Die wegen ihrer "internationalen Bahnhofshaftigkeit" geliebte Stadt Ludwigshafen am Rhein hat zwei bedeutende Philosophen hervorgebracht. Berühmt, wenn auch ungelesen, ist Ernst Bloch. Martin Seel, Jahrgang 1954, kennen erstaunlicherweise nur die Insider. Seine philosophische Heimat liegt nicht in Ernst Blochs Sphäre, sondern gleichsam nördlich von ihr, im Kreis der "Frankfurter Schule". Vom ersten Werk an (Die Kunst der Entzweiung, 1985) zeigt sich Seel jedoch als eigenständiger Kopf. An Jürgen Habermas´ Entwurf rügt der Pfälzer, dass die Sprachphilosophie zwar der theoretische Kern der Theorie kommunikativen Handelns sei, aber gleichzeitig auch der schwächste Teil. Ästhetik und Kunst seien in diesem System ortlos und gegenüber der ak
ber der aktuellen Diskussion des guten Lebens verhalte sich Habermas ignorant. Obwohl Seel selbst kein Freund aporetischen Denkens ist, hat Theodor W. Adorno bei ihm immer Kredit. Es ist weniger der Ideologiekritiker und pessimistische Geschichtsphilosoph, der ihn anzieht, sondern der Anwalt verschütteter Möglichkeiten des Lebens, die er in ständiger Befragung des scheinbar Selbstverständlichen aufzuspüren sucht, und zwar vom Unmöglichen her. Diese Paradoxie, typisch für die klassische Form utopischen Denkens, wollte Bloch ja überwinden.Der große Landsmann fristet auch in Martin Seels neuesten Werken nur ein Randdasein. Vom Handwerk der Philosophie (2001) versammelt 44 Philosophie-Kolumnen, die vom November 1998 bis 2001 in der Zeit erschienen waren. Sie werden umrahmt von zwei Aufsätzen zur Arbeit des Philosophierens und zur Lage der Philosophie nach der Postmoderne. Während Bloch hier ganz fehlt, wird er in Ästhetik des Erscheinens (2000) und Sich bestimmen lassen (2002) wenigstens beiläufig erwähnt. So bleibt es der singulären Studie Eine Ästhetik der Natur (1991) vorbehalten, ein ausführlicheres Treffen der beiden Ludwigshafener Philosophen herbeizuführen. Zwei Grundideen des Blochschen Ansatzes sind die Weigerung, die Naturphilosophie den Naturwissenschaften zu überlassen sowie die Hoffnung, die vernünftige Gesellschaft sei gleichbedeutend mit der vernünftigen Natur. Seel lobt zunächst die prägnanten und richtigen Bestimmungen des Älteren, aber er erkennt mit unbestechlichem Blick die Endgültigkeit, Vollständigkeit und Nichtrealisierbarkeit dieser Naturutopie. Sie vergisst gerade das Entscheidende der menschlichen Begegnung mit der Natur: die lebendige Gegenwart. Blochs theoretische Klammer, die die "Endfiguren" der Natur und der Kunst miteinander verbindet, ist die Ästhetik des Vor-Scheins. Diese rechnet Seel andernorts zur "Metaphysik der ästhetischen Form." Jedes gelungene Kunstwerk werde in dieser Tradition als Vorgriff auf ein uneingeschränkt gutes Leben gedeutet. Die wirkliche, gerade auch unter emanzipatorischen Gsichtspunkten, wichtige Leistung gehe aber dabei verloren: die Ermöglichung einer gesteigerten ästhetischen Wahrnehmung. Diese eigensinnige Form der Aufmerksamkeit entwickelt, vor allem anderen, einen Sinn für das Hier und Jetzt des eigenen Lebens. Das zu erläutern und zu bekräftigen ist das Anliegen Seels in Ästhetik des Erscheinens. Den Auftakt bietet eine kurze Geschichte der Ästhetik. Im systematischen Hauptteil versucht Seel den Begriff des Erscheinens (gegenüber denen des Soseins und des Scheins) als Grundbegriff der Ästhetik darzulegen. Es folgen drei Einzeluntersuchungen zum ästhetischen Phänomen des Rauschens, zum Status von Bildern und zum Zusammenhang von Kunst und Gewalt.Die Absicht, die hinter dieser Apologie der ästhetischen Praxis und hinter der Bloch-Kritik steht, ist nun keineswegs, die Rolle des utopischen Denkens zu dementieren. Gehört doch die Kunst zu den zu schützenden Gestalten eines guten Lebens. Seels Versuch über die Form des Glücks (1995) ist die wohl klarste und durchdachteste Arbeit, die in den letzten Jahren zu diesem neuentdeckten antiken Thema erschienen ist. Und das gute Leben wiederum ist ein Gegenstand utopischen Denkens. Mit dem Beitrag Drei Regeln für Utopisten der Aufsatzsammlung Sich bestimmen lassen situiert Seel seine