Ein heruntergekommenes Hotel erzählt da schon mehr von der Großstadt; von vereinsamten Menschen, alle mit Handy-Anschluss, aber ohne Verbindung zum Nächsten. Willemsen geht dorthin, wo die meisten nicht hinwollen, die Mehrheit in diesem Land jedoch zu Hause ist.
Luthers Sterbehaus in Eisleben liegt zwischen der Schuhgalerie Weiland und der Schwangerenberatung von Pro Familia - Sandwichcharakter der neuen Zeit. In Frankfurt an der Oder treffen sich die jungen Leute am Fluss, um die Zeit totzuschlagen. Pärchen liegen am Ufer und machen etwas, das nach Liebe aussieht. Und am Abend gehen die Herren rasierwasserduftend und illusionsgeschwängert über die Brücke in den anderen Osten.
Im Westen werden die Städte größer und die Sorgen kleiner. Das junge Mädchen aus Frankfurt/Main hat ein Bewerbungsgespräch als Kellnerin und flüstert anschließend in ihr Handy: "Ich glaub´, ich hab´s." Kurze Zeit später schmiegt sie sich im Kino an ihren Freund. Der aber hat nur Augen für Angelina Jolie: Auch den glaubt sie zu haben.
Hier im Westen, wo Hausfrauen mit blaugespülten Dauerwellen in den Straßencafés sitzen, ihre Goldringe in den gepflegten Falten der Langeweile ihrer Finger versinken und ihr Ausgehkostüm auf die Fellfarbe ihres Pudels abstimmen, muss der Himmel immer blau sein und die Verheißungen groß. Alles ist schöner, aufgeräumter und ein bisschen wichtiger als in Naumburg oder auf Rügen.
Wenn man dem Überfluss ausweichen will, geht man am besten gleich ins Wasser. In Baden Baden zum Beispiel. Hier kann man nur noch in heißen Sprudelthermen die Langeweile ertränken oder man geht ins Bordell. Wie der alte Herr mit dem Hund, der seiner Frau sagt, er führe den Köter spazieren. Doch in Wirklichkeit gibt er ihn beim Taxistand ab und geht ins Freudenhaus. Der Hund wird dann den Taxifahrern immer weiter nach hinten gereicht, und irgendwann holt sich der Mann ihn dann miesepetrig wieder ab. Wer möchte da noch fragen, wer wo welches Geschäft verrichtet.
Willemsen ist ein unbestechlicher Reisebegleiter. Seine Augen lassen sich nicht betrügen, und seine Sprache gaukelt uns nichts vor. Der Besichtigung von Ost-West-Klischees verweigert er sich und erspart uns damit einen Ausstellungsbesuch auf einer Fläche von 356.945 Quadratkilometern. Seine Neugier ist jungfräulich, sein Blick ehrlich, und die Gespräche, die er führt oder ablauscht, sind es auch. Sein Credo war, "dem Schönen nicht zu nahe zu kommen, dann ist es nicht mehr so". Die wirkungsvollen Prinzipien haben meist etwas mit Liebe zu tun.
Seine Reise durch die gemäßigten Zonen dieser Republik ist eine Suche nach der eigenen Identität. Und wie man zuweilen erschrickt, wenn man sich begegnet. Man war ja selbst schon überall. Und war es nicht auch Hildchen, die man in Eisleben traf? Und war es nicht auch Katrin, der man in Rostock begegnete? Aber rote Haare hat heute Dank PolyKur jede zweite Frau im Osten. Und ist ein bisschen Magdeburg, ein bisschen Verheißung, ein bisschen Verlorensein nicht überall? Das Schöne ist immer einfach, das Einfache nicht immer schön. Zwischen Wahrnehmen und Erkennen können Welten liegen.
Doch, man kann der Zeit ein Schnippchen schlagen. Da gibt es die Tochter, die im Zug sitzt und von der Beerdigung ihrer Mutter kommt. Die Mutter hat ihr und ihrer Schwester an ihrem 50. Gebrutstag gesagt, dass sie ja gar nicht 50 wird, sondern eigentlich schon 60. Das hätten sie ihrer Mutter nicht zugetraut; der Mutter doch nicht! Aber scheinbar hat der Mensch das Bedürfnis, zum Schluss wieder alles an seinen Platz zu stellen; auch Jahre. "Gehören Sie zu der Urne?" wurde sie auf dem Friedhof gefragt. Man muss schon zweiter Klasse fahren, um wie Willemsen dem Leben auf die Schliche zu kommen.
DeutschlandReise ist eine Reise zu uns selbst. Man muss die Dinge berühren und sich von den Dingen berühren lassen, will man sie nicht auf dem Erlebniswühltisch opfern. Es ist alles vertraut und schon dagewesen, aber jede Begegnung lässt das Bekannte wieder jungfräulich erscheinen, und jeder neue Ort gibt ihm ein anderes Zuhause. Hört man Willemsen zu, erfahren alle neuzeitlich rudimentär gewordenen Sinne wieder um die Macht ihrer Bedeutung.

Roger Willemsen: DeutschlandReise. LIDO. Der Hörbuchverlag, Eichborn, Frankfurt/M. 2002, 24,90 Euro


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