Beschleicht Sie manchmal der dumpfe Verdacht, dass im Fernsehen nichts Gutes mehr läuft? Dass sich trotz verzweifelten Herumzappens durch die Kanäle kein interessantes Programm finden lässt, bei dem zu verweilen sich lohnt? Sie fragen sich dann, ob das schon immer so war oder früher nicht vielleicht besser - oder ob dieser Befund einer schlechten Erinnerung geschuldet ist, die sich partout nur an die Sternstunden der Television hält und den Rest erfolgreich verdrängt. Nun, dieses Gefühl trügt. Früher war im Fernsehen nicht alles besser, sondern es lief einfach bloß früher am Abend. Heute sind gute Programme in den Orkus der Nacht verdammt, wo sie ein einsames Dasein fristen.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, in früher Jugend namhafte Fassbinder-Filme im Fernsehen gesehen zu haben - bestimmt nicht erst nach Mitternacht. Angst essen Seele auf, Die Ehe der Maria Braun und Berlin Alexanderplatz (dessen Restaurierung seitens der Bundeskulturstiftung übrigens soeben abgeschlossen ist). Lange ist das her. Solche Spielfilme liefen in den siebziger Jahren, wie es sich gehört, zur Hauptsendezeit um viertel nach acht. Heute würden ihnen fraglos ein Sendeplatz frühestens auf der 23-Uhr-Schiene zugewiesen, wenn nicht noch später. Berlin Alexanderplatz könnte vermutlich bereits um 20.15 Uhr laufen, würde aber schon ein Woche im Voraus als Super-Super-Event angekündigt und von Dokumentationen über proletarisches Großstadtleben und über Wahnkrankheiten begleitet werden. Degeto-Eigenproduktionen mit hohen Familienwerten den Sendeplatz streitig zu machen, bedarf eben einer besonders ausgeklügelten Legitimation.
Solche Super-Super-Ausnahmen waren einmal die Regel. Im Frühjahr 1984 zeigte der NDR Stranger than Paradise von Jim Jarmusch im Abendprogramm. Während in Hamburg über der Elbe die Sonne unterging, schlugen sich John Lurie und Eszter Balint als Kleinganoven durch das große amerikanische Nichts. Wie elektrisiert verschlang der Autor dieser Zeilen das lahmfüßige Drama, dessen lässige Helden ihn nachhaltig faszinierten. Auch von Godard-Filmen war er einmal begeistert, entschied sich aber, als Ende November dieses Jahres Eine Frau ist eine Frau laufen sollte, lieber für die nächtliche Rekreation. Das ZDF zeigte den Klassiker der französischen Nouvelle Vague um 2.45 Uhr, das heißt praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, allenfalls begleitet vom hektisch blinkenden Lämpchen einiger Aufzeichnungsgeräte.
Blättert man durch Fernsehzeitschriften, wird ein cineastisch interessierter Zuschauer auf der Suche nach Spielfilmen durchaus auch heute noch fündig. Entweder er hält sich an die Privaten, wo zumindest aktuelle Spielfilme zur Prime Time nicht als Quotenkiller gelten, bloß eben aufgrund massiven Werbeaufkommens doppelte Länge aufweisen. Oder er hält durch, kippt koffeinhaltige Heißgetränke in sich hinein und erwartet die tiefe Nacht. Dann stehen Marlene Dietrichs Blauer Engel, die Cary-Grant-Vehikel Unternehmen Petticoat und Indiskret oder ein Kubrick-Klassiker wie Wege zum Ruhm von den Toten wieder auf.
Kürzlich zeigte der Rundfunk Berlin-Brandenberg (RBB) Vom Winde verweht in der x-ten Wiederholung ab 23.35 Uhr. Gut, das war eine Samstagnacht, doch ein Sendeschluss um 3.05 Uhr liegt ja wohl jenseits aller bürgerlichen Zumutbarkeit. Und die Einschaltquoten dürften sich jenseits der statistischen Messbarkeitsgrenze bewegt haben. Zur Hauptsendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen dagegen: Nonstop-Fernsehkrimis, Unsere Besten-Shows bis zum Abwinken und Volksmusik in Endlosschleife.
Nun fragt sich, was Programmplaner wohl zu einer solchen Platzierung veranlasst. Kaum vorstellbar, dass sie ihre eigenen Programme zu nachtschlafender Zeit selbst goutieren. Die schlechte Platzierung wirkt wie ein Feigenblatt. Noch hat man anspruchsvolle Spielfilme nicht komplett über Bord geworfen und kann auf ihre Existenz im Kleingedruckten der Programmzeitschriften verweisen. Mit messbarem Programmerfolg hat das freilich nichts mehr zu tun. Es sei denn, die Gesellschaft für Konsumforschung ist inzwischen ermächtigt, das Surren von Festplattenrekordern als Rezeptionstätigkeit auszugeben und in den Fernsehquoten zu erfassen. Dann allerdings wäre die Forderung nach einem von der Gebühreneinzugszentrale gesponserten Aufzeichnungsgerät nur opportun und keineswegs unverschämt.
Neulich war Anneliese "gibt sich die Ehre" Rothenberger beim unsäglichen Beckmann zu Gast (montags 23 Uhr). In Erinnerung an die bunten Fernsehoperetten mit der großen Operndiseuse muss man zugestehen, dass die TV-Unterhaltung seit den siebziger Jahren doch große Fortschritte gemacht hat. Gleichwohl wusste die Rothenberger zu berichten, dass sie auch dem aktuellen Programm durchaus etwas abgewinnen kann. Als Spätaufsteherin guckt sie bis tief in die Nacht, denn: "Die besten Programme kommen ja nachts". Genau so ist es! Bloß hat dann nicht jeder noch Zeit und Muße. Auch Dagobert Lindlau, ehemaliger Chefreporter der ARD und Autor zahlreicher superkritischer Fernsehdokumentationen, bemerkte kürzlich auf einer Veranstaltung zum Zustand des investigativen Journalismus unter dem bezeichnenden Titel War früher alles besser?, dass anspruchsvolle Dokumentationen immer spätere Sendeplätze erhalten, obwohl sie massentauglich seien und gewöhnlich gute Quoten erzielen.
Dies mag das Jammern von Altvorderen und ihren geschönten Erinnerungen sein. Und man könnte einwenden, wo, mit dem entsprechenden Aufzeichnungsgerät, das Problem denn eigentlich liege. Schnell ist ein Rekorder programmiert und eine Sendung, kommt sie nur pünktlich, auf die Festplatte gebannt. Fernsehen als Gemeinschaftsereignis hat dann allerdings ausgedient. Die Simultanrezeption zum Zeitpunkt der Ausstrahlung, die noch den primären Behauptungsgestus der Television ausmacht, gehört dann einer untergegangenen Zeit an. In den Wohnzimmern stapeln sich Türme von Videokassetten und DVDs, die unbedingt noch zu sichten sind - eines schönen Tages, mit viel Zeit bis spät in die Nacht.
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