Philosophie jetzt zum ersten Mal ausdrücklich in diesem Kontext. Die utopische Reflexion sei für das politische Denken unverzichtbar. Es versorge uns mit "rationaler Hoffnung" auf bessere Zeiten und erprobe die Belastbarkeit jener Urteile und Ziele, die das politische Handeln leiten. Ein Preisgabe dieser Möglichkeit sei ein "Verrat an uns selbst".Seel argumentiert für das Format einer "realistischen Utopie": Die Grundregel der Denkbarkeit muss sich auf mögliche Zustände beziehen, die nicht allein vorstellbar sind, sondern auf der Basis des verfügbaren Wissens auch logischen Kriterien genügen. Die Hauptregel der Erfüllbarkeit soll prüfen, ob die ins Auge gefasste Verbesserung wirklich ein Gegenstand unseres wohlverstandenen Wünschen und Wollens sein kann. Hier geht es darum, jene Zustände auszuschließen, deren Eintreffen der sichere Ruin des eigentlich Erstrebten wäre. Auch wenn das Erhoffte nicht real wird, müssen die Vorschläge, wie über den Tag hinaus gehandelt werden soll, sich für den Handelnden hier und jetzt lohnen. Diese Forderung richtet sich vor allem gegen die "regulative Schlamperei". Gemeint ist Kants Verpflichtung des Handelnden auf die höchstmögliche Annäherung an ein Ziel, das erstens aus prinzipiellen Gründen nie erreicht werden kann, und das man zweitens wachen Sinns eigentlich nicht wollen kann. Wichtig ist daher, dass jedes utopische Konzept durch neue Erfahrungen korrigierbar bleibt, und, darüber hinaus, eine dritte Bedingung: die der Erreichbarkeit. Man könnte sie die Regel des Realismus nennen. Die Erreichbarkeit mag zwar weithin in Zweifel gezogen werden: die utopische Möglichkeit, die sie vorschlägt, beabsichtigt den wirklich zur Verfügung stehenden, im Alltag übersehenen Handlungsspielraum sichtbar zu machen und alternative Möglichkeiten darzubieten, die hier und jetzt ergreifbar sind. Dieses Konzept der Utopie versteht sich als "realistisch", sofern es die Menschen so nehmen möchte wie sie sind, und die Gesetze so, wie sie sein könnten. Es versteht sich als "utopisch", sofern es die Grenzen des normalerweise für möglich gehaltenen erheblich erweitert.Seel beerbt den Begriff einer realistischen Utopie von John Rawls. In seinem Vermächtnis Das Recht der Völker (1999/2002) versuchte der 2002 verstorbene US-Philosoph die praktischen Prinzipien eines gerechten und friedlichen Zusammenlebens auf eine Weise zu formulieren, die den Verdacht erregen könnte, hier sei einer Selbstermächtigung westlicher Interventionspolitik vorgearbeitet. Seine frühere Assistentin Susan Neiman berichtet jedoch von Rawls scharfer regierungskritischer Haltung in den letzten Lebensmonaten. Trotz der tumultartigen Verkündigung eines endgültigen Abschiedes von der Utopie nach 1989 artikulierte Pierre Bourdieu, ähnlich wie Rawls, das Bedürfnis nach einem "rationalen Utopismus" (vgl. Freitag-Interview, 16.1.1998). Anthony Giddens vertrat zwar in Konsequenzen der Moderne (1990/1996) einen "utopischen Realismus" und wurde doch nur "Blairs Merlin." Unabhängig vom sehr unterschiedlichen Ertrag der genannten Konzepte geht es immer darum, utopische Entwürfe zum Behufe ihrer Erreichbarkeit in historischen Tendenzen zu verankern. Das war ein Grundgedanke von Blochs konkreter Utopie - ein Grund mehr für Seel, einen zweiten Blick auf den Altmeister zu werfen. Je fundamentalistischer und radikaler sich die Realpolitik gebärdet, umso gelassener könnte erneuertes utopisches Denken vorführen: mit ihm steigen die Aussichten, die realistischen Lösungen von gesellschaftlichen Grundproblemen zu finden.Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Hanser, München 2000, 280 S., 23,50 EUR, auch als: suhrkamp-TB Wissenschaft, Frankfurt 2003, 327 S., 12 EUR Martin Seel: Vom Handwerk der Philosophie, 44 Kolumnen, Hanser, München 2001, 167 S., 14,90 EURMartin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Suhrkamp, Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2001, 388 S., 15 EURMartin Seel: Sich bestimmen lassen, Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, 302 S., 11,- EUR
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