Sind dem Kapitalismus die Krallen gestutzt, wenn Lohnarbeit nicht mehr das Nadelöhr ist, das man im Interesse des Lebensunterhalts passieren muss? Eine Alternative wäre die Zahlung eines vom Arbeitsmarkt unabhängigen, existenzsichernden, individuellen Grundeinkommens. Das Privateigentum an Produktionsmitteln bliebe dabei unangetastet. Aber der Charakter der Lohnarbeit würde sich dramatisch wandeln, weil sie nur noch eine Option für zusätzliches Einkommen wäre. Als ersten Schritt dahin hat Michael Opielka vor zwei Wochen eine "Grundeinkommensversicherung" vorgeschlagen, "eine Bürgerversicherung nicht (nur) gegen Krankheit, sondern für alle Einkommensrisiken." Einen anderen Weg beschreitet Helga Uhlenhut mit ihrem Modell des "Bürgeranteils": Garantiertes Einkommen für alle, die kommunale Arbeit leisten.
Es gibt eine interessante Geschichte, von der ich meine, sie bei Karl Marx gelesen zu haben. Sie lautet etwa so: Unternehmer entdecken auf einer einsamen Insel alles, was sie für ein Unternehmen brauchen, Bodenschätze, Energiequellen und Menschen, die keiner Arbeit nachgehen. So bauen sie dort ihre Fabrik und stellen die Menschen ein. Sie bringen den Insulanern bei, pünktlich und fleißig zu arbeiten, denn nur dann dürfen sie im fabrikeigenen Laden einkaufen.
Das geht so eine Weile. Dann fehlen die ersten Arbeiter und zwar die fleißigsten. Bald fehlen immer mehr, und eines Tages kommt keiner mehr zur Arbeit. Die Unternehmer sind ratlos, sie gehen zu den Arbeitern und rufen sie zum Dienst. Die aber lachen nur und denken nicht daran. Warum? Sie haben inzwischen alles, was der kleine Laden der Fabrik zu liefern fähig war. Dafür haben sie gearbeitet. Nun sehen sie keine Veranlassung mehr. Die Unternehmer geben die Insel auf.
Hier haben wir einen Ansatzpunkt für Überlegungen, die zu relativ einfachen, aber doch zukunftsweisenden Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Systems führen können. Natürlich wollen wir nicht alle Unternehmer verjagen. Aber wir könnten dafür sorgen, dass nur ganz bestimmte Unternehmer gestärkt werden. Und das sind die, die sich sozial verhalten, Lehrlinge ausbilden, Kindergärten einrichten, Frauen gleich bezahlen. Auf der anderen Seite würden wir den Menschen ihre Würde lassen. Und ein wichtiger Teil der Würde - das zeigten die Losungen der Montagsdemonstranten - ist Arbeit, mit der sie das Geld verdienen, das sie zum Leben brauchen, um in dem kleinen Laden einkaufen zu können. Gerade in Ostdeutschland wollen die Menschen nicht alimentiert werden, sie wollen arbeiten.
Also geben wir den Menschen Geld, damit sie einkaufen und leben können, und verlangen dafür kommunales Engagement, Bürgerarbeit sozusagen. So haben wir keine Arbeitslosen, keine Obdachlosen und auch keine Almosenempfänger, denn jeder, der das Geld erhält, muss eine bestimmte Gegenleistung in seiner Kommune erbringen. Beim heutigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung wird das Bürgergeld den meisten nicht reichen, und sie werden selbst mehr haben wollen. Das aber müssen sie anders erarbeiten. Dann tritt der Unternehmer auf den Plan, der einen großen Laden hat mit vielen verlockenden Angeboten, wofür ein großer Teil der Menschen arbeiten wird, aber eben nicht alle.
Eine Garantie für alle, aber kein Geschenk
Ich schlage vor, allen erwachsenen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, ohne Prüfung ihrer Situation, monatlich 900 Euro in den jeweils zuständigen Kommunen auszuzahlen, wenn sie ihren "Bürgeranteil" leisten. Mit diesem Geld kann ein Erwachsener eine Wohnung mit zwei Zimmern, Küche und Bad bezahlen. Bei einer Miete von etwa 300 Euro blieben 600 Euro für Lebensmittel, Versicherungen und den ganzen Rest. Kinder würden, gestaffelt nach Alter, entsprechend weniger bekommen und StudentInnen als Erwachsene zählen. Jeder, ausnahmslos jeder, auch der Unternehmer, kann die Auszahlung in Anspruch nehmen, und zwar ohne Prüfung der finanziellen Situation, aber nicht als Geschenk. Für dieses Geld muss gearbeitet werden.
