In der Freitag-Serie zu den Perspektiven der Linken in Deutschland schrieben bisher der Berliner Soziologe Wolfgang Engler (5/08), der Frankfurter Publizist Mario Scalla (7/08), der Hamburger Philosoph und Sozialwissenschaftler Roger Behrens (13/08), der Frankfurter Publizist Wilhelm von Sternburg (17/08) und die Wiener Schriftstellerin Marlene Streeruwitz (23/08).
Der Aufstieg des Neoliberalismus ist eine Niederlage der Demokratie. Wolfgang Engler sieht die herrschende Elite auf dem Weg in feudale Landschaften. Unter dem Etikett "Reformen" betreibe sie eine Politik, die im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung stehe. Das Verwunderliche daran ist: Warum schaffen sich die Bürger ihre Regierenden nicht einfach vom Hals? Es gibt doch Wahlen. Engler erklärt sich das Rätsel mit Hilfe des Philosophen David Hume. Jede Herrschaft der Wenigen über die Vielen gründe allein auf der Meinung. Es ist die Meinung der herrschenden Gruppe. Sie verengt das Spektrum der erlaubten Meinungen und stigmatisiert alle Vorstellungen eines Besseren, des "Wünschens -und Erstrebenswerten". Diese abweichenden Meinungen tummeln sich im "Alltagsbewusstsein" der Bürger und werden durch die eine Meinung an ihrer freien Entfaltung gehindert. Engler schlägt vor, einen "ersten Schritt zur (Selbst-) Aufklärung" zu tun. Jeder sollte für sich nach seinem eigenen Interesse urteilen. Die Kumulation der so gefundenen vielen Einzelmeinungen führe unausweichlich zur Auflösung des neoliberalen Machtblocks.
Merkwürdigerweise spricht Engler jedoch auch von einer demoskopisch ermittelten linken Mehrheit der Bevölkerung. Das heißt, der ganze volkserzieherische Aufwand der neoliberalen Weltanschauung hat nur beschränkte Wirkung. Viele Adressaten bilden sich eben doch eine eigene Meinung und folgen dabei eigensinnig ihren "spontanen sozialdemokratischen Überzeugungen". So stellt sich die Frage aufs Neue. Warum blieb dieser Widerspruch bislang ohne Folgen? Der zögerliche Wähler könnte sagen: Es gibt keine echte Wahl. Und wirklich, unter dem Einfluss des neoliberalen Dogmas haben die Parteien ihr Profil so aneinander angeglichen, dass sie im hohen Maße austauschbar wurden. Jene Partei, die hier nicht mitspielt, wird von den anderen zum Paria erklärt. Trotzdem regiert sie schon hie und da ein bisschen mit. Man hat es fast nicht bemerkt. Kaum an der Macht zerschrödern linke Regierungen schnell die Hoffnungen ihrer Wähler.
Dieses Phänomen macht deutlich, dass Englers Frage um die Ablösung des neoliberalen Regimes beantwortet werden muss mit Blick auf ein Strukturproblem. In einer parlamentarischen Demokratie mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung können die Reichen ihre wirtschaftliche Macht leicht in politische Macht umsetzen. Unabhängig vom jeweiligen Wahlergebnis entscheiden sie, was ihrer Ansicht nach gut ist für die Bevölkerung. Solange dieser Mechanismus in Kraft ist, ist in jede linke Regierungskoalition der Wortbruch eingebaut. Bis Mitte der siebziger Jahre teilten die Eliten unter den besonderen Bedingungen des Nachkriegs und der Systemkonkurrenz einen gewissen Gerechtigkeitssinn. Er brachte ungekannten Wohlstand auch in die unteren Schichten und sorgte für eine allmähliche Demokratisierung. So empfand die Bevölkerung die Bevormundung durch die Eliten kaum als Problem. Der Aufstieg der neoliberalen Lehre bedeutete die Aufkündigung des Gerechtigkeitssinns in den Eliten. Statt Demokratisierung also der Wachstumsimperativ. Die vorgebliche Sicherung des Standorts war eine Umverteilungspolitik von unten nach oben. Reichtum begann sich wieder ebenso klassenmäßig zu verfestigen wie die politische Macht. Unversehens finden sich die Bürger in prekarisierten Lebensverhältnissen wieder. Die Bevormundung durch die neoliberale Elite wirkt jetzt als ein Ärgernis. Es rührt an die normative Grundlage der Demokratie. Eine Herrschaft der Wenigen über die Vielen ist in einer demokratischen Verfassung schlichtweg illegitim. Daraus ergeben sich gegenüber Englers Ausführungen eine Reihe von Akzentverschiebungen.
