Evernet

Internet war gestern In Halle traf sich die Medienbranche zum Zukunftskongress und malte sich das Jahr 2015 aus

Brecht hat es gefordert, Enzensberger hat es kommen sehen - nun ist es passiert: Als der amerikanische Pop-Musiker Moby im Januar seine neue Maxi-Single Lift me up veröffentlichte, setzte er sich einmal mehr an die Spitze der musiktechnologischen Avantgarde: Auf der CD befindet sich neben dem Musiktrack eine Software, mit der beliebiges Umkodieren des Songs möglich wird. Man hat Zugriff auf die Bassline, die Vocals, den Beat, kann die Melodie umkomponieren, die Geschwindigkeit verändern, Samples integrieren und umarrangieren. Der Musikkonsument wird, in die Produktion involviert, zum Produzenten. "In Zukunft können Leute beim Autofahren per Voice Control die Drums von Aerosmith und die Stimme von Billie Holliday zusammenfügen und mit zweifacher Geschwindigkeit abspielen", prognostizierte Moby dem Time Magazine.

Tolle Zukunft. Doch genau darin erblickt die Medienindustrie ihr Heil. Zukunfts- und Trendforscher sind sich einig darin, dass in der Medienkonvergenz, dem Zusammenschmelzen unterschiedlicher Branchen und Systeme, sowie in der Individualisierung von Medieninhalten die Zukunft liegt. Karlheinz Steinmüller, Berliner Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autor, glaubt beispielsweise an ein "Evernet" im Jahre 2015, ein Schulterschluss aus Internet und Mobilfunk, mit dem man fortwährend verbunden ist und wo man eine Parallelexistenz führt als virtueller Avatar. Diese Vorstellung ist zwar bei weitem älter als die Zeit bis 2015 noch währt. Doch Steinmüller macht keinen Hehl daraus, dass klassische Science-Fiction-Literatur zu seinen Inspirationsquellen zählt.

Gleichwohl wird an dieser Art von Zukunft längst gebastelt, wie in Halle zu erfahren war. Die Speicher werden immer kleiner und leistungsfähiger. Aus dem Handy wird ein Walkman. Auf einen holografischen Speicher von der Größe eines Zuckerwürfels passen hundert Spielfilme. Zukünftig wird vielleicht komplett auf Datenträger verzichtet - Musik und Filme lagern dann extern auf Massenspeicher, mit denen man via Internet und Funk verbunden ist. Wozu der lästige Besitz, wenn es permanenten Zugriff gibt?

Die gesamte Medienindustrie muss sich auf selbst forcierte Umwälzungen und Änderungen in den Konsummustern gefasst machen und darauf reagieren. Aus Erfahrungen mit dem Festplattenrekorder TiVo in den USA weiß man, dass nur noch 37 Prozent der Zuschauer Fernsehen "normal", also live verfolgen. 42 Prozent sehen zeitversetzt die aufgezeichneten Sendungen, weil sich so die Werbeblöcke überspringen lassen. Flugs ersann Siemens Communication ein Geschäftsmodell für "Fernsehen und Gaming ohne Werbung": Mit einem Personal Video Recorder kann man sowohl "TV-of-yesterday" verfolgen, weil alle relevanten Sender 24 Stunden lang gespeichert werden. Auch rechnet einem ein Programm-Guide die Zeit aus, ab wann ein laufender Spielfilm auf einem Privatsender einschaltet werden muss, um keine Werbung mehr zu sehen (etwa eine Stunde nach Filmstart). Die wird automatisch herausgeschnitten - Kostenpunkt 99 Cent. Den Film pünktlich, aber auch ohne Werbung zu betrachten, ist bei entsprechenden Mehrkosten ebenfalls möglich.

Ob das die Werbeindustrie erfreuen wird? Sie müsste Product-Placement in bislang ungeahntem Ausmaß nicht nur in Daily-Soaps unterbringen. Der Ruf-mich-an-Sender 9Live wäre dann wahrhaft modellbildend, interaktive Spiele und Call-ins würden die komplette Refinanzierung des Privatfernsehen übernehmen. Die Medienindustrien stehen noch vor einem weiteren Problem, nämlich vor einem Paradox. Zwar beliefern sie die Konsumenten eilfertig mit allen klandestinen Wünschen, bloß den Wunsch nach Erlösung vom Konsum können sie nicht bedienen. Aber sie nehmen ihn durchaus ernst: Was sonst steckt hinter dem Recomposing-Tool von Moby als eine Simulation der eigenen Selbstauflösung?

Wenn Musik nur noch aus Material für beliebige Remixe besteht, muss das ganze System kollabieren. Gleichwohl erscheint es notwendig, so zu verfahren. Es gibt in jungen Konsumentenschichten den ausgeprägten Impuls, sich gegen die vorgefertigten Produkte der Warenwelt aufzulehnen. Man will Popsongs verändern, sich nicht mit bloß einem Filmschluss begnügen, verlangt nach vielfachen Optionen in Computergames. Diesem Wunsch nach Multioptionalität zu entsprechen und dadurch den Warencharakter der eigenen Produkte zu verschleiern, ist nur dem Anschein nach ein Akt der Selbstdemontage. In Wahrheit liegt hier ein Massenmarkt, gegen den einzelne Subkulturen zwar weiter rebellieren werden, doch aller Voraussicht nach ohne geschäftsschädigenden Erfolg.


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