Anno 1999 kursierte ein Werbespiel im Internet, das zum Inbegriff für "virales Marketing" wurde: das Moorhuhnschießen. Millionenfach luden Leute das Spiel herunter und vertrieben sich ihre Bürozeit damit. In Sachen viraler Verbreitung war das alberne Spiel ein großer Erfolg. Ob indes der Auftraggeber, ein namhafter Whisky-Hersteller, davon profitieren konnte, ist nicht überliefert. Seitdem werden virale Videos mit kommerzieller Werbung in Verbindung gebracht. Zunehmend machen aber auch soziale und politische Aktivisten von diesem Marketinginstrument Gebrauch. Mit viralen Clips werben sie für ihre eigene (gute) Sache.
Mit ihrem Appell an das moralische Zuschauergewissen erinnern die Videos von Nichtregierungsorganisationen (NGO) manchmal an gewisse Vorfilme im Kino. Bei Against Animal Testing lässt sich die Botschaft gleich dem Titel entnehmen. Kaum weniger missverständlich erscheinen die Bilder. Dabei geht es auch subtiler, wie der Clip Bob Ross Painting beweist. Das über 360.000 Mal abgerufene Video imitiert einen Fernsehmalkurs des amerikanischen Künstlers Bob Ross. In immer gleichen Redewendungen hatte dieser für seine Amateur-Maltechnik geworben. Hier jedoch wird aus der Malanleitung für eine "Wüstendorf-Sonnenuntergangsszene" eine sarkastische Botschaft der niederländischen Nonprofit-Stiftung NoBEL, die sich gegen "ethnische Säuberungen" in Afrika ausspricht.
Aktivisten mögen klare Botschaften. Die Berliner Bürgerinitiative "Mediaspree versenken", die gegen die Bebauung des Spreeufers in Friedrichshain-Kreuzberg Stimmung macht, wartet in ihrem "dystopischen Investorenfilm" mit dem Titel Pocket Parks sarkastisch auf: "Friedrichshain-Kreuzberg - früher Multikulti-Viertel und soziales Experimentierfeld, heute zukunftsfähiger Standort für Ihre Investitionspläne." Von Studenten der Hochschule für Medien in Stuttgart stammt ein globalisierungskritisches Video, das die Stationen eines T-Shirts zwischen Produktion und Entsorgung zeigt. Rebel with a Cause verbindet seine ökologische Botschaft mit einer eleganten Animationstechnik und zahlreichen interessanten Fakten.
Dagegen setzen kommerzielle Werbeclips auf den Schockeffekt. Sie wagen sich an Dinge heran, die vormals in der Werbung unmöglich schienen. Ein Video wie Dentist gäbe es niemals im Fernsehen oder Kino zu sehen. Gezeigt wird ein Zahnarzt bei der professionellen Zahnreinigung, wie er sich die Lebensmittelrückstände aus den Zahnlücken seines Patienten heimlich in den Mund schiebt. Mit dem Slogan "It´s that good" wird auf etwas eklige Weise für eine Schokopraline mit Nusssplitter geworben.
Auch Say no to Dirt verletzt gezielt die Grenzen des guten Geschmacks: Die Szene spielt auf der Toilette eines Nachtclubs, wo sich eine Blondine eine Kokslinie auf der Klobrille zurechtlegt, als sich plötzlich der Selbstreinigungsmechanismus der Toilette in Bewegung setzt. Das verruchte Video wäre kaum anderswo als im Internet vorstellbar. Offenbar dient das Netz der Werbebranche als Experimentierfeld, auf dem die Kreativen ihrer Fantasie freien Lauf lassen und mehr wagen dürfen als in anderen Medien.
1,2 Millionen Mal ist Bruce Lee Ping Pong aufgerufen worden und stand eine Zeit lang auf Platz 1 bei Viralvideochart.com. Der Kung-Fu-Meister und Held zahlloser Martial-Arts-Filme ist darin beim Tischtennis zu sehen. Statt mit einem Schläger fuchtelt Lee jedoch mit Nunchakus herum, zwei durch eine Kette verbundene Schlagstöcke. Beeindruckend präzise weiß die Kampfsportlegende damit umzugehen. Zum Schluss des Clips, der aus nicht erkennbaren Gründen die Werbetrommel für ein finnisches Handymodell rührt, siegt er sogar gegen zwei gegnerische Spieler.
Die Viral-Video-Charts sind ein Gradmesser für die Popularität von Internetvideos. Auf die Spitzenplätze gelangen nur jene Clips, die am häufigsten durchs Netz flattern und zudem von Blogs, Videoplattformen und Homepages zahlreich verlinkt worden sind. Was dem Fernsehen seine Quoten, sind dem Internet die Viral-Video-Charts. Dort rangierte letztes Wochenende President-Elect Obama´s Weekly Address, die wöchentliche Ansprache des künftigen US-Präsidenten Barack Obama. Darin äußert sich der Amtsträger zur gegenwärtigen Wirtschaftskrise, die er auf eine Krise des Kreditsystems zurückführt.
Zu 78 Prozent haben diesen viralen Clip englischsprachige Blogs verlinkt, zu jeweils 11 Prozent französische und dänische. Die deutschen Blogs schlafen offenbar noch. Oder sie schauen Bundeskanzlerin Merkel zu, wie sie in ihrem wöchentlichen Video-Podcast diesmal den 7.000 deutschen Soldaten im Ausland dankt. In die Viral-Video-Charts ist der Merkel-Clip nicht gelangt. Man kann ihn, technisch bedingt, weder verlinken noch auf anderen Plattformen einbinden. Und wie oft er angeschaut worden ist - bei YouTube ein Standard - verrät das Bundeskanzleramt auch nicht.
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