Ein Leben als Räuberpistole

Im Kino Tim Burton beweist mit "Big Fish" ein weiteres Mal, dass seine Sympathie nicht den Realisten, sondern den Phantasten gehört

Von einem Goldfisch heißt es, dass seine Größe vom Behältnis abhängt, in dem er lebt. Gefangen in einem Wasserglas, bleibt er kleinwüchsig; ausgesetzt in einen Teich, nimmt er an Ausmaß beträchtlich zu. Eine schöne Metapher für das Gefühl, dass einem die Heimat zu eng wird und man ausziehen muss in die weite Welt. Schöne Metapher auch für das Aufbauschen einer alltäglichen Begebenheit zu einer ausufernden Geschichte, aus der der Erzähler stets als glänzender Held hervorgeht. Verkörpert werden beide Sinnbilder in Tim Burtons zehntem Spielfilm Big Fish von Edward Bloom (Albert Finney), ein begnadeter Fabulierer wundersamer Geschichten, dessen ganzes Leben aus Seemannsgarn gesponnen scheint. Davon zumindest ist sein Sohn William (Billy Crudup) überzeugt, ein eher nüchterner Agenturjournalist und geborener Skeptiker.

Als sein Vater im Sterben liegt, kehrt Will mit seiner schwangeren Frau Josephine (Marion Cotillard) aus dem fernen Paris zurück in seine Heimatstadt Ashton, in South Carolina. Er will die letzte Gelegenheit nutzen, um den Mann hinter den Anekdoten kennen zu lernen und um dem Wahrheitsgehalt der väterlichen Legenden auf den Grund zu gehen. Doch vergebens. Wie immer lässt Vater Edward in seiner gewohnt charmanten Art seine unglaubliche Lebensgeschichte Revue passieren: Schon bei seiner Geburt flutscht der Säugling durch die Hände der Hebamme hindurch fünfzig Meter über den Krankenhauskorridor. Massive Schraubstöcke, in die er drei Jahre seiner Jugend eingekeilt verbringt, gebieten seinem unnatürlichen Körperwachstum Einhalt. Die Zeit lässt er aber nicht sinnlos verstreichen, sondern verbringt sie mit dem Studium einer kompletten Enzyklopädie. Als klügster Bursche des Dorfes beschließt Ed (Ewan McGregor) schließlich, sein Glück in der weiten Welt zu suchen, begleitet vom Riesen Karl, dem Ashton ebenfalls zu klein ist.

Schon an der nächsten Weggabelung trennen sich beider Wege, da sich der tapfere Ed für den kürzeren, aber gefährlichen Weg durch einen finsteren Wald entscheidet. Wundersamerweise landet er im paradiesischen Spectre, einer Kleinstadt, deren einzige Straße aus gepflegtem englischen Rasen besteht, auf dem adrette und immer gut gelaunte Einwohner barfuß laufen. Auch Ed wird seiner Schuhe entledigt, was ihn aber nicht davon abhält, bald schon durch den dornigen Spukwald weiter zu ziehen. Immerhin hatte er als Kind im Glasauge einer Hexe (Helena Bonham Carter) seine Zukunft erkannt und die sah, obwohl ihm Spectre gefällt, irgendwie anders aus. Mehrere Jahre schuftet Ed sich anschließend in einem Zirkus ab, um peu à peu vom Direktor (Danny DeVito) Informationen über ein angebetetes Mädchen (Alison Lohman) zu erlangen. Als er schließlich erfährt, wo die Bewunderte lebt, vermag er sie mit einem Meer gelber Narzissen zu betören und bald darauf zu heiraten.

Reich im Detail legt Regisseur Tim Burton mit seinem märchenhaften Big Fish erneut Zeugnis ab über seine beeindruckende visuelle Vorstellungskraft. In der Tönung ist der Film zwar weniger düster und zwielichtig geraten als frühere Streifen (Edward mit den Scherenhänden, Mars Attacks!, Sleepy Hollow). Gut vorstellbar, dass er eines Tages am Sonntagnachmittag im Fernsehen läuft. Dennoch scheint Burtons Sinn für funkelnde Absurdität und grellen Slapstick allenthalben durch. Bekannt dafür, den Erzählzusammenhang dem Visuellen unterzuordnen und lieber die einzelne Episode fantasiereich auszuschmücken als den Gesamtkomplex, gelingt es Tim Burton auch diesmal nicht recht, eine auf Dialog und Plot basierte Geschichte zu erzählen. Dem Film ist an vielen Stellen die Mühe anzumerken, die Drehbuchautor John August (nach dem Roman von Daniel Wallace) für die schwierige Balance zwischen den überlebensgroßen väterlichen Abenteuern und der intimen Vater-Sohn-Geschichte aufbringen musste. Besonders die Figur des Sohnes bleibt viel zu schwach konturiert, sie kann den Grundkonflikt nicht glaubhaft vermitteln.

