Angesprochen auf ihre Beziehung zu Beckett, reagierte Nathalie Sarraute, die jetzt im biblischen Alter von 99 Jahren in Paris gestorben ist, ungehalten, gereizt, wenn nicht sogar unwirsch. Um so unangenehmer muss es sie getroffen haben, als man sie wegen ihres letzten Romans Ici (Hier) in Frankreich mit dem Protagonisten des Absurden verglich. Seit ihren 1939 erstmals veröffentlichten, erfolglosen Prosaskizzen Tropismen wurde sie es nicht müde, die Scheinwerfer der Sprache darauf zu richten, was eigentlich in uns, während wir reden, ohne es zu wissen, vor sich geht. Mit dem seismographischen Spürsinn einer Detektivin war die studierte Juristin den Geheimnissen unseres inneren Universums auf der Spur. Ja, sie spionierte neugierig, dabei nüchtern und mit Ausdauer und kalter Feder den kleinsten inneren Bewegungen und kaum wahrnehmbaren Schwingungen der Sprache nach, die ausgelöst werden durch irgendetwas, was von außerhalb in uns als Störfaktor eindringt, dort bis ins Unerträgliche beunruhigt und alle inneren Stimmen in Aufruhr und höchste Alarmbereitschaft versetzt.
In Kindheit, so der Titel eines ihrer letzten Bücher, 1983 erschienen, stöbert sie in eigenen Erinnerungen, als würde sie, die Erwachsene, sich selbst als Kind, das sie einst war, befragen. Ein schonungsloser Dialog mit dem eigenen Double, so lebendig wie jetzthaltig, zudem voller Überraschungen und Verunsicherungen gegenüber dem, was jemand über sich selbst in Erfahrung bringen kann. Ein Vortasten im Dickicht der verlorenen Zeit mit Wörtern, die aufgrund einer Ahnung stottern und herbeieilen, vorbeihuschen und doch immer nur vage an das heranreichen, was da unter der Oberfläche der Allgemeinplätze lauert, aber ungreifbar ist. Nachvollziehbar wird da nicht nur, wie prägend Wörter wie Liebe und Unglück und wie groß die Gefahr und das Leid waren, darin gefangen zu sein, sondern auch, was für ein enormes Gewicht die Magie und der Rhythmus überall durchsickernder Wörter in ihrem Leben besaßen.
Auf einen Satz wie Du liebst dich nicht, so der Titel ihres Meisterwerks von 1989, ließ sie eine Wortlawine folgen, die das stumme Gefecht sich streitender Icheinheiten quasi vertont. Fast atemlos verfolgt sie da, wie sich jemand gegen die Angriffe auf seine Selbstliebe verteidigt. Was da abgeht, ist ein vitales Gewimmel von Empfindungen, Bildern, Erinnerungen und Impulsen, die Gruppen bilden, zerfallen, sich neu und anders formieren und sich wieder aus dem Staub machen. Eine endlose Kettenreaktion. Nach außen dringt kein angeschlagenes Ich, das sich wehrt, sondern ein fragiles Produkt des Zufalls.
Dieses hektische und zwanghafte Dialogisieren, dieses nervöse und hemmungslose Geschnatter unterhalb der Sprache bezeichnete die Grande Dame der Avantgarde als sous-conversation. Wegen der Unmöglichkeit, dieses polyphone Gerede wie Gespräche mit einem Rekorder aufzuzeichnen, griff sie zur Fiktion und simulierte das nonverbale Treiben auf bisher noch nie dagewesene Weise. Im Grunde diente ihr die Sprache als Verlangsamer und Verstärker des mehrstimmigen Chors, der in uns den Aufstand gegen jene Sentenzen, Blicke und Gesten anderer probt, die uns in Frage stellen. Kein Wunder, dass die Sarraute ihre Texte eher rhythmisch und handlungslos anlegte. Mit der Zeit wurden ihre Bücher immer raffinierter, dichter, auch undurchdringlicher und so gegenstandsfrei wie die von ihr für die Umschläge der französischen Ausgabe ausgewählten Gemälde. Ihre Personen blieben stets bewusst schemenhaft, und fassbare Dinge wie Anfang und Ende einer Geschichte hatten bei ihr von vornherein keine Chance. Überhaupt enttäuschte sie so gut wie jede Lesererwartung, aber nicht um zu provozieren. Sondern aus der Überzeugung, dass es letztlich keinen allwissenden Erzähler geben kann, und aus der Einsicht, dass das, was da unterhalb der Wörter plärrt, schnattert, nach Indizien sucht, Vermutungen anstellt, Verdacht wittert, sich ängstigt, schützt oder hämisch freut, sich attackiert fühlt oder taktiert, letztlich unkontrollierbar ist. Für sie waren diese unterschwelligen Abläufe erst einmal Erzählstoff, auf den sich ihr inneres Ohr spezialisiert hatte, und zudem ein unumstößlicher Fakt, weder besonders bedauerns- noch beklagenswert.
