Leider ist von der Fülle und dem Scharfsinn kunsthistorischer Einsichten in Arnold Gehlens Zeit-Bildern fast nichts in Erinnerung geblieben als das Schlagwort von der „Kommentarbedürftigkeit“ der modernen Kunst. Doch gerade mit diesem treffenden Begriff verband Gehlen in seiner Studie zur modernen Malerei eine Fehlprognose. Er hielt die Kommentarbedürftigkeit für einen „Zwischenzustand“, der sich auflösen werde, „wenn die ungewohnte Freiheit der ganz ungehemmten Subjektivität des Aneignens sich durchgesetzt hat, und der Betrachter sich bloß noch auf seine eigenen Reflexionen verlässt, also selbst kommentiert“.
Die Hoffnung auf eine solche Befreiung vom vorgegebenen Kommentar und auf die Rückkehr des selbstständigen Kunsturteils hat sich nicht erfüllt. Mehr denn je werden heute Zuhörer, Zuschauer und Betrachter der Kunstwerke von Kommentatoren umstellt, die in Konzerte, Opern, Theaterstücke einführen, Dichterlesungen moderieren oder durch Museen und Ausstellungen führen. Für kommentarbedürftig hielt Gehlen die moderne Malerei, weil sie mit der jahrhundertealten Gewohnheit des Sehens und Verstehens von Bildern gebrochen hatte. Heute jedoch wird jede Kunst kommentiert, die älteste wie die neueste. Der Kommentar ist nun institutionalisiert und heißt „Kunstvermittlung“ oder, ausgreifender noch, „Kulturvermittlung“. Ein staatliches Museum verspricht unter dem Stichwort „Kunstvermittlung“ seinen Besuchern: „Unser Wunsch ist es, Ihnen die Inhalte unserer Sammlung und Sonderausstellungen auf spannende, unterhaltsame und kommunikative Weise zu vermitteln.“
Die Institution, die solche Nachhilfe bereitstellt, rechnet nicht damit, dass die Kunstwerke von allein auf die Betrachter „spannend“, „unterhaltsam“, „kommunikativ“ wirken; stattdessen übernimmt es die Vermittlung, den Umgang mit Kunst möglichst angenehm zu gestalten. Von der strengen Aufgabe eines Kommentars ist nicht mehr die Rede. Gehlen kannte Kommentare zur Kunst in Form von Büchern und Aufsätzen. An die Stelle des schriftlichen Kommentars ist die lebendige Person des Kommentators getreten, der einer Gruppe das Kunstwerk erläutert, vor dem sie steht. Amt und Umgebung zeichnen ihn aus: Er ist ermächtigt, in repräsentativen Räumen der Kunst vor vielen zu sprechen. Das gesprochene Wort, von einem vertrauenerweckenden Menschen vorgetragen und von einer angesehenen Einrichtung beglaubigt, muss Rücksicht auf Zuhörer nehmen, die zwar die Schwellenangst vor den einst heiligen Hallen der Kunst überwunden haben, aber ihre Hilfsbedürftigkeit eingestehen, indem sie sich einer Führung anschließen.
Ein der Kunst fremdes Medium, Wort und Stimme des institutionell anerkannten Wissens, reglementiert die ästhetische Wahrnehmung, zu der es aber unter solchen Bedingungen gar nicht kommen kann. Bilder haben, anders als die geläufige Kulturkritik der optischen Medien behauptet, in der Gegenwart nicht das Wort verdrängt. Vielmehr sind die Bilder − im Museum wie in Film, Fernsehen und Zeitung − stets von schriftlicher oder mündlicher Explikation begleitet. Texte bereiten das scheinbar allein auf den visuellen Eindruck ausgerichtete Kunstwerk für seine begriffliche Erfassung und pädagogische Anwendung vor. Die Bilderschau einer Ausstellung wird von einem Monolog umrahmt.
Geselligkeit statt Kritik
Zahl und Bedeutung dieser neuen Art von Interpreten der Kultur nehmen zu, weil das Bedürfnis nach Betreuung universal geworden ist und beim Besuch der Museen in der eigenen Stadt ebenso geweckt wird wie bei „Studienreisen“ zu exotischen Tempelanlagen. Zwar ist heute alle Kunst erreichbar, doch nicht für alle verständlich; Belehrung soll diesen Widerspruch auflösen. Da „Kultur“ als hohes Gut und das Interesse für sie als Zeichen intellektueller Distinktion angesehen werden, fürchtet jeder Betrachter von Kunstwerken, sich durch Unverständnis, spontane Abneigung oder auch nur durch Gleichgültigkeit als Spießer zu entlarven.
Diese Verlegenheit beheben die Führer: Sie reden dem Verstand gut zu, so dass das ästhetisch nicht geschulte Auge seinen Vorbehalt gegen die ästhetische Zumutung aufgeben muss. Zustimmung fällt leichter, wenn sie belohnt wird. Was heute „Kultur“ heißt, kommt gemütlich daher. Die Gruppe, die sich zu einer Führung zusammentut, ist und macht gesellig, oft schon während der gemeinsamen Anreise.
Sollte auch der Kunstgenuss ausbleiben, so lässt sich immerhin genießen, was die den Kunstinstitutionen zugeordnete Gastronomie bietet: Imbiss, Sekt, Kaffee und die durch solche Genüsse angeregte Unterhaltung. Beim Essen, Trinken, Plaudern kehren die Gewohnheiten des Lebens zurück, die das lebensferne Kunstwerk für kurze Zeit unterbrochen hatte. Der Konsum findet in den Räumen des Theaters, des Museums, des Literaturhauses statt, weshalb − wie im Haus eines Gastgebers Sitte − kritische Äußerungen über das Gesehene und Gehörte unterbleiben.
