Alles muss sich rechnen und die Kriterien betriebswirtschaftlicher Effizienz erfüllen. Diese Grundregel des "shareholder capitalism" dominiert mittlerweile nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und verdrängt hierzulande immer mehr die vergleichsweise moderate Form des "Rheinischen Kapitalismus". Dies hat vor allem in sozialpolitischer Hinsicht verheerende Konsequenzen. Unter dem Gebot von Effizienz und Deregulierung streben führende Politiker parteiübergreifend die weitgehende Privatisierung des sozialen Sektors an. Auch das Gesundheitswesen soll - aller sozialdemokratischer Kosmetik zum Trotze - den vermeintlich heilenden Kräften des Marktes unterworfen werden. Kranke und Pflegebedürftige werden kurzerhand zu Kunden umdefiniert, obgleich ihnen di
die hierfür notwendige Nachfragemacht aufgrund von Alter und/oder Krankheit schlichtweg fehlt. Ein marktwirtschaftlich funktionsfähiges Gesundheitswesen birgt jedoch die Gefahr einer neuen sozialen Auslese in sich: Der alte und (chronisch) kranke Mensch wird, da unproduktiv und gleichzeitig kostenintensiv, zunehmend zum "nutzlosen Esser", der junge und akut kranke Mensch wird, wirtschaftliche Solvenz vorausgesetzt, von Kassen und Leistungsanbietern hofiert.Dies erweist sich insbesondere in der Altenpflege als fatal, hat man es doch hier mehrheitlich mit alten, chronisch kranken und mehrfachkranken Patienten zu tun. Gerade dieser Personenkreis ist jedoch aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden, abgesehen von sporadischer und eher skandalisierender Berichterstattung über Pflegefehler und Missstände in Altenheimen. Gleichwohl gilt der pflegebedürftige Mensch als allgemeine finanzielle Last, die Pflegebedürftigkeit als Lebensrisiko, das jede und jeden treffen kann. Um so einleuchtender der Gedanke, eine entsprechende Versicherung gegen ein derartiges Risiko einzuführen, die die Finanzierung regelt. Die am 1. April 1995 in Kraft getretene Pflegeversicherung hat somit ihren gedanklich Ursprung keineswegs in sozialpolitischen oder gar sozialwissenschaftlichen Fachkreisen. Vielmehr wurde die Idee einer gesonderten Finanzierung der Pflege bereits Anfang der siebziger Jahre auf kommunaler Ebene geboren. Kein Wunder, hatten doch die Kommunen als Kostenträger unter den steigenden Ausgaben für die Pflege zu leiden. Doch stieß der Vorschlag, die Pflegekosten aus dem Sozialhilfebudget auszugliedern und dadurch die Kommunen finanziell zu entlasten, zunächst auf bundespolitischem Terrain auf wenig Gegenliebe. Noch Mitte der achtziger Jahre schalt Norbert Blüm die Pflegeversicherung eine Abschiebemaßnahme für Alte. Ein Sinneswandel trat erst ein, als die finanzielle Lage der Kommunen zunehmend prekärer wurde. Dem damaligen Kanzler Kohl und seinen Getreuen gelang ein geschickter Coup: Unter dem publicityträchtigen Slogan "Ausbau des Sozialstaates" wurde im Wahlkampf 1990 die Einführung der Pflegeversicherung avisiert, die (für den Bundesetat kostenneutral) eine verbesserte soziale Absicherung für die Alten, sprich für 25 Prozent der Wahlberechtigten, versprach, dabei allerdings eine elegante Umverteilung staatlicher Ausgaben zu Lasten sozial schwacher Bevölkerungsschichten vorsah. Zahlte zuvor das Sozialamt die Pflegekosten, so sind seit dem 1. April 1995 auch Einkommensschwache als Beitragspflichtige an der Finanzierung der Pflege nicht unerheblich beteiligt.Wie berechnet man Pflegebedarf?Doch die finanzielle Entlastung der Kommunen wollte nicht so ganz glücken. Da die Pflegekassen sich nicht mehr nach individuellem Bedarf richten, sondern nach festen Sätzen gemäß den vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MdK) ermittelten Pflegestufen I bis III, lässt sich oftmals nur ein Teil der tatsächlichen Kosten durch die Pflegeversicherung abdecken. Für einen Schwerstpflegefall reichen die Zahlungen für die Pflegestufe III - 1.432 Euro pro Monat - in der Regel nicht aus. Sind die eigenen Ersparnisse aufgebraucht, bleibt also auch hier wiederum nur der Gang zur Sozialbehörde. Um den Pflegebedarf zu errechnen, legte der MdK im August 1997 so genannte Zeitkorridore an (Beispiel: Stuhlgang - sechs Minuten). Doch eine 2001 veröffentlichte Studie, die die Alltagstauglichkeit solcher Zeitvorgaben untersuchte, belegte unter anderem eine erhebliche Diskrepanz zwischen den tatsächlich benötigten und den bewilligten Zeiten, welche deutlich kürzer ausfielen. Kritisiert wurde darüber hinaus, dass die Zeiten für bestimmte Tätigkeiten vom Zustand des Pflegebedürftigen und nicht von der