Der Reiz steigt mit dem Risiko

Kulturgeschichte des Spiels Vom Boxwettkampf über Kanzlerduelle bis zum Computerspiel reicht das Spektrum, mit dem das Hygiene-Museum in Dresden das Phänomen des Spiels vorstellt

Dunkel, laut und hektisch präsentiert sich der erste Raum im Dresdner Hygiene-Museum, er erweckt den Eindruck einer Spielhalle. Ein Kickertisch mit 16 Griffen, ein riesiges, hölzernes Kugellabyrinth, das sich nur zu zweit bedienen lässt, Flipper-Automaten und einarmige Banditen namens Golden Gloves sowie Computerkonsolen mit dem Harry-Potter-Spiel laden zum Mitmachen ein. Hier wird gleich des Besuchers Erwartungshaltung bedient, das Spielfieber in ihm entfacht. Gespielt wurde schon immer. Im alten Ägypten war es das Schlangenspiel, die Römer warfen Mikado-ähnliche Holzstäbchen und lasen daraus ein Orakel. Das Zahlenlotto datiert bereits aus dem Jahr 1620 in Genua. Von dort aus war es nur noch ein Katzensprung bis zur ersten öffentlichen Ziehung der Lottozahlen 1957 im Deutschen Fernsehfunk (DFF), bis zu Pong, das als erstes Videospiel 1972 die Mattscheibe eroberte, und schließlich bis zu Die Sims im Jahr 2000, denen man im Computerspiel beim Spielen zusehen kann.

In vier Abteilungen gliedert sich die Ausstellung: Wettkämpfe, Identitätsspiele, Strategie- und Glücksspiele. Für den Bereich Wettkampf liefert der Sport das bestimmende Bild. Als mediale Inszenierung bietet Sport »wie kein anderer Bereich des öffentlichen Lebens Bilder von Sieg und Niederlage, Helden und Verlierern«. Mit ihm identifizieren sich die Massen leidenschaftlich und undistanziert. Boxhandschuhe der Klitschko-Brüder, Fernsehaufzeichnungen oder historische Zeitungsdrucke von bedeutenden Fußballspielen verdeutlichen die gesellschaftliche Position des Wettkampfs. Dazu gehören auch Fernseh-Events wie Deutschland sucht den Superstar oder die Kanzler-Duelle des Jahres 2002, deren silberfarbenen Rednerpulte in der Ausstellung stehen.

Die Identitätsspiele verdeutlichen die spielerische Aneignung von Welt, denn im Spielen vollzieht sich Sozialisation. Folgt man der Spielpsychologie, nehmen Kleinkinder die Welt zunächst als Spiel wahr, von dem sich allmählich Konturen der Realität abschälen. Kasperle- Theater und Puppenhäuser stellen Miniaturen der Wirklichkeit dar, mit deren Hilfe sich soziale Spielregeln einüben lassen. Computeranimierte psychologische Kognitions- und Persönlichkeitstests ähneln den Memory-Aufgaben aus der Kindheit. Die Software Facette, mit deren Hilfe polizeiliche Phantombilder entstehen, führt ebenso vor, wie wenig Veränderung es bedarf, um die Identität zu wechseln.

Wenn Identität gemäß sozialer Spielregeln entsteht, lässt sich durch die Verschiebung oder Hintertreibung der Regeln neue Identität formen. Schlagender Beweis ist der Hochstapler Gerd Postel. Der ehemalige Postbote hatte sich im sächsischen Zschadraß ohne jegliche Vorbildung als Oberarzt in einer psychiatrischen Klinik etablieren können. Es dauerte neun Monate, bis der Schwindel aufflog. Durch elaborierte Mimikry war es Postel gelungen, den Anschein von Seriosität zu erwecken. Zwar stellte sich die »bipolare Depression dritten Grades«, die er gerne diagnostizierte, als Hirngespinst heraus und kam in keinem Lehrbuch vor. Sein Auftreten und seine Eloquenz wirkten aber offenbar so authentisch, dass er Vorgesetzte wie Patienten zu blenden verstand. Solch spielerischer Umgang mit Identität ist freilich – will man nicht sarkastisch erscheinen – ansonsten bloß noch im Unterhaltungsgeschäft gefragt.

