Das Spiel mit der Realität

Wolfgang Menge feierte am 10. April seinen 80. Geburtstag Der Fernsehveteran steht für das selten erreichte Ideal der öffentlich-rechtlichen Anstalten - die intelligente Unterhaltung

Gibt es eigentlich noch "Sozialkritik"? Freiwillig würde sich wohl niemand dieses Etikett anheften, dem der Ruch starrsinnigen Besserwissens und eine verstaubte Didaktik anhängt. Sozialkritik ist etwas für Oberlehrer aus den siebziger Jahren. Nicht einmal die Revival-Shows des Fernsehens haben sich ihrer erinnert. Dabei kann das Fernsehen auch anders, nämlich kritisch und unterhaltsam sein. Doch das scheint lange her und heute nur noch in Ausnahmefällen möglich. Wolfgang Menge, dem Grandseigneur der deutschen Television, gelang es stets: In zahllosen Krimis, Serien und Fernsehfilmen verstand es der produktive Autor, unbequeme Themen äußerst spannend und unterhaltsam anzupacken. So manches Mal war er seiner Zeit und dem Fernsehen weit voraus.

Beispielsweise mit dem Millionenspiel. 1970, als es weder das Privatfernsehen noch die Reality-Formate gab, adaptierte Menge eine Kurzgeschichte von Robert Sheckley und schrieb sie zu einer garstigen Mediensatire um, die noch heute allen Exhibitionismus und jede Quotengeilheit in den Schatten stellt. Bernhard Lotz, der Kandidat einer Fernsehshow setzt sich für einen Millionengewinn einer Menschenjagd aus und entgeht seinen Häschern nur knapp. Typisch für Menge ist die injizierte Medienkritik mittels eingespielter Werbespots für Antibaby-Spritzen oder sexuell stimulierendes Mineralwasser. Damit hielt er dem Publikum einen Spiegel vor und zeigte zugleich seherische Qualitäten: Sowohl das TV-Format als auch dessen Popularität haben sich ja - rund dreißig Jahre später - als ungemein zukunftsträchtig erwiesen.

Einen Nerv hatte Wolfgang Menge schon beim damaligen Publikum getroffen. Die Zuschauer vom Millionenspiel waren über die Vermengung von Realität und Fiktion verunsichert. Sie liefen beim Sender Sturm und argwöhnten, ob die Show tatsächlich existierte. Orson Welles lässt schön grüßen! Der hatte 1938 mit dem Hörspiel War of the Worlds in den USA für eine Massenpanik gesorgt. "Bei der Wiederholung von ‚Millionenspiel´ kam erneut unheimlich viel Post", erinnerte sich Menge einmal. "Die Leute teilten mit: ‚O.K., wir wissen, dass das ein Spiel war, aber ich möchte mich jetzt schon bewerben als Kandidat für den Zeitpunkt, wo es dann Realität wird´."

Solche Publikumsreaktionen verstand Menge immer wieder zu provozieren. Das Fernsehspiel Smog inszenierte 1973 eine Umweltkatastrophe im Ruhrgebiet so realistisch, dass viele Zuschauer sie für wahr hielten und hysterisch reagierten. Besonders die im Stil von Nachrichtensendungen gehaltenen Einspielungen, die über das Ausmaß der fiktiven Katastrophe berichteten, wirkten täuschend echt. Auch der wohl bekannteste Menge-Held, Alfred Tetzlaff aus der 25-teiligen Serie Ein Herz und eine Seele, brachte mit seinen wütenden Kommentaren zur politischen Großwetterlage und seinen cholerischen Hasstiraden gegen die Sozialdemokratie regelmäßig die Gemüter in Wallung und die Telefone beim WDR zum schrillen.

Die Mixtur aus Fiktion und Wirklichkeit wurde bald zu Menges Markenzeichen. Es wäre jedoch verfehlt, ihn als geistigen Vater dessen auszumachen, wohin sich das Fernsehen, vor allem das private, im Weiteren entwickelt hat: Zur Suspension von Wirklichkeit. Heute sitzen in den Gerichtsshows echte Anwälte an fiktiven Fällen, die von schauspielernden Laien vorgebracht werden, weil das Publikum die Realität offenbar nur noch in ihrer inszenierten Form erträgt. Eine solche Verkehrung von Wichtigkeiten hatte Wolfgang Menge dagegen nie im Sinn. Sein Schaffen wies stets, bei aller gebotenen Unterhaltsamkeit, einen aufklärerischen Gestus auf und fußte auf einer soliden Unterscheidung zwischen Dichtung und Wahrheit.

