Arbeit ist ein Menschenrecht

Ablasshandel Bedeutet ein Recht auf Grundeinkommen nicht den Ausverkauf eines einklagbaren Rechts auf Arbeit?

Die Massenarbeitslosigkeit brach nicht über Nacht herein. Sie entwickelte sich über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten. Dabei wurden zwei gesellschaftliche Brüche sichtbar. Eine schmaler werdende Schicht ökonomisch immer besser Gestellter stößt sich ab von einer sich verbreiternden Schicht prekarisierter Lohnabhängiger und Selbstständiger. Deren Erpressbarkeit und Abstiegsangst führt ihrerseits zur Entsolidarisierung gegenüber den Arbeitslosen. Diese werden auf schmale Kost gesetzt und unterliegen den volkserzieherischen Maßnahmen einer neuen Superbürokratie. Ihre Ineffektivität macht weitere Leistungskürzungen und die Verstärkung von Zwangsarbeit wahrscheinlich. In dieser Situation entfalten die Vorschläge zu einem bedingungslosen, existenzsichernden Grundeinkommen ihren Charme.

Ein solches Recht, so argumentieren seine Befürworter, erlöste die Arbeitslosen von demütigenden Nachweisen ihrer Arbeitswilligkeit und ihrer Bedürftigkeit. Es entmachtete mit einem Schlag die teure, bevormundende Bürokratie. Und nähme von den Arbeitenden den Druck vor einem Absturz ins Nichts. Eben wegen dieser guten Gründe ist die Durchsetzbarkeit eines Rechts auf ein Grundeinkommen eher skeptisch zu beurteilen. Denn es würde den langfristigen Planungen des neoliberalen Projektes erhebliche Hindernisse in den Weg legen. Zwar verstößt die Harz IV-Bürokratie gegen die Lehrmeinung vom schlanken Staat, aber auf den pausenlosen Druck auf Arbeitende wie Arbeitslose kann aus dieser Perspektive nicht verzichtet werden. Bevor man sich über die Realisierbarkeit eines Rechts auf Grundeinkommen Gedanken macht, sind Zweifel an seiner normativen Richtigkeit auszusprechen.

Betrachten wir das ökonomische Problem auch einmal als ein demokratisches, so sehen wir eine Art Ablasshandel vor uns. Die unfreiwillige Massenarbeitslosigkeit ist ja nicht einfach eine Folge des schwachen Wirtschaftswachstums, sondern eine der ungerechten Verteilung der Arbeit. Sie wird gesteuert durch bestimmte Konstellationen wirtschaftlicher und politischer Macht. Gehört ein individuelles, einklagbares Recht auf Arbeit aber nicht zum Bündel der sozialen Grundrechte? Ein Grundrecht darf nicht um geringerer Rechte willen aufgegeben werden. Wäre ein Recht auf Grundeinkommen nicht ein Ausverkauf des Rechts auf Arbeit? Ein unzulässiger Vertrag, bei dem Abhängige ihrem sozialen Ausschluss zustimmen sollen?

Leider machen es die theoretischen Versäumnisse schwer, diese Fragen ohne Umschweife zu beantworten. In die Zeit der Massenarbeitslosigkeit fiel auch eine Wiederkehr der praktischen Philosophie. Trotzdem gab es erst in den letzten Jahren ansatzweise Versuche, ein Recht auf Arbeit zu begründen. Bis in die siebziger Jahre hinein herrschte die Doktrin des politischen Liberalismus (bekannte Vertreter sind Talcott Parsons und John Rawls). Ihr zufolge bilden die Menschenrechte die Grundlage einer legitimen und vernünftigen politischen Ordnung. Sie können in drei Klassen von Grundrechten eingeteilt werden: in liberale Freiheitsrechte, politische Teilnahmerechte und soziale Teilhaberechte. Die liberalen Freiheitsrechte schützen die Person im Hinblick auf ihre Freiheit, ihr Leben und ihr Eigentum. Die politischen Teilnahmerechte ermöglichen der Person das Mitwirken an den Prozessen der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung. Die sozialen Teilhaberechte dienen dazu, den gerechten Anteil bei der Verteilung von Grundgütern wie Arbeit, Bildung, Subsistenz, Sicherheit oder medizinischer Versorgung zu garantieren. Wenn man akzeptiert, dass zur Bestimmung der jeweiligen Freiheitsspielräume immer schon Gleichheit anerkannt werden muss, so lässt sich eine innere Entwicklungslogik von der Formulierung der liberalen Freiheitsrechte zu den politischen Teilnahmerechten und von dort aus zu den sozialen Teilhaberechten ausmachen. In dieser Entwicklungslogik sind zwei Momente miteinander verschränkt: eine Ausweitung des materialen Gehalts der postulierten Rechte einerseits und andererseits eine soziale Ausdehnung des Rechtsverhältnisses auf "alle". Dieser logischen Entwicklung der Menschenrechte entspricht offensichtlich auch eine historische.