exakten Definition der pflegerischen Handlung abhängig seien. Für eine menschenwürdige Pflege ist es daher unabdingbar, die Pflegekosten wieder an dem eigentlichen, mittels Pflegeanamnese und ärztlicher Begutachtung ermittelten Bedarf auszurichten. Denn der Terror des wirtschaftlichen Kalküls zwingt zur Stoppuhrpflege. Und genau darin, in dem alltäglichen Horror von Hast und Hetzerei, Zeitnot und Ungeduld, Vereinsamung und Vernachlässigung besteht der Missstand, die Unmenschlichkeit im Umgang mit alten, kranken, oftmals in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit und ihrem verbalen Ausdrucksvermögen beträchtlich eingeschränkten und ihren Helfern somit wehrlos ausgelieferten Menschen. Mehr als eine Million Patienten werden in Deutschland zu Hause gepflegt, knapp 600.000 von ihnen sind schwer, circa 140.000 schwerst pflegebedürftig; von den über 400.000 Heimbewohnern sind circa 170.000 schwere und etwa ebenso viele schwerste Pflegefälle. Nach Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen und den damit einhergehenden verkürzten Liegezeiten in den Krankenhäusern - Stichwort "blutige Entlassung" - wird die Zahl der ambulanten (Kurzzeit-)Pflegen deutlich steigen.Sieht man diese Zahlen, ist es umso gravierender, dass es an qualifiziertem Pflegepersonal mangelt. Viele ambulante und stationäre Arbeitgeber stellen aus Kostengründen zudem vermehrt Hilfskräfte ein, um den eigenen Gewinn zu steigern oder um im Wettbewerb bestehen zu können. Zwar schreibt die Personalverordnung einen Examiniertenanteil von 50 Prozent vor, doch muss der nicht eingehalten werden, wenn sich keine Fachkraft finden lässt. Schlechte Bezahlung, miserable Arbeitsbedingungen und das öde Image des "Urinkellners" haben außerdem dazu geführt, dass vor allen Dingen in der Altenpflege erhebliche Nachwuchssorgen zu verzeichnen sind. Mancherorts ist daher mittlerweile nicht einmal ein Hauptschulabschluss von Nöten, um den Beruf des Altenpflegers zu erlernen. Immerhin regelt das neue Altenpflegegesetz, welches am 1. August diesen Jahres in Kraft treten soll, endlich eine bundesweit einheitliche, dreijährige Ausbildung (bislang gab es 16 verschiedene Länderregelungen), die vorsieht, medizinische Inhalte zu vertiefen sowie neue Schwerpunkte in den Bereichen Beratung, Begleitung und Betreuung alter Menschen setzt. So möchte man diesen Beruf zukünftig für Schulabgänger attraktiver machen, was allerdings angesichts der bestehenden Rahmenbedingungen wenig realistisch sein dürfte. Der gegenwärtige Mangel an Pflegefachkräften - allein in Hamburg fehlen in der ambulanten Pflege circa 400 examinierte Kranken- bzw. Altenpfleger - hat aber noch einen andere Grund: Die Mehrheit der Pflegekräfte quittiert fünf, spätestens sieben Jahre nach dem Examen aufgrund unzumutbarer psychischer und physischer Belastung den Dienst.Wenig Widerspruch im BerufsstandTrotz der desolaten Lage haben sich die professionell Pflegenden bislang in der gesundheitspolitischen Debatte nicht gerade mit Ruhm bekleckert, im Gegenteil. Wer im Rahmen der beruflichen Sozialisation darauf geeicht wird, selbst die dümmste Arztanordnung klaglos auszuführen, bringt wenig Verständnis für individuellen Widerstand oder politischen Protest auf und ist durchweg hochgradig leidensfähig. Erschwerend kommt hinzu, dass die Pflege sich mit zunehmender Verwissenschaftlichung mehr und mehr zu einer Art "selbstbezüglichem System" entwickelt. Zahllose Fort- und Weiterbildungen haben ihr Ziel leider in aller Regel darin, die Pflege an veränderte Vorgaben optimal anzupassen, die etwa durch die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen entstanden sind. Auch die Pflegewissenschaft schweigt angesichts der Misere und profiliert sich lieber damit, neue Messinstrumente zu entwickeln, die pflegerische Leistungen ermitteln sollen. Sie übersieht, dass genau diese quantitativen Messverfahren letztlich dazu dienen, unter dem Vorwand der Qualitätssicherung einzelne Leistungsanbieter wirtschaftlich vergleichbar zu machen, letztlich aber gegeneinander auszuspielen, um Kosten zu senken.Die Bedingungen, unter denen Alte und Kranke in unserer vermeintlich hochzivilisierten Gesellschaft gepflegt werden, stellen einen permanenten Verstoß gegen Artikel 1 des Grundgesetztes dar. Eine wirtschaftlich profitable Pflege mit nächstenliebendem Antlitz kann es nicht geben. Diese Gesellschaft muss sich also entscheiden: ökonomische Effizienz oder Menschlichkeit und unantastbare Würde.n
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