Spiegeln die Medien soziale Realität wider oder bringen sie eine eigene Realität hervor? Diese alte Huhn-Ei-Frage gewinnt angesichts des diesjährigen Prix Europa eine besondere Prägnanz. In beiden Fällen wäre es um die innere Verfassung unseres Kontinents wenig gut bestellt. Denn viele der Beiträge beim diesjährigen Prix Europa heben besonders auf Probleme und Konflikte ab, was sich nicht allein damit erklären lässt, dass diese besser zu dramatisieren wären. Die Schwierigkeiten der europäischen Integration sind offenbar in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit (und damit auch in das von Medienleuten) gedrungen.
Deutlich machen dies Beiträge wie Für Allah in den Tod. Die TV-Dokumentation vom NDR porträtiert den Braunschweiger Steven Smyrek, der als einziger Deutscher in Israel wegen eines geplanten Selbstmordattentats angeklagt war und im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Hisbollah frei kam. Den Weg seiner Konvertierung zum Islam und die Stufen seiner Radikalisierung erklärt der Beitrag vor allem psychologisch - als ins Extrem gesteigertes Geltungsbedürfnis - und nicht religiös. Auch der Arte-Beitrag Folgeschäden behandelt die hiesige Einstellung zum Islam, die einem algerisch-deutschen Wissenschaftler, der in Verdacht gerät, ein "Schläfer" zu sein, den Job und beinahe auch die Ehe kostet.
Erst kürzlich ist durch die Vorfälle in der spanischen Enklave Ceuta das Thema Menschenhandel wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. In die "Festung Europa" zu gelangen, ist für viele Menschen Afrikas und Osteuropas ein Wunschtraum. Der britische Mehrteiler Sex Traffic (Produktion: Channel 4; Autor: Abi Morgan) erzählt davon mustergültig. Mit dokumentarischen Stilmitteln und raffiniert verflochtenen Erzählsträngen behandelt der Film die Geschichte zweier Mädchen aus Moldawien, die von einer glücklichen Zukunft im reichen Europa träumen und dabei in die Fänge von Zuhältern gelangen, von denen sie nach Bosnien verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Ein Angehöriger einer britischen Menschenrechtsorganisation entdeckt, dass in den Mädchenhandel Mitarbeiter und Führungskräfte der internationalen Friedenstruppen involviert sind. Die achtteilige Miniserie ist das gelungene Beispiel eines engagierten Fernsehfilms, der es versteht, sein anspruchsvolles Thema zeitgenössisch aufzubereiten.
Es mutet symptomatisch an, dass trotz großen Problembewusstseins keiner der engagierten Beiträge letzten Endes ausgezeichnet worden ist. Seit seiner Gründung 1987 schlägt sich der Prix Europa mit dem Problem herum, von der Öffentlichkeit nicht gebührend wahrgenommen zu werden. Wen interessieren schon Europathemen? Medienredaktionen meist nicht. Kaum ein Printprodukt leistet sich eine eigene Europaredaktion, vom Fernsehen und Radio ganz zu schweigen. Eine Europa-Müdigkeit ist weitverbreitet und freilich nicht nur den Medienleuten anzulasten. Insofern kann es wenig erstaunen, dass auch beim Prix Europa eher persönliche Stoffe denn politische ausgezeichnet worden sind.
When I´m 64 von Tony Grounds und John Jones, der den Preis in der Kategorie "TV-Fiktion" erhielt, erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem ehemaligen Fußball-Hooligan und einem Grundschullehrer. Die Jury lobte die psychologische Komplexität und das vorzügliche Schauspiel, aber auch die sensible Darstellung von Sexualität im Alter. In der Kategorie "TV Non Fiction" ging die Auszeichnung an den britischen Beitrag Summer with the Johnsons von Finn McGough. "Perfekt produziert, aber politisch ziemlich unkorrekt", so die Jury, "führt der Film den Zuschauer in eine Familie voller Verbrechen, männlicher Hormone und Hahnenkämpfe".
Eine Woche lang hatten sich die Juroren, von den europäischen Rundfunkanstalten nach Berlin entsandt, durch die vielen Programme gewühlt und in langen Sitzungen ihre Auszeichnungen festgelegt. Der Prix Europa gilt eher als ein Arbeitstreffen von Medienleuten, denn als glamourtaugliches Kultur-Event. Wohl deshalb schließt sich eine Übertragung der feierlichen Preisverleihung im Fernsehen aus. Nun sind solche Zeremonien ohnehin nur für die Teilnehmer von Interesse. Unbegreiflich jedoch ist, warum die Öffentlichkeit nicht wenigstens die Preisträger zu Gesicht bekommt. Warum werden die teilnehmenden Rundfunkanstalten - oder zumindest diejenigen, die einen Preis einheimsen - nicht verpflichtet, im Laufe eines Jahres auch die anderen Preisträger auszustrahlen?
Erst dann würde der Zielgedanke des Prix Europa, der sich als eine Art europäische Integration qua Medien beschreiben lässt, eingelöst. Immer noch gelangt kaum ein Fernsehbeitrag, ganz zu schweigen vom Radio, in die Nachbarländer. Die Medienlandschaft ihrer Anrainer bleibt für Europäer eine terra incognita. Beim Prix Europa dürfen sich allenfalls die Medienmacher ein Bild vom Standard der Nachbarn verschaffen. Doch kommt dabei nicht viel mehr als eine selbstreferenzielle Zirkulation heraus, mit anderen Worten: eine Medienrealität.
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