In der Sicht des politischen Liberalismus ist die Freiheit der Grund der sozialen Rechte. Als ein vollwertiges Mitglied eines politischen Gemeinwesens muss jede Person so mit sozialen-materiellen Gütern ausgestattet werden, dass sie ohne Scham am Prozess der Meinungs- und Willensbildung teilnehmen kann. Die Begründung der sozialen Rechte erfolgt jedoch nur relativ zur persönlichen Freiheit (garantiert durch die liberalen Freiheitsrechte) und politischen Freiheit (garantiert durch die politischen Teilnahmerechte). Deshalb bleibt ihr Status schwach. Die neuartigen ökonomischen Probleme, die Mitte der siebziger Jahre auftraten, schienen den Primat der Wirtschaft vor der Politik zu belegen. So bekam eine politische Philosophie die Oberhand, die eigentlich schon abgeschrieben schien. Die libertäre Spielart des Liberalismus (formuliert von Theoretikern wie Friedrich August Hayek, Milton Friedman oder Robert Nozick) lehnte im Namen der Freiheit die Anerkennung sozialer Rechte als Menschen-und Grundrechte ab. Die Freiheit genoss hier absoluten Vorrang vor allen anderen moralisch-politischen Werten. Die Libertären überdehnten einerseits den Begriff der Freiheit. Mögliche Partnerwerte wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Demokratie erschienen als aus der Freiheit "abgeleitet". Andererseits nahmen die Libertären den Begriff der Freiheit nicht wirklich ernst und verengten ihn auf dramatische Weise. Die Verengung des Freiheitsbegriff zeigte sich mit seiner Überdehnung direkt verbunden und mündete in einem refeudalisierenden Umbau der politischen Landschaft.

Dieser Vorgang rief den liberalen Egalitarismus (zum Beispiel B. Ronald Dworkin, Ernst Tugendhat, Stefan Gosepath) auf den Plan. Wie der politische Liberalismus plädiert diese Anschauung für die Anerkennung sozialer Grundrechte. Der Grund ist hier jedoch das Prinzip der "gleichen" Gerechtigkeit. Die sozialen Teilhaberechte werden nicht als Anhängsel der persönlichen und politischen Freiheit betrachtet. Die Rangfolge zwischen den drei Klassen der Grundrechte, wie ihn der politische Liberalismus behauptet, ist im liberalen Egalitarismus aufgelöst zugunsten eines gleichberechtigten Verhältnisses. Jede Klasse ist notwendig, aber allein nicht hinreichend. Erst im wechselseitigen Zusammenspiel ist die Sicherung jeder einzelnen Klasse für sich möglich. Mit der Gleichberechtigung der sozialen Rechte wird eine unverzichtbare dritte Dimension der Freiheit eingeführt, die der sozialen Freiheit.

Inkonsequenterweise treffen wir auch im liberalen Egalitarismus selten auf Bemühungen, das Recht auf Arbeit zu begründen. Bereits eine erste Durchsicht zeigt die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens: Die Anerkennung eines Rechts auf Arbeit muss so konzipiert werden, dass die Arbeitsfähigen nicht gegenüber den Abhängigen wie Kindern, Altern oder chronisch Kranken als Rechtssubjekte bevorzugt werden; die faktische Kodifizierung eines solchen Rechts steckt erst in den Anfängen; der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit unterliegt historischen Veränderungen; als ein Grundrecht müsste ein Recht auf Arbeit die Form eines einklagbaren subjektiven-öffentlichen Rechts annehmen und im Rahmen der Berufsfreiheit ausgelegt werden. Dazu wären institutionelle Erfindungen notwendig und tiefgreifende Veränderungen des Wirtschaftssystems. - Angesichts der unübersichtlichen Materie sind jene Begründungen eines Rechts auf Arbeit mit Skepsis zu betrachten, die sich lediglich auf einen einzigen Grund beziehen. Dieser Grund kann "Bedürfnis" heißen (so bei Stephan Schlothfeldt), "Anerkennung" (bei Angelika Krebs) oder "Eigentum" (bei Ulrich Steinvorth). Aussichtsreicher als "einfache" Begründungsstrategien scheinen komplexe, "gemischte" Begründungen, deren einzelne Gründe als Entkräftungen möglicher Einwände konzipiert sind. Diese Einzelgründe legen wiederum die unterschiedlichen Bedingungen fest, die die praktischen Lösungen erfüllen müssten, um wirklich als Einlösung eines Rechts auf Arbeit gelten zu dürfen.