Von "Eigenarbeit" oder "Bürgerarbeit" ist schon heute die Rede. Häufig wird unentgeltlich und freiwillig gearbeitet, von denjenigen, die sich solchen Altruismus leisten können. Oder, das ist das andere Extrem, von Transferempfängern, die mit geringer Entschädigung mehr oder weniger zwangsverpflichtet werden. Viel besser wäre es, einen "Bürgeranteil" als Gegenleistung für 900 Euro offiziell zu definieren. Nicht unentgeltlich würde man arbeiten, sondern anteilig als Bürger der Kommune. Die Stunden pro Woche müssten für diese Arbeit festgelegt werden, die dann allerdings variabel zu leisten sind. Ich denke an vier Stunden pro Tag, also 20 Stunden in der Woche. Das wäre ein Stundenlohn von 11,25 Euro, der dann auch gleich als Mindestlohn gelten wird.
In den Städten und Gemeinden müssten die anfallenden kommunalen Arbeiten von den Bürgern erledigt werden. Die Ämter übernehmen die Auszahlung des Geldes, die Einteilung und - in Kooperation mit Bürgerkomitees - die Kontrolle der Arbeiten. Sie ermitteln, welche Arbeit in den Kommunen anfällt und wie die Bürger passfähig zu ihrer Qualifikation zu diesen Arbeiten herangezogen werden können. Ob in Schulen oder Kindertagesstätten, Bibliotheken oder Sporteinrichtungen, oder bei der Instandhaltung von Straßen, Wegen und Parks - nicht alles, aber doch sehr vieles könnte in Bürgerarbeit übernommen werden. Selbstverständlich wird man sorgsam darauf achten, die für die jeweilige Arbeit passenden Bürgerinnen und Bürger auszusuchen. Wo immer möglich, könnten sich selbstorganisierte Teams bilden, die zum Beispiel für einen Park zuständig sind und dann die Aufteilung der Tätigkeiten in eigener Regie festlegen. Bei all dem gilt: Wer seinen Bürgeranteil nicht leistet, muss mit Kürzungen seiner 900 Euro rechnen. Ohne diese Sanktion würde das Modell nicht funktionieren.
Menschen, die heute, ob als Unternehmer oder angestellte Spezialisten, gut verdienen, werden ihren Bürgeranteil nicht leisten, weil sie die dafür nötige Zeit nicht aufbringen können oder wollen. Sie werden nach wie vor ausschließlich in privatwirtschaftlichen Unternehmen arbeiten, und dabei kann es auch bleiben. Das Modell Bürgeranteil wird davon nicht berührt. Nur manchmal wird die Kommune zu entscheiden haben, ob und wie sie den einen oder anderen Spezialisten abwirbt, weil sie ohne ihn nicht auskommen kann. In solchen Fällen dürfte eine höhere Bezahlung, wenn sie denn notwendig sein sollte, allerdings auch kein Problem sein, sofern das Auswahlverfahren transparent verläuft. Manche Qualifikationslücke könnte wohl schon durch die Partnerinnen und Partner von Hochverdienern geschlossen werden, weil sie, obwohl bestens ausgebildet, bislang keiner bezahlten Arbeit nachgehen. Möglicherweise wollen gerade sie ihre Kompetenz und ihr Wissen einbringen, vielfach tun sie es in Vereinen oder Bürgereinrichtungen ja schon heute.
Vielen Menschen wird das Bürgergeld für ihre Ansprüche nicht reichen. Sie werden auch künftig in der freien Marktwirtschaft arbeiten, haben für den Notfall aber immer die 900 Euro sicher und damit eine gute Ausgangsbasis zur Verhandlung ihres Gehalts. Die Unternehmer werden sich etwas einfallen lassen müssen. Nicht die Lohnabhängigen werden nach Jobs suchen, sondern die Unternehmer nach Arbeitskräften. Denn lohnabhängig im Wortsinn ist ja keiner mehr. Die Stellenangebote werden mit den heutigen nicht mehr vergleichbar sein: "Suche ....., biete gutes Gehalt, biete Kindergartenplatz."
Kreativität statt Sonntagsreden
Sich selbstständig zu machen, wird viel leichter werden als heute und vor allem weniger belastend, da die 900 Euro sicher sind und damit eine gewisse Basis vorhanden ist, die auch bei Aufgabe der Selbstständigkeit bestehen bleibt. Viele Menschen werden das nutzen und ihre Kreativität entfalten. Der Bürgeranteil wäre die Grundlage für den Ideenschub, der in Sonntagsreden immer wieder gefordert wird. Künstler hätten dann eine gute Grundlage für ihre Arbeit und gleichzeitig die Möglichkeit, in ihrer Gemeinde zu wirken. Selbst die Privatwirtschaft würde profitieren, weil Sicherheit Vertrauen schafft und das Angstsparen entfallen dürfte. Es werden auch wieder Kinder geboren, denn Mütter haben immer die Gewissheit, nicht in Arbeitslosigkeit zu versinken.
