Das Über-Ich des Pop

Zeitgeist Unter dem Pseudonym Jonas Überohr mischte Helmut Salzinger mit seinen scharfsinnigen Kolumnen die Kulturkritik der siebziger Jahre auf. Jetzt ist eine Sammlung seiner Texte erschienen

Buch der Woche
Best of Jonas Überohr Popkritik 1966-1982 von Helmut Salzinger (hrsg. von Frank Schäfer)

Love and Peace und Gummiknüppel

Das Pop-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn am 4., 5. und 6. September sollte nach dem erklärten Willen der Veranstalter ein Festival der Superlative werden. Die schönen Worte „love and peace“ lieferten das Motto und wiesen, auf Pappschilder gemalt, den Zehntausenden von Pop-Fans den Weg über die Inselsträßchen bis zu der Kreuzung, wo die Polizei den einzigen Weg zum Festivalgelände abgesperrt hatte und jeden, der sich nicht irgendwie als privilegiert ausweisen konnte, zum Verlassen seines Fahrzeugs zwang. Von da an war es mit love and peace zu Ende. Von dieser Kreuzung aus ging es schätzungsweise fünf bis sechs Kilometer zu Fuß weiter, wobei die Besucher sechs oder sieben oder acht Kartenkontrollen zu passieren hatten, ehe sie das mit übermannshohem Maschendraht eingezäunte KZ, Festivalgelände genannt, erreichten. Die Kontrolle der Eintrittskarten oblag Hamburger Rockern, Ordner genannt, die, angetrunken und größtenteils mit Schlagstöcken bewaffnet, den Terror ausübten, der hier Ordnung hieß. Wer nicht gleich kuschte und sich besonderer an Unterwürfigkeit grenzender Freundlichkeit befleißigte, kriegte sofort eins in die Fresse.

Die Veranstalter saßen betreten in ihrem Organisationszentrum, das ebenfalls nur Privilegierten zugäng­lich war, und wußten nicht, was gegen ihre Ord­nungshüter unternommen werden könnte. Auf die Frage, warum nach den Erfahrungen von Altamont wieder einmal die Rocker als Festivalpolizei angeheuert worden seien, erhielt ich als Antwort ein bedauerndes Achselzucken und die Auskunft, es seien ja nur dreißig von ihnen bestellt worden. Die anderen seien von sich aus gekommen und hätten dann die Schlüsselpositionen besetzt. Verschiedene Rocker, mit denen ich sprach, behaupteten, sie seien allesamt bestellt und mit drei großen Omnibussen herantransportiert worden.

Die Frage ist: Wenn schon love and peace, warum dann ausgerechnet die für ihre Freude an der Gewalttätigkeit bekannten Rocker für den Ordnungsdienst? Warum überhaupt Ordnungsdienst? Das lückenlos funktionierende Kontrollsystem legt den Verdacht nahe, daß die Veranstalter sich die furchteinflößende Unberechenbarkeit der Rocker zunutze machen wollten, um zu verhindern, daß jemand umsonst in den Genuß von love and peace käme. Wenn es sich so verhält, dann ist die Rechnung aufgegangen. Die deutsche Übersetzung von „love and peace“ heißt mithin immer noch Money.

Von den großartigen Versprechungen der Veranstalter, die tadellose Organisation betreffend, blieb, die Kontrolle der Eintrittskarten ausgenommen, wenig übrig. Man war nicht auf das in dieser Jahreszeit mögliche schlechte Wetter vorbereitet (trotz einer angeblich vorher eingeholten Wetterprognose). Die angekündigten Übernachtungsgelegenheiten bestanden aus flatternden Zeltplanen, die von den Rockern und sonstigen Ordnern für sich mit Beschlag belegt worden waren. Die Festivalwiese, auf der Zehntausende in Zelten oder bloß in Schlafsäcken und Decken kampierten, verwandelte sich beim ersten Regenguß in einen Sumpf. Die versprochene Beleuchtungsanlage war nicht vorhanden oder zumindest nicht in Betrieb, so daß man bei jedem zweiten Schritt über eine Zeltleine, über den ausgelegten Stacheldraht oder in ein Sumpfloch stolperte. Das versprochene Pressezentrum mit Telefon und Fernschreiber war ein leeres Zelt, das angeblich schon am Abend vor dem ersten Veranstaltungstag von den Rockern ausgeräumt worden war.

Und die Musik? Am ersten Tag war es so, daß zwar pünktlich gegen 16 Uhr angefangen wurde. Doch der sturmähnliche Wind stand genau auf die Bühne, und wer weiter als 50 Meter von ihr entfernt war (und das waren die meisten), bekam trotz des ausgezeichneten Sound-Systems höchstens gelegentliche Musikfetzen zu hören.