Mit den Strategiespielen der dritten Abteilung, wozu neben Dame, Mühle, Xiangqi und Pachisi auch Brettspiele wie Risiko oder Monopoly zählen, das als »Lernspiel zur Demonstration der unsozialen Wirkung von Monopolen« im Jahr 1904 entworfen wurde, beginnt die Automatisierung des Spiels. Der »Schachtürke« als erster, von Baron Wolfgang von Kempelen erfundener Spielautomat rief bei seiner Vorstellung am Wiener Hof 1769 Begeisterung hervor. Ein blecherner, orientalisch anmutender Spieler hinter einem Schachtisch tritt gegen einen menschlichen Gegner an. Im Tisch war jedoch ein weiterer menschlicher Schachspieler verborgen, der über einen komplizierten Mechanismus die Spielfiguren bewegte.

Tauscht man den Tisch gegen eine Konsole und den innewohnenden Spieler gegen Code aus, ist das Computerspiel nicht fern. Die Dresdner Ausstellung zeigt insbesondere die Anfänge von Video- und Computerspielen. Klassiker wie Pong (1972), Donkey Kong (1981), Zork (1977) und Tron 2.0 (2003) lassen sich in einem sechseckigen, abgedunkelten Raum spielen, an dessen Wände die Spielabläufe projiziert werden. Von weiteren Games wie Everquest, Doom, Battlefield, Diablo oder Need for Speed sind lediglich einige Hinweise an Infoterminals abzurufen. Offenbar wollten die Ausstellungsmacher verhindern, dass die Computerplätze stundenlang von Jugendlichen belagert werden. So allerdings wirkt der Computerspiel-Bereich, der ja den zeitgenössischen Umgang mit Spielen stark prägt, etwas unterbelichtet.

Eine Erklärung für das Faszinierende am Computerspiel, das sich sowohl durch die außerordentlichen Umsatzzahlen der Spielebranche als auch durch die spezifische Kultur, die sich binnen kurzer Zeit etwa mit LAN-Partys entwickelt hat, bleiben die Ausstellungsmacher dem Besucher schuldig. Ein Symposium im Juli will solche Fragen klären. Ebenso unentschlossen, beinahe versteckt hinter der illusionistischen Rauminszenierung der gesamten Ausstellung, wirkt ein Kämmerlein, in dem der Dokumentarfilm Kriegsspiele von Marcus Vetter zu sehen ist. Darin berichten Jugendliche sehr differenziert über ihre Erfahrungen mit so genannten Ballerspielen und Ego-Shootern. Einen im eigentlichen Sinne kritischen Eindruck macht diese Anordnung ebenso wenig wie ein Raum zum Thema Spielsucht, der sich hinter der letzten Abteilung verbirgt, den Glücksspielen.

Glücksspiele sind die Königsdisziplin. Ein Spieler kann noch so viel Geschick an den Tag legen – ein bisschen Glück spielt immer mit. Nun liegt Glück jedoch außerhalb der menschlichen Einflussnahme, und es bildet das eigentliche Faszinosum am Spiel. Dass jemand im Kasino seiner Spielsucht erliegt, alles auf eine Karte setzt und Haus und Hof verspielt, lässt sich nur mit der irrationalen Suche nach dem Glück erklären. Je höher das Risiko, desto größer der Reiz. Dabei taucht der Wunsch, der Wahrscheinlichkeit ein Schnippchen zu schlagen und den Zufall auf seiner Seite zu wissen, in allen Kulturen auf. Roulette, Tarock, Karten- und Würfelspiele, in der Ausstellung in mannigfacher Ausführung vertreten, zeugen davon. Auch die außerordentliche Popularität des Lottospiels in vielen Nationen verdeutlicht die menschliche Sehnsucht danach, das große Los zu ziehen – trotz oder gerade wegen einer minimalen Gewinnwahrscheinlichkeit von 0,000007 Prozent bei der Wette »6 aus 49«. Diese Chance hatte auch Nikita S. Chruschtschow erkannt, als er am 27. 10. 1945 den Befehl Nr. 9 des Chefs der Sowjetischen Militäradministration für das Bundesland Sachsen zur ‚Errichtung der Sächsischen Landeslotterie´ erteilte. Die Spielbank gewinnt bekanntlich immer – der Staat brauchte Geld.

Spielen. Deutsches Hygiene-Museum Dresden. Noch bis 31. Oktober 2005, Lingnerplatz 1, 01069 Dresden, www.dhmd.de


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