Eine solche Argumentation könnte mit einem materiellen Grund beginnen. Arbeit dient dazu, jene materiellen Güter zu erwirtschaften, die nötig sind, um zu leben. Erst wenn die Subsistenz gesichert ist, ist es möglich, die liberalen Freiheitsrechte und politischen Teilnahmerechte wahrzunehmen. So gesehen, ist das Recht auf Arbeit ein Basis-Recht. Es könnte jedoch eingewandt werden, dass ein Grundeinkommen dieses Argument entkräften könnte. Eine Antwort böte zweitens ein Grund, der sich auf das menschliche Wohlergehen bezieht. Das Arbeitsvermögen ist eine zentrale menschliche Eigenschaft. Jeder Erwachsene möchte nicht nur darin Befriedigung finden, dass seine Arbeit Zwecke erfüllt. Der Gebrauch des Arbeitsvermögens ist ein Selbstzweck. Die Ausbildung und der Gebrauch der eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten bilden selbst einen Inhalt guten Lebens. In dieser Tätigkeit kann eine Person sich von niemanden vertreten lassen.

Hier könnte eingewandt werden, dass das moderne Arbeitsleben entfremdet ist. Es sollte besser darum gehen, die gestiegene Produktivität dazu zu nutzen, die Menschen von schwerer und stumpfsinniger Arbeit zu "befreien". Eine Entgegnung auf diesen Einwand stellte drittens ein sozialer Grund dar. Wer arbeitet, arbeitet nicht nur aus einem aufgeklärten Eigeninteresse, sondern er erfährt sich als Teilnehmer eines arbeitsteiligen Kooperationszusammenhangs. Jeder arbeitet auch für bestimmte und beliebige andere. Die spezifische Leistung entfremdeter Arbeiten besteht darin, andere von diesen Arbeiten zu entlasten. Damit aber die Stellung des Einzelnen nicht zur Ausbeutung benutzt werden kann, benötigt man viertens einen gerechtigkeitstheoretischen Grund. Die Nachteile, die diejenigen erleiden, die entfremdete Arbeiten ausführen, müssen durch Ungleichbehandlung ausgeglichen werden. In diesen Fällen ist die Ungleichbehandlung gerechtfertigt. Und allen Personen sollte durch das Recht auf Arbeit der gleiche Zugang zur Arbeitswelt eröffnet werden.

Die Durchsetzbarkeit eines solchen Rechts wäre noch schwieriger als die eines Rechts auf bedingungsloses Grundeinkommen. Die Art der gängigen Auslegung und Verschränkung von Freiheits- und Eigentumsrechten wirkt nämlich de facto wie ein "Recht" auf die beliebige Steigerung der ökonomischen Ungleichheit. Ein Recht auf Grundeinkommen zementierte diese Ungerechtigkeit. Philippe van Parijs, der wohl wichtigste Theoretiker des bedingungslosen Grundeinkommens, verfällt hier in einen merkwürdigen Korporatismus. Von den Gewerkschaften erwartet er als Gegenleistung für das Grundeinkommen mehr oder weniger den Verzicht auf das Streikrecht. Von den Unternehmern erwartet van Parijs, statt Kapitalflucht ins Ausland, eine Art solidarischen Patriotismus. Sind Gewerkschaften ohne Streikrecht noch Gewerkschaften? Und Unternehmer, die ihre Gewinnorientierung der Erwirtschaftung des Grundeinkommens opfern? Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein? Das Kapital bleibt eine strukturelle Form der Ausbeutung von Arbeit. Über diese unüberschreitbare Grenze der Demokratie und der Aufklärung täuschen sich auch jene Denker, die zwar ein Grundeinkommen ablehnen, aber glauben, mit einer "einfachen" Begründung eines Rechts auf Arbeit die notwendigen sozialen Verbesserungen in Gang setzen zu können. Sie rechtfertigen unter normativ fragwürdigen Nützlichkeitserwägungen die kapitalistische Wirtschaftweise. Ihre Vorschläge zur praktischen Einlösung eines Rechts auf Arbeit ähneln altbekannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ohne ökonomische Gerechtigkeit gibt es aber letztlich keine demokratische Freiheit. Sie besteht nicht in der Unantastbarkeit einer bestimmten Privilegienordnung, sondern in der faktischen gleichen Freiheit für alle. Ein subjektiv-öffentliches Recht auf Arbeit bedeutete einen Schritt in dieses echte historische Novum. Erst durch die staatliche Institutionalisierung würde aus dem moralischen Menschenrecht ein einklagbares politisches Grundrecht. Die nationalstaatliche Ebene wäre in der globalisierten Wirtschaft noch durch rechtliche Kodifizierungen auf der Ebene der Weltgemeinschaft zu ergänzen.


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