Dafür konnten die Organisatoren nichts, und sie hatten auch eine glänzende Lösung für das Problem aller Pop-Festivals, die langen Umbauzeiten zwischen den verschiedenen Auftritten, gefunden. Sie hatten nämlich eine Drehbühne installiert, so daß die Anlage der nächsten Gruppe bereits aufgebaut werden konnte, während die erste noch spielte. Das aber nützte nicht allzuviel, da die Gruppen nicht zur Stelle waren.

Nach dem zweiten Auftritt war drei Stunden lang Pause. Als das Publikum ungeduldig wurde, hielt man es mit gelegentlichen Durchsagen hin: Fotheringay sei im Inselverkehr steckengeblieben und könne nicht einmal von der Polizei mit Blaulicht durchgebracht werden. Besucher, die um diese Zeit ankamen, berichteten allerdings, die Straßen wären frei.

Gegen 21 Uhr ging es endlich weiter. Für anderthalb von den noch ausstehenden neun Auftritten. Es regnete stark, und der Gitarrist von Renaissance soll, wie zu hören war, Wasser in die Gitarre und einen elektrischen Schlag bekommen haben. Kurzschluß und Abbruch des Programms für diesen Abend.

Das Wunder dieser Tage aber war, angesichts der nahezu chaotischen Organisation, das Publikum, das sich all dies so gut wie widerspruchslos gefallen ließ. Sie hatten 35 Mark bezahlt, waren damit restlos übers Ohr gehauen worden und glaubten noch immer an love and peace. Die Veranstalter, die vielleicht das Beste gewollt hatten, waren von der Wirklichkeit hoffnungslos überfordert und saßen verängstigt in ihrem Wohnwagen hinter der Bühne. Ohne Grund. Denn niemand dachte daran, ihnen etwas zu tun. Wie hatten sie noch vorher getönt? ”Klar: Woodstock bleibt Woodstock. Aber: Fehmarn wird Fehmarn. Klar!” Der Slogan bestätigte sich. Nur anders, als er gemeint war. Und das lag eben doch nicht bloß an der Unfähigkeit der Veranstalter.

Die jungen Leute, die da restlos verkauft drei Tage lang im Schlamm lagerten und dafür noch bezahlen mußten, gelten als Hoffnung auf eine Gegenkultur, die der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Konsumzwängen die Möglichkeit von Freiheit entgegenhält. Schon Altamont hätte das Ende solcher Hoffnung sein können. Wer auf Fehmarn dabei war und immer noch hofft, dem ist nicht zu helfen. Diese jungen Leute lassen sich bereitwilligst von den Managern ihrer eigenen Couleur verschaukeln. Sie wehren sich nicht nur nicht, sie kommen nicht einmal auf die Idee, sie könnten verschaukelt worden sein.

Woodstock wurde zum Mythos, weil es dort gelang, die Unfähigkeit der Veranstalter durch spontane Selbstorganisierung zu überspielen. Man tat es der Not gehorchend.

Auf Fehmarn brachte nicht einmal die Not Selbstorganisierung zustande. Natürlich, sie halfen sich gegenseitig. Als es kalt wurde, rückten sie enger zusammen. Sie teilten Essen und Trinken. Das war aber auch alles. Sie schimpften, aber wußten nicht auf wen. Und vor allem verschwendeten sie keinen Gedanken an das, was sie selbst unternehmen könnten. Sie gaben sich mit ihren Joints zufrieden.

Was bis heute als Underground, Gegenkultur oder Pop-Generation den Schein des Besseren an sich trug, entpuppt sich als Versagergeneration. Diese jungen Leute werden nichts verändern oder gar verbessern. Sie lassen alles mit sich machen und fühlen sich auch noch high dabei. Sie sind bravere Konsumenten als ihre sauberen gutgekämmten Altersgenossen, die gehorsam die vorgeschriebenen Laufbahnen der bürgerlichen Gesellschaft einschlagen. Wenn man sie prügelt, dann ducken sie sich. Sie schlängeln sich über die Schleichpfade, die das kapitalistische System für all die offenläßt, die den geordneten Betrieb doch nur stören würden. Aber sie täten nicht einmal das. Indem sie sich entziehen, lassen sie sich von anderen Geschäftemachern einfangen und kommandieren. Und sie parieren, von einzelnen, mit denen die Rocker rasch fertig werden, abgesehen.

Nach Fehmarn müßte es endlich klar sein: Die Sache mit den Pop-Festivals dient lediglich dazu, ein paar Kapitalisten im Hippielook rasch die Taschen zu füllen. Um so schlimmer, wenn diese selbst das noch nicht gemerkt haben sollten und ihren eigenen Parolen aufsitzen. Pop und falsches Bewußtsein sind Synonyme.