Die erste betrifft die Rolle der Öffentlichkeit. Eine demoskopisch ermittelte Mehrheitsmeinung kann eine demokratische Meinungs- und Willensbildung nicht ersetzen. Die Demoskopen fragen fertige Meinungen nichtöffentlich ab. Selbst dann, wenn die Ergebnisse unmittelbar Gegenstand politischer Entscheidungen wären, wäre dies demokratisch gesehen unzureichend. Ziel ist die ergebnisoffene Bildung einer qualifizierten öffentlichen Meinung.
Die zweite Akzentverschiebung betrifft die Rolle der Bürger. Engler nimmt sie lediglich als Privatpersonen. Ihr politisches Urteilen denkt er sich in nichtöffentlicher Form. Als Maßstab empfiehlt er das eigene Interesse, das sie als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe haben. Im demokratischen Prozess urteilen die Bürger jedoch öffentlich, nicht als Privatpersonen, sondern als Staatsbürger. Wer sich als Mitglied eines politischen Gemeinwesens versteht, fragt nicht nur, was ist gut für mich (oder meine soziale Gruppe), sondern, was ist für alle gleichermaßen gut. Das heißt: Was ist gerecht?
Die dritte Akzentverschiebung betrifft die Legitimität der Herrschaft. Englers Gewährsmann Hume kennt nur aristokratische oder autokratische Herrschaft. Hier darf es nur eine Meinung geben, und das ist die Meinung der jeweils Herrschenden. Es existiert weder eine Öffentlichkeit, noch ein Pluralismus vernünftiger Standpunkte. Die Legitimität demokratischer Entscheidungen hingegen ist verknüpft mit der Qualität der öffentlichen Diskussion. Alle Bürger müssen sich wechselseitig als gleichberechtigte Teilnehmer anerkennen. Das Ergebnis eines gelungenen demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses ist jene öffentliche Meinung, von der sich auf überprüfbare Weise sagen lässt, dass sie einen allgemeinen Willen der Staatsbürger entwickelt. Die Exekutive hat lediglich die Aufgabe ihn auszuführen. Die Herrschaft bleibt beim Volk.
Mit diesen drei Akzentverschiebungen in der Rolle der Öffentlichkeit, des Bürgers und der demokratischen Legitimität lässt sich ein anderer Blick auf die Aufgaben der Linken werfen. Sie sollte die unterbrochene Demokratisierung der Gesellschaft auf neuem Niveau, dem Niveau der Globalisierung, fortsetzen. Die Ablösung des neoliberalen Regimes ist eine Herkulesarbeit. Trotzdem wird sie nicht ausreichen. Wo kann das Motiv, die gleiche Freiheit für alle zu sichern, in dieser Situation ansetzen?
Die Empörung über die neoliberale Förderung der ohnehin schon privilegierten Gruppen darf jedenfalls keine Rechtfertigung für die Reaktivierung autoritärer linker Strömungen bedeuten. Ironischerweise teilt Roger Behrens mit seinen neoliberalen Gegnern gerade die bevormundende Perspektive einer Elite gegenüber einer unwissenden Mehrheit. Sein "Projekt der Emanzipation" darf man getrost als neoleninistisch bezeichnen. Er selbst nennt es aber "konkret utopisch", zu Unrecht. Ernst Bloch erkannte in seinem Buch Naturrecht und menschliche Würde (1961) den Schaden, den eine fortdauernde Ignoranz gegenüber den aufklärerischen Ideen der Menschenrechte und der Volkssouveränität der marxistischen Denktradition zufügen würde.
Englers Formel einer "(Selbst-)Aufklärung" ist deshalb zu allererst auf die Linke selbst zu beziehen, als Selbstkritik ihrer autoritären Strömungen. "Aufklärung" ist aber auch die heimliche Losung der Debattenteilnehmer: Als "Hinaussegeln auf unbekannte Meere" (Marlene Streeruwitz). Oder als jene Tradition, auf der die gewaltfreie und demokratische Kultur beruht (Wilhelm von Sternburg). Das "zukünftige linke Projekt" muss gewiss das der globalen Demokratie sein. Es wird "weltbürgerlicher und kultureller" sein müssen als seine Vorgänger (Mario Scalla). In einem Prozess der Aufklärung darf es keine Aufteilung der Rollen in Aufklärer (Subjekte) und Aufzuklärende (Objekte) geben. Der Weg zur gleichen Freiheit für alle führt über den Vorrang der Demokratie gegenüber der Ökonomie. Ihn durchsetzen ist die Aufgabe zweier institutioneller Reformen und eines kulturellen Umbruchs. Dann wird es wieder möglich, die Frage nach einer gerechten Wirtschafts- und Eigentumsordnung zu stellen.
