Bilder aus der Leichenhalle

Kampfansage Venezuelas Opposition tritt so geschlossen auf wie lange nicht mehr. Basis-Aktivisten wie Yoel Capriles fürchten um die „Bolivarische Revolution“

Wer mit Yoel Capriles durch sein Viertel in Caracas geht, kann zunächst nicht glauben, hier eine der unsichersten Metropolen weltweit zu durchwandern. Auf der Straße spielen Jungen Tischtennis, als der Ausrufer von der Müllkooperative mit dem Schrei Basural, basural erscheint und sich die Straßenränder im Viertel 23 de Enero unverzüglich mit dem Entbehrlichen vergangener Tage füllen. Wenige Minuten später ist alles verschwunden.

Die Selbstorganisation funktioniert, und die Müllkooperative ist ein Beispiel dafür. Vor einiger Zeit hat auch Yoel Capriles dort gearbeitet, jetzt unterstützt er einen Abgeordneten der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) im Stadtparlament. Er arbeite damit für Präsident Hugo Chávez und den Sozialismus des 21. Jahrhunderts. „Das ist mein Leben“, sagt Capriles. Gerade jetzt. Wann sonst als im Wahlkampf? Am 26. September wird über eine neue Nationalversammlung entschieden. An ihm soll es nicht gelegen haben, wenn die regierende PSUV verliert.

Keine Zensur erkennbar

Angesprochen auf die Sicherheit in Caracas – das stoisch hoch gespielte Wahlthema der Opposition – beschönigt Capriles nichts. Kein Zweifel, die Regierung werde mehr tun müssen. In seiner Gegend fühle er sich allerdings kaum von kriminellen Gangs bedroht, auch wenn er gern darauf verzichte, nachts allein zu seinem Haus ganz oben im Viertel zu fahren, das an einem der Berghänge von Caracas in die Höhe kriecht. Gerade an den Grenzen des Quartiers, das nach dem Tag des Sturzes von Diktator Jiménez am 23. Januar 1958 benannt ist, bleibe es unsicher.

So haben sich die Oppositionsmedien, die den größten Teil einer kontroversen Presselandschaft für sich beanspruchen können, auf das Sicherheitsproblem eingeschossen und argumentieren mit Zahlen, bei der schon einmal die gesamte Sterbestatistik zur Mordstatistik gerät. Die Tageszeitung El Nacional hat gar ein Foto aus dem Archiv geholt, um unhaltbare Zustände in einer Leichenhalle zu illustrieren, ohne auf das Aufnahmedatum hinzuweisen. Der Abdruck wurde schließlich aus Gründen des Jugendschutzes untersagt, berichten darf die Zeitung weiterhin. Eine Zensur ist in Caracas nicht erkennbar. Nach eigener Darstellung hat es die vor kurzem aufgebaute Nationalpolizei geschafft, in Catia, dem größten Barrio von Caracas, die Mordrate um die Hälfte zu senken. Die Journalistin Eva Golinger meint, in besonders verrufenen Vierteln sollte mehr getan werden, um Jugendliche von der Straße zu holen. Sportangebote seien bestens geeignet, damit Banden weniger Zulauf hätten.

Für Sport bleiben im Quartier von Yoel Capriles bestenfalls Straße und Gassen. Am dicht bebauten Berghang findet sich kein Platz für Sportanlagen. Eines der Projekte des örtlichen Consejo Comunal, der neuen Form örtlicher Selbstverwaltung in Venezuela, ist das Dach über dem Hof des Barrio eigenen Kindergartens. Derzeit könne sie die Kinder kaum ins Freie lassen, erzählt die Erzieherin Maria Josefina Hidalgo. Zu oft falle Müll aus den oberen Regionen der Siedlung herunter. Darum muss sich der Consejo ebenso wie um anderes kümmern. Die Abwasserleitung braucht eine Modernisierung. Nachdem vor Jahrzehnten an den Hängen zunächst nur einstöckige Häuser gebaut wurden, wachsen diese mittlerweile in die Höhe. Zudem muss die Grundschule renoviert, ein Gasanschluss gelegt und manch baufälliges Haus vor endgültigem Verfall gerettet werden, zählt Consejo-Sprecher Capriles auf. Und dann wäre da noch eine Wand am Rand des Viertels, die zusammen mit etlichen Häusern abzustürzen droht – lebensgefährlich für alle, die dort wohnen. Auch für Capriles. Seine Behausung liegt am Ende eines schmalen Weges direkt am Hang. Kommt dort eine Schuttlawine herunter, wird die todsicher auch sein Haus unter sich begraben. Sollte die Opposition die Wahl gewinnen, fürchten Leute wie Capriles, werde es kaum noch Geld für die Consejos Comunales geben. Insofern ist es für ihn fast so etwas wie eine Existenzfrage, sich für den Wahlkampf der PSUV zu engagieren – sie wird mit einem Sieg auch seine Zukunft sichern.

Ein herber Schlag

Wenn Capriles behauptet, Hugo Chávez notfalls mit seinem Leben verteidigen zu wollen, glaubt man dem 51-Jährigen. Schließlich hat der Präsident in den zwölf Jahren seiner Amtszeit Aktivisten wie ihn herausgefordert, aus dem toten Winkel sozialer Isolation zu treten und sich um das eigene Schicksal zu kümmern. Wie das geschieht, zeigt sich beim Gang durch die Gassen des Viertels immer wieder. Unter anderem wurden Zugänge zur Hauptstraße gebaut, auf der kleine Jeep-Busse die engen Serpentinen hinauf- und hinunterfahren und das Viertel mit der Metro verbinden. Hier führt Capriles seine Besucher gern hin, damit sie den atemberaubenden Blick über die Stadt genießen. Vom erhöhten Standort des Barrio wirkt das sich über viele Hänge und ein schmales Tal erstreckende Caracas fast surreal. Jede Menge Hochhäuser, dazwischen die typischen Behausungen der Armen, bei denen das Rot der Mauersteine alle anderen Farben verdrängt.

Während die Opposition die Parlamentswahlen im Dezember 2005 boykottiert hat, treten die wichtigsten Gegner der Regierung diesmal gemeinsam als Tisch der demokratischen Einheit an. Prognosen sind schwierig, die meisten erwarten einen Sieg der Regierungspartei, freilich mit Verlusten. Viele im Land sind enttäuscht, weil der versprochene Wandel ausbleibt oder an Tempo verliert. Sollte die PSUV die Zwei-Drittel-Mehrheit oder gar die Wahl komplett verlieren, wäre das für Capriles ein herber Schlag. „Dann wird sich alles verlangsamen“, glaubt er. Ohne zwei Drittel der Sitze in der Nationalversammlung kann die Regierungspartei keine Gesetze mehr verabschieden, bei denen es einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedarf, sie zu annullieren. Schon heute, meint Capriles, gebe es eine enorme Korruption, die Leuten wie ihm die Arbeit erschwere.

Natürlich würde er sich auch bei einer Niederlage für die Belange seines Barrios einsetzen. Aber ohne Chávez und die PSUV werde es die Zukunft, von der Leute wie er bisher träumen konnten, kaum geben.

Helge Buttkereit ist freier Journalist und Autor des Buches Utopische Realpolitik Die Neue Linke in Lateinamerika

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