Ihre rasch folgenden geglückten Versuche, etwas Vorsprachlichem zur Artikulation zu verhelfen, erscheinen zwar paradox, offenbaren dafür aber den überreichen Zauber einer komplexen Mikrowelt voll wimmelnder Wörter, die bei ihr die Materialität von Dingen annehmen. Mit jedem neuen Anlauf, die unbemerkten Schattenseiten unseres Bewusst seins zu beleuchten, rückte sie Peripheres in den Mittelpunkt. Mit Worten auf der Lauer liegend, drang sie vorurteilslos unter die Schädeldecke ihrer Anti-Figuren, wie in Hier auf brillante Weise geschehen. Und das einzig und allein, um live dabei zu sein, wie jemand nach einem Wort, das ihm auf der Zunge liegt, oder nach dem Namen für einen Baum fahndet. Das waren ihre Entdeckungs- und Forschungsreisen im inneren Weichkern, wo das Bewusstsein noch kein Bewusstsein und die Beunruhigung am unmittelbarsten zu spüren ist. Mal durch die leidige Warum-Frage verursacht, mal nur dadurch ausgelöst, dass jemand von seinem Gegenüber wissen will, ob er schöne Reisen liebe oder was ihn denn dazu veranlasse, plötzlich man statt ich zu sagen.
Keine Frage, Nathalie Sarraute, 1900 in Iwanowo-Wosnessensk, einer Industriestadt nördlich von Moskau geboren und seit 1908 in Paris lebend, hegte als Autorin weder moralische noch weltverbessernde Absichten. Wenn sie Redensarten, Floskeln, Topoi, Höflichkeitsfragen oder Plattitüden auf den Grund ging, so nie in Form einer Kritik an der Unaufrichtigkeit der Menschen, die sich hinter Worthülsen verschanzen. Es war die pure Neugierde, die sie zu schreiben zwang. Über Jahre und bis ins hohe Alter in einer libanesischen Bar ihres Viertels, weil sie dort ungestörter und vor Anrufen sicher war; in den letzten Jahren dann bei sich zu Hause auf der Avenue Pierre-1er-de-Serbie in unmittelbarer Nähe des Musée d`art moderne, wo sie 1996 zur Eröffnung der Ausstellung des Malers und ihres Freundes Pierre Soulages erschien, dessen Schwarze Bilder sie bewunderte.
Wer sie besuchte, erlebte eine noble und weise und mit den Jahren immer eigensinniger gewordene Frau außerhalb der Zeit, die nur noch über ihre Literatur und noch lieber über alles andere sprach, nur nicht über Sigmund Freud und das Unbewusste oder über Proust und den inneren Monolog. Verwunderlich, wenn wir bedenken, dass sie zwischen 1947 und 1956 mit Aufsätzen über Dostojewski, Kafka, Camus oder Gide ihre spezielle Auffassung vom Schreiben auch theoretisch untermauerte. Zeitalter des Mißtrauens nannte sie ihr so oft zitiertes Manifest, in dem sie ihr Streben artikulierte nach einer Literatur auf dem Gipfel der Moderne, wo sich Kunst und Musik längst tummelten. Es schien, als wollte sie mit ihrer heftigen Abwehr sagen, es hätte sich nach all den Jahren des Schreibens nun doch erübrigt, darüber zu theoretisieren. Sie bestand darauf, dass Bücher für sich sprechen, und wehrte sich entschieden dagegen, als die Repräsentantin des Nouveau Roman zu gelten. Seit je wollte sie Erste, und das hieß für sie, ganz sie selbst sein.
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