Die erste Reform gilt der Erneuerung des demokratischen Staates als politische Selbstorganisation seiner Bürger. In unserem Zusammenhang heißt das konkret: Wie lässt sich eine funktionierende politische Öffentlichkeit herstellen? Gesucht sind Regelungen, die eine politische und ökonomische Vereinnahmung der öffentlichen Arenen verhindern und so einem Massenpublikum einen wirksamen Zugang zur Öffentlichkeit ermöglichen. Bislang halten dort nur die Eliten ihre Rededuelle. Ohne eigentlich wirklich miteinander zu disputieren, ist der Zweck, auf die Überzeugungen des Massenpublikums im Dunkeln einzuwirken. Auf dieser Bühne fehlt die Freiheit zu widersprechen.
Wegen ihrer Schwächung benötigen die nationalen Demokratien als Ergänzung eine politische Verfassung der Weltgesellschaft. Diese zweite institutionelle Reform soll die Hegemonie bestimmter Staaten und global agierender wirtschaftlicher Akteure beenden. Die Universalisierung des Rechtszustandes zu betreiben, hatte bereits Immanuel Kant dem "moralischen Politiker" zur Pflicht gemacht. Die Pointe seines globalisierten Rechts (im Unterschied zum Völkerrecht seiner Vorgänger) liegt darin, dass in ihr nicht nur Staaten Rechtssubjekte sind, sondern auch die Individuen. In den existierenden globalen und internationalen Institutionen fehlen sie noch immer. Wie kommen sie dort hin?
Die beiden institutionellen Reformen kommen nur in Gang, wenn sich die Staatsbürger als Weltbürger begreifen lernen. Hier verknüpft sich, wie Scalla fordert, der weltbürgerliche Zug mit dem kulturellen. Die Basis einer neuen politischen Kultur ist ein Sinn für die weltumspannende Gerechtigkeit. In ihr wurzelt eine alle Weltbürger betreffende Pflicht zur Veränderung. Sie besteht in jeder nationalen und globalen Grundordnung, die dauerhaft eine universale menschenrechtliche Norm verletzt. Wo direktes Eingreifen zu wenig ist, hat jeder eine (Mit-) Verantwortung an der Umgestaltung der Rahmenbedingungen des gemeinsamen Handelns. Um eine Selbstüberschätzung oder eine Dauerüberlastung zu vermeiden, kann das direkt über die Schaffung kollektiver Akteure erfolgen oder indirekt durch den Aufbau geeigneter Institutionen.
Was bedeutet das für uns Bürger eines reichen und mächtigen Staates? Wir sind Teilnehmer einer globalen Grundordnung, die extrem ungerecht ist. Vor unseren Augen verhungern täglich 50.000 Menschen. Die Spielregeln wurden von unserer demokratisch gewählten Regierung mit ausgehandelt. Als Privilegierte und Nutznießer dieser Ordnung sind wir deshalb im besonderen Maße für ihre Änderung mitverantwortlich. Hier zeigt sich, dass die Orientierung unserer politischen Urteile am eigenen Interesse völlig unzureichend wäre. Es genügt auch nicht, die Reichweite unseres Gerechtigkeitssinns auf die eigene Republik zu beschränken. Wir müssen in der Katastrophe unsere moralischen Fähigkeiten entwickeln zu einem globalen Gerechtigkeitssinn. Bei einer moralischen Pflicht kann es keine äußere Instanz (wahlweise Gott, Staat oder "die" Geschichte) geben, die uns sagt, was wir in unserer konkreten Lebenssituation tun können. Um dies herauszufinden, bedarf es der Mühen sowohl des eigenen Überlegens als auch der öffentlichen Debatte.
Heinz-Bernhard Wohlfarth, geboren in Speyer, promovierte über Volker Braun und lebt als freier Autor in Berlin.
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