Dafür versteht Tim Burton sich bestens auf Anspielung und Selbstzitat. Big Fish strotzt nur so vor selbstreferentiellen Bezügen aus dem eigenen Œuvre: von den eintönigen Vorstadtsiedlungen, in denen der Regisseur selbst aufwuchs, bis zu den liebenswürdigen Außenseitern, die er in all seinen Filmen porträtierte, die Freaks und beautiful loser. Schon im ersten Spielfilm, Pee Wee´s Big Adventure (1985), der eine ganz ähnliche Initiationsreise erzählt, hatte Burton dem verehrten Federico Fellini in einer überdrehten "tour de farce" Reverenz gezollt. Hierauf hebt die Zirkusepisode von Big Fish ab. Burtons oft als "magischer Realismus" bezeichnetes Schaffen speist sich aus einer auch für Fellini kennzeichnenden souveränen Freiheit im Umgang mit Fantasie und Wirklichkeit. Vor die Wahl gestellt, würde Tim Burton sich allemal fürs Fantastische entscheiden und der Wirklichkeit den Rücken kehren - ganz so wie er den leidenschaftlichen Fabulanten Ed Bloom trotz aller überzeichneten Egomanie sympathischer erscheinen lässt als seinen blassen Sohn.

Noch eine weitere cineastische Parallele drängt sich auf: Nie zuvor stand Tim Burton Steven Spielberg so nahe. Und dies nicht nur, weil Spielberg auf das Angebot, Big Fish zu inszenieren, zu Gunsten von Catch me if you can verzichtet hatte. Vielmehr zeigt sich Burtons Big Fish an vielen Stellen von einer Sentimentalität durchzogen, wie man sie eher in Spielberg-Filmen anzutreffen gewohnt ist. Diese richtet sich dort immer auf einen abwesenden Vater. Auch Edward Bloom entzieht sich mit seinen Räuberpistolen gewissermaßen dem Wunsch des Sohnes nach Wahrhaftigkeit und bleibt so auf Distanz zu ihm. Als die Ausweglosigkeit, seinen Vater der Lüge zu überführen und damit einen Teil der vermissten väterlichen Zuneigung einzuholen, letztlich auch Will dämmert, entschließt er sich zu einem großmütigen Schritt: Er erzählt die Geschichte des ans Krankenhausbett gefesselten Vaters zu Ende und bedient sich dabei nicht minder fantasietrunkener Energien.

Diese versöhnende Geste wird getragen von Wills Einsicht, dass die Bedeutung einer Geschichte stets im Auge des Betrachters liegt. Ihm ist klar geworden, dass es wenig Sinn ergibt, nach den Wurzeln der väterlichen Erzählungen zu graben - zumal sie womöglich gar nicht existieren. Der Reiz der Geschichten liegt nun einmal auf ihrer blitzenden Oberfläche, in der sich immer nur das Ansinnen desjenigen spiegeln kann, der seinen Blick darauf richtet. Auf diese postmoderne Weise funktionieren im Grunde alle Tim-Burton-Filme: Als schön-schillernde Seifenblasen, die sich radikal von der Realität abgrenzen und eine permanente Verschwörung betreiben gegen die Bedingungen der äußeren Welt. Einem hermeneutischen Zirkel gleich, konfrontieren die Filme den Betrachter mit der eigenen Fantasie, beziehungsweise dem, was er sich aus Kindheitstagen davon bewahrt hat. Für einen Tim Burton gestaltet sich die erwachsene Welt von Logik und Vernunft als ständiger Angriff auf Fantasie und Imagination. Sie zu retten, verlangt nach kleinen bunten Geschichtchen - Seifenblasen, die vor sich hin funkeln.


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