Kinder mit zweierlei Maß gewogen

Unehrenhaftes Jubiläum In Deutschland gibt es immer noch Vorbehalte gegen die vor zehn Jahren ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention

Im Umgang mit der schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppe von Flüchtlingen, den Flüchtlingskindern, zeigen zivilisierte Staaten, wie zivilisiert sie wirklich sind. Kinder sind in vielen Ländern der massiven Verletzung von Lebenschancen und Rechten ausgesetzt. Um diese Situation entscheidend zu verbessern, verabschiedete die Staatengemeinschaft am 20. November 1989 die UN-Kinderrechtskonvention. In Deutschland ist sie am 5. April 1992 - vor genau zehn Jahren - in Kraft getreten, allerdings mit Vorbehalten, die sich besonders gravierend zu Lasten der am stärksten gefährdeten Flüchtlingsgruppe auswirken, den Kindern.
Obwohl die große Mehrzahl der unbegleiteten Flüchtlingskinder aus Kriegs- und Krisengebieten kommt und in ihrem Leben bereits Schlimmes erlebt und erlitten hat, ignoriert Deutschland auch unter der rotgrünen Bundesregierung ihnen gegenüber seine besonderen staatlichen Schutz- und Fürsorgepflichten. Die von der damaligen Bundesregierung bei der Ratifizierung abgegebenen Vorbehaltserklärungen blockieren die Anwendung der Bestimmungen der Kinderrechtskonvention, mit der fatalen Folge, dass für Flüchtlingskinder in Deutschland nicht das nach Artikel 3 der Konvention vorrangig zu berücksichtigende "Kindeswohl" zählt, sondern als erstes das Asylverfahrensrecht und das Ausländergesetz.
Kinderflüchtlinge gehören zur am stärksten gefährdeten Flüchtlingsgruppe - dennoch wird ihnen Hilfe in Deutschland nur "unter Vorbehalt" zuteil. Ihr rechtlicher Status und dadurch bedingter sozialer Ausschluss sind besorgniserregend: Ab 16 Jahren werden sie asyl- und ausländerrechtlich als Erwachsene behandelt. Viele müssen entwürdigende Methoden zur Altersbestimmung über sich ergehen lassen, weil Behörden häufig das angegebene Alter anzweifeln. In großen Sammellagern drohen sie zu verwahrlosen und etliche Minderjährige sitzen sogar in Abschiebungshaft. Immer wieder werden Minderjährige alleine abgeschoben: Ohne dass sich jemand um ihre Zukunft kümmert, werden sie einem ungewissen, perspektivlosen und nicht selten auch lebensbedrohlichen Schicksal überlassen.
Seit Jahren setzen sich daher Experten und Fachgremien dafür ein, dass die Vorbehalte zurückgenommen werden, darunter alle befassten Kinder-, Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen und andere. Schon 1995 hat sich der UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder über die deutsche Praxis sehr besorgt gezeigt: Das Diskriminierungsverbot, der Vorrang des Kindeswohls, die Hilfe für Flüchtlingskinder und wesentliche Schutzbestimmungen seien in Deutschland "offensichtlich nicht garantiert".
Seit 1992 haben die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen immer wieder versprochen, im Falle der Regierungsübernahme die Vorbehalte zurückzunehmen und die UN-Kinderrechtskonvention auch für Flüchtlingskinder umzusetzen. Nach der Wahl von 1998 haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages insgesamt drei Mal - zuletzt nach Beschluss des Petitionsausschusses des Bundestages - an die rotgrüne Bundesregierung appelliert, endlich Abhilfe zu schaffen, die Vorbehalte zurückzunehmen und die Kinderrechtskonvention für alle Kinder umzusetzen. Aber trotz dieser Beschlüsse und der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik sieht auch das gerade verabschiedete Zuwanderungsgesetz für minderjährige Flüchtlinge keinerlei Verbesserungen vor. Es bleibt bei der Handlungsfähigkeit mit 16 Jahren, bei Drittstaatenregelung, Flughafenverfahren, Abschiebungshaft und Abschiebung auch für Minderjährige. Das Votum des Petitionsausschusses des Bundestages wurde im vorliegenden Gesetz nicht aufgegriffen. Die Bundesregierung, durch den Ausschuss zur Umsetzung der Forderung aufgefordert, bleibt nach wie vor untätig.
Diese Verschleppung schafft weitere Probleme: Was müssen von Abschiebung bedrohte Flüchtlingskinder empfinden und wie wird auch deutschen Kindern und Jugendlichen Toleranz, Wert und Würde und die Achtung vor der Gleichheit aller Menschen und Kulturen vermittelt, wenn sie von klein auf mit bürokratischen Benachteiligungen und Integrationsverweigerung konfrontiert sind? Die Vorbehalte gegen die Konvention stehen für staatlich geschürtes Misstrauen und gesetzlich verankerte Vorurteile, die Jugendlichen vermitteln, dass in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen wird: Für Mitschüler und Mitschülerinnen aus anderen Ländern soll nicht gelten, was die europäischen Werte, die Kinderrechtskonvention und unsere Verfassung unter "Menschenwürde" und "Kindeswohl" verstehen und schützen. Die Rücknahme der Vorbehalte und die volle Umsetzung der Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention wären daher auch im Kampf gegen Rechtsradikalismus und Gewalt ein deutliches Signal der Politik gegen Fremdenfeindlichkeit, dokumentierte sie doch, dass der in der UN-Konvention verankerte Grundsatz des Kindeswohls oberste Priorität im Umgang mit allen Kindern in Deutschland hätte und die deutsche Gesellschaft die Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungleichbehandlung von Kindern ohne deutschen Pass nicht länger zulässt.
Der Umgang der verantwortlichen Regierungen Kohl und Schröder mit Flüchtlingskindern ist seit nunmehr zehn Jahren ein Lehrstück über systematische Ausgrenzung und staatliche Missachtung von Völkerrechtsnormen. Darin manifestiert sich nicht nur eine offensichtliche Verletzung der Fürsorge- und Schutzpflichten des Staates und seiner Behörden gegenüber ihm anvertrauten Minderjährigen sondern auch mangelhaftes Demokratieverständnis der politisch Verantwortlichen.
Die Verabschiedung der Kinderrechtskonvention durch die Vereinten Nationen wurde als "Meilenstein" in der Entwicklung des Völkerrechts, ihre Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag vor zehn Jahren als "Sternstunde" für die Menschenrechte gefeiert. Die Politik hat es in der Hand, dieses erste Jahrzehnt nach der Ratifizierung nicht zu einem gänzlich verlorenen Jahrzehnt im Kampf um die Kinderrechte werden zu lassen. Ein Gesetzentwurf zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland liegt bereits vor. Die Abgeordneten könnten durch eine Entscheidung des Parlaments dafür Sorge tragen, dass sich die Wirklichkeit der Situation von Flüchtlingskindern in Deutschland nicht weiter "meilenweit" von ihren Rechten entfernt und die "Sternstunde" der Verabschiedung der Kinderrechte nicht als "Sternschnuppe" bei ihrer Umsetzung verglüht.

Heiko Kauffmann ist Vorstandsmitglied und war Sprecher von Pro Asyl.

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