Mit der Krimiserie Stahlnetz nahm die Fernsehkarriere des gelernten Journalisten ab 1958 ihren Lauf. In diese auf authentischen Kriminalfällen beruhende Serie flossen Menges Erfahrungen als Gerichtsreporter beim Hamburger Abendblatt ein. Auch seine als Korrespondent in Asien gewonnene Weltläufigkeit war der bis 1968 laufenden Staffel anzumerken. Heute würde dieses Fernsehformat wohl "Doku-Fiction" genannt und wäre wohl weitaus weniger sozial bewusst. Durch besagtes Sozialbewusstsein zeichnete sich auch die Figur des Zollfahnders Kressin im ARD-Tatort aus, die Menge ab 1970 entwickelte.

Seine Umwelt seismografisch wahrnehmen und ihre Widersprüche humorvoll auf den Punkt bringen, ist das Credo des unermüdlichen Drehbuchautors. Noch heute lässt Menge keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, dass der einzig vorstellbare Horror für ihn aufkommende Langeweile beim Publikums wäre. Dies zu vermeiden ist ihm nicht allein in den Serien - bisweilen in recht trocken-sarkastischer Form - gelungen. Auch die rund dreißig Fernsehfilme, die seiner Feder entstammen, sind von der typischen Mischung aus Humor und Zeitkritik gezeichnet. Die Dubrow-Krise (1969) über die zufällige Verlagerung eines ostdeutschen Dorfes in den Westen nimmt die Folgen der deutschen Teilung aufs Korn. In Grüß Gott, ich komm von drüben (1978) wird der Versuch geschildert, einen ostdeutsch geführten Betrieb in Westdeutschland zu etablieren.

Doch macht dies noch nicht den Erfolg und die Stellung Wolfgang Menges im deutschen Fernsehgeschehen aus. Vielmehr sind Menges Geschichten stets solide recherchiert - nicht allein die explizit dokumentarischen Stoffe wie Reichshauptstadt privat von 1987. In dem Montagefilm geht es auf einem Kraft-durch-Freude-Dampfer durch norwegische Fjorde. Auch Menges "erfundene" Geschichten fußen auf penibel recherchierter Wahrhaftigkeit in den Details. Menges Helden weisen dabei oft einen widerborstig-volkstümlichen Charakter auf, dem Selbstüberschätzung und alles Prätenziöse abgeht. Darin haben sich die Zeitgenossen wiedererkannt, während der Autor bei den Sendeanstalten nicht immer wohl gelitten war. Es kann nicht wundern, dass die meisten Stoffe vom WDR, dem einstigen "Rotfunk", und vom NDR umgesetzt worden sind.

Eigene Fernsehpräsenz erlangte Menge als Moderator der Talkshows III nach neun bei Radio Bremen und in den achtziger Jahren mit Leute beim SFB. Seine forsche Art des Fragens - er konnte sich in Themen und Gäste regelrecht verbeißen - mögen manchen noch in Erinnerung sein. Mit seiner damaligen Talk-Kollegin Gisela Marx verbindet Menge ein langer Schaffensweg. Sowohl die Ost-West-Satire Motzki als auch das Grünen-Melodram Kelly Bastian - Geschichte einer Hoffnung, Menges letztes Werk aus dem Jahr 2001, wurden von Marx´ Kölner Produktionsfirma realisiert. Eine jüdische Sitcom, die der Sohn einer jüdischen Mutter schon vor Jahren verfasste, konnte bislang nicht umgesetzt werden. "Bei diesem Thema hakt es in Deutschland grundsätzlich", kommentierte Menge in einem Interview. "Die Sender wollen Quote, und wenn sie nicht auf ein Beispiel verweisen können, das etwas Ähnliches schon einmal woanders einen Quotenerfolg gehabt hat, dann wird es schwierig."

Für seinen Geburtstag hatte Wolfgang Menge sich die Wiederholung eines seiner Fernsehfilme gewünscht. Auf keinen Fall aber Das Millionenspiel. Doch genau so ist´s dann gekommen.


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