Das Modell Bürgeranteil würde das erst möglich machen, was heute zynisch unter dem Titel "Fördern und Fordern" diskutiert wird. Denn mit der in kommunaler Tätigkeit erlebten Gemeinschaft und mit der erfahrenen Anregung, Anerkennung und Qualifizierung könnten diejenigen, die heute keine Chance haben, in den Arbeitsprozess zurückkehren, selbstbewusst und mit eigenen Ansprüchen. Keiner muss abseits stehen, auch arbeitslose Jugendliche gibt es nicht. Sie werden im kommunalen Ausbildungsbetrieb qualifiziert und übernehmen nach und nach ihre Bürgeranteile.
Woher kommt das Geld? Dass die Finanzierungsfrage ohne weiteres lösbar ist, zeigt schon ein Blick auf die aktuellen Kosten der Arbeitslosigkeit in Deutschland - vergangenes Jahr 82,7 Milliarden Euro. Allein mit diesem Geld wären über sieben Millionen Bürgeranteile finanzierbar. Alle, die heute arbeiten wollen, aber keine Anstellung finden, nicht nur die offiziell erfassten Arbeitslosen, sondern auch alle anderen, die in keiner Statistik erscheinen, könnten einer bezahlten Tätigkeit nachgehen. Der Bürgeranteil von 900 Euro monatlich sollte als Grundeinkommen definiert werden, das nicht zu versteuern ist. Auch das dürfte unproblematisch sein - schon heute sind etwa 640 Euro als Grundfreibetrag steuerfrei und höhere Freibeträge bereits in der Diskussion. Inwieweit das Steuersystem insgesamt und die soziale Sicherung zu verändern wären, wenn das Modell Bürgeranteil verwirklicht wird, wäre sorgfältig zu prüfen. Die zusätzliche Belastung der privatwirtschaftlich erzielten Einkommen und des Konsums wird sich schon deshalb in Grenzen halten, weil die Gehälter der kommunalen Angestellten weitgehend entfallen, da in der Kommune für die Kommune mit dem Bürgeranteil gearbeitet wird. Die Sachkosten müssten nach wie vor aus dem allgemeinen Steueraufkommen bestritten werden.
Testfall Krisenregionen
Bislang fehlt dem Protest gegen die Armutsprogramme der Bundesregierung eine realistische Vision. Mit dem Modell Bürgeranteil könnte man die Lücke füllen. Die Forderung würde also lauten: 900 Euro für jeden Erwachsenen ohne jegliche Nachforschungen. Und im Gegenzug die Pflicht, einen entsprechenden Anteil an Bürgerarbeit zu leisten, vier Stunden täglich, wahlweise auch ein halbes Jahr Full-Time und dann ein halbes Jahr frei. Die Arbeiten sollten unbedingt in den Kommunen durchgeführt werden, damit die Einwohner auch unmittelbar etwas davon haben und den Effekt spüren.
In Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit könnte man dieses Modell testen. Es wird immer wieder gesagt, die neuen Bundesländer sollten Neues probieren. Hier wäre eine Möglichkeit. Städte und Gemeinden würden sich wieder intensiv um ihre kommunalen Einrichtungen kümmern. Kleine Läden, Restaurants und Kneipen hätten wieder ihre Chance, weil die Bürger wieder Perspektiven sehen, für sich selbst und ihre Stadt. Vielleicht kommen Menschen aus der ganzen Republik, die an diesem Modell teilnehmen wollen.
Im Kapitalismus würden wir immer noch leben, aber die Unternehmer säßen nicht mehr so ganz am längeren Hebel. Die großen Konzerne werden möglicherweise versuchen, ins Ausland zu gehen. Das tun sie ja heute auch. Da wir nicht allein sind, wird die Europäische Union vielleicht einschreiten, vielleicht aber auch mitmachen. In jedem Fall werden die kleinen Unternehmen gestärkt und vor allem das Selbstbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger. Die Gesellschaft, die heute immer mehr zu zerfallen droht, könnte sich auf solidarische Weise erneuern.
Helga Uhlenhut hat in den vergangenen 14 Jahren Arbeitslosigkeit und ABM-Maßnahmen erlebt und erlitten. Sie engagiert sich, mittlerweile als Rentnerin, ehrenamtlich in der Frauenarbeit.
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