Anders war es früher, wenn nach einer Theateraufführung Freunde im Restaurant, nach einer Kunstausstellung im Café sich trafen und das Dargebotene rücksichtslos beurteilten. In der Gegenwart hat das Publikum die Aufgabe, über eine ästhetische Erfahrung zu sprechen, an die Veranstalter delegiert. Da jedoch Kunstvermittler im Auftrag der Institution tätig sind, sagen auch sie nie etwas Kritisches über Kunstobjekte und Kunstveranstaltungen. Damit gehen der kritische Blick und die Kenntnis eines kritischen Wortschatzes verloren. Interviews vor Premieren, Pressekonferenzen vor Ausstellungseröffnungen versuchen, selbst professionelle Kunstkritiker ihres unabhängigen Urteils zu berauben.
Im Halbkreis
Bis ins 20. Jahrhundert standen Künstler, Kunstkritik, Kunstmarkt, Kunstsammlungen und Kunstpublikum vielfach in schroffem Widerspruch zueinander. Heute wird im Namen der „Kultur“ das Einverständnis aller Beteiligten arrangiert und gefeiert. Wer brächte da noch den Mut auf, etwas gegen „Kultur“ zu sagen? Als wären Museen und Theater immer noch durch die kulturrevolutionären Proklamationen von 1968 bedroht, wirbt die Kulturvermittlung um Zuspruch zu den Künsten, die damals in Verdacht gerieten, nutzlos zu sein oder die Ideologie der Herrschenden zu befestigen.
Diese Werbung hat einen ungeahnten Erfolg: Nicht Leere, sondern Überfüllung ist das freudig erlittene Problem vieler Museen und Ausstellungen. Wo sieht man in der wohlorganisierten Konsumgesellschaft noch Warteschlangen, wenn nicht vor den Einlasspforten spektakulärer, zum Event erhobener Kunst?
Sie zieht die Massen an, weil die durch Kunstvermittlung gelenkte Teilnahme an der Kultur konträre Bedürfnisse befriedigt: Sie steht allen offen, und sie gewährt dem Einzelnen das elitäre Gefühl, sich in eine Sphäre jenseits von Alltag und Geschäft zu wagen. Kultur ist zu einer politisch korrekten Einrichtung geworden, die niemanden ausschließen darf; deshalb muss Kunstvermittlung alle Klassen und jedes Lebensalter ansprechen. Vor einem Gemälde und seinem Interpreten sitzt eine Gruppe von Vierjährigen aus dem Kindergarten im Halbkreis auf dem Boden; sie macht einer Gruppe von Achtzigjährigen aus dem Altersheim auf Klappsitzen Platz. Ein Absolvent der bürgerlichen Bildungsinstitutionen durfte sich für erwachsen halten, wenn er ein eigenes Urteil, einen eigenen Geschmack erworben hatte. Die Jahre am Ende der Jugend entschieden darüber, ob sich bei ihm eine Neigung zu Theater, Malerei, Musik, Dichtung entwickelte und ihn ein Leben lang beschäftigte. Kunstreisen, Lektüren, Opernbesuche ergaben sich daraus, waren also selbstbestimmt. Solche le- bensgeschichtlich bedeutsame Entdeckung eines eigenständigen Interesses an Kunst − oder eines ebenso eigenständigen Desinteresses an ihr − ist in der Gegenwart kaum noch möglich, da die kunstpädagogische Fürsorge mit der unablässigen Aufforderung, auf Kulturangebote einzugehen, dem individuellen Verlangen nach ästhetischen Erlebnissen vorauseilt.
Damit sich Urteil und Geschmack bilden, braucht es Talent, Aufmerksamkeit, Irrtum, Korrektur, Entschiedenheit und schließlich etwas so Vages wie Sinn für Schönheit. Das seiner Urteilskraft nicht sichere Publikum glaubt jedoch, es fehle ihm lediglich eine zuverlässige Information, um das unzugängliche Kunstwerk richtig auffassen zu können. Wem etwas nicht gefällt, der fühlt sich schuldig, weil er die obligate Führung oder Einführung versäumt hat. Doch punktuelle Information, wie sie die Kunstvermittlung an ihre Kundschaft austeilt, hilft kaum, die Defizite der Biografie auszugleichen.
Der leitende Begriff der Kritik und Ästhetik vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hieß „Geschmack“. Ob angeboren oder in einem längeren Bildungsprozess gewonnen: Allein der Geschmack sichert die Autonomie des Kunsturteils. In Gesprächen über Kunst erprobten die Bürger des 18. Jahrhunderts, denen das Mitspracherecht in politischen und religiösen Angelegenheiten vorenthalten war, Tugenden einer noch nicht existierenden Demokratie: Gleichberechtigung aller Beteiligten (auch der Laien mit den Kennern, der Liebhaber mit den Gelehrten), freie Äußerung des subjektiven Urteils, zwanglose Verständigung mit den anderen. In der real existierenden Demokratie der Gegenwart werden diese Tugenden gerade im Umgang mit der Kunst geschwächt. „Kunstvermittlung“ bezweckt die Übernahme eines institutionell vereinbarten Expertenwissens durch das unvorbereitete, eingeschüchterte Publikum.
Heinz Schlaffer ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaft. Die ungekürzte Fassung seines Essays lesen Sie im neuen Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
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