(Erstveröffentlichung: Frankfurter Rundschau, 8. 9. 1970)


Well, I try my best
To be just like I am
But everybody wants you
To be just like them
(Bob Dylan)

Das Geschäft der Kritik – wie manche Kritiker, die es sich verbitten würden, als Geschäftsleute oder gar als Geschäftemacher bezeichnet zu werden, ihre Tätigkeit, das Kritisieren von Kunstwerken oder ähnlichem, schalkhaft-kokett nennen – ist ein Geschäft. Überohr zum Beispiel hat mehrere Jahre davon gelebt, daß er – unter anderem Namen – Bücher kritisierte. Das Kritisieren von Büchern ist eine Sache mit Tradition, was dem Geschäftlichen daran einen gewissen kulturellen Nimbus verliehen hat, so daß, wer vom Geschäftlichen an der Literaturkritik reden will, Gefahr läuft, als kleinlicher Nörgler abgetan zu werden. Von Kultur zu reden heißt von Geschäften zu schweigen. Reden wir also vom Geschäftlichen der Plattenkritik, der jener kulturelle Nimbus bislang noch abgeht – trotz mancher Bemühungen, ihn zu erzeugen.

Musik, speziell Rock-Musik, ist eine gigantische Industrie, in der gigantische Geschäfte gemacht werden. Da haben wir auf der einen Seite die Produzenten (Anmerkung: Wenn im folgenden von Produzenten die Rede ist, sind immer die Plattenfirmen gemeint, nicht etwa die Musiker oder gar deren Producer), auf der anderen die Konsumenten. Das Problem ist, die Produkte der Produzenten an die Konsumenten und das Geld der Konsumenten in die Taschen der Produzenten zu leiten. Hier bietet eine Reihe von Vermittlern ihre guten Dienste an: Manager, Agenten, Journalisten, PR-Leute. Sie alle wiegen sich in der Hoffnung, einen Teil dieses imposanten Geldstroms in die eigene Tasche kanalisieren zu können. Im Grunde tun sie weiter nichts, als den Konsumenten mitzuteilen, was es an Neuheiten zu konsumieren gibt. Sie rechtfertigen ihre Existenz mit den Bedürfnissen der Konsumenten, die angeblich immer das Neueste zu konsumieren wünschen. Vom Interesse der Produzenten, ihre Produkte an den Mann und dessen Geld an sich zu bringen, schweigen sie gewöhnlich. Sprechen wir also vom Geschäft der Plattenkritik.

Vor Jahren, nachdem Überohr ebenfalls unter seinem anderen Namen einige Plattenkritiken veröffentlicht hatte, sann er darüber nach, wie er an die neuesten Platten kommen könnte, ohne dafür sein Geld, das er selber brauchte, hingeben zu müssen. Er schrieb also den verschiedensten Plattenfirmen einen freundlichen Brief des Inhalts, er verfasse neuerdings auch Plattenbesprechungen und bitte darum, ihm gewisse Informationslücken dadurch zu füllen, daß man ihn mit Rezensionsexemplaren von Platten-Neuerscheinungen versähe. Das Echo war unterschiedlich. Manche Firmen reagierten gar nicht, andere schickten ihre Infos, einige Platten. Besonders eine Firma, die CBS in Frankfurt, erwies sich als generös. Seit einigen Jahre schickt sie ihm nun schon, wenn auch leider nicht alle (so fehlt mir zum Beispiel die Copperhead-LP), so doch die meisten ihrer Neuerscheinungen ins Haus. (Wofür ihr herzlich gedankt sei.)

Freunde, bei Überohrs auf Besuch, registrierten allerdings später feixend, daß meine Plattensammlung zur Hauptsache aus CBS-Platten bestand. Da ist Überohr ein Lichtlein angegangen. Es zeigte sich nämlich, daß diese Freunde von Gruppen und Platten zu berichten wußten, von denen Überohr noch nie gehört hatte. Er kannte bloß CBS-Gruppen, CBS-Platten. Sein musikalisches Weltbild erwies sich großenteils als ein Produkt der Firma CBS.

Die „Frankfurter Rundschau“, die sich als das linksliberalste Blatt des Landes feiert und feiern läßt, hält sich einen Plattenkritiker, dessen Hauptthese seit Jahren ist, daß die Rock-Musik am Ende sei und den Musikern partout nichts mehr einfalle. Sieht man sich einmal seine diskographischen Hinweise an, wird man feststellen, daß er offenbar zur Hauptsache von der Firma CBS mit Rezensionsexemplaren beschickt wird. Die Informationen, die dieser Kritiker weitergibt, werden ihm also anscheinend zum überwiegenden Teil von dieser einen Plattenfirma geliefert, so daß er – nolens volens – als deren Sprachrohr fungiert. Zwar leitet er sein (unzutreffendes) ungünstiges Urteil, es herrsche in der Rock-Musik Stagnation, aus der Produktion dieser Firma ab. Aber durch die Tatsache, daß er zu diesem Zweck vorwiegend ihre Produkte erwähnt (wobei überdies das Einzelurteil durchaus differenzierter ausfallen mag), wird es mehr als aufgewogen, da nämlich für seine Leser die Produkte anderer Firmen, die unerwähnt bleiben, gar nicht existieren. (Es ist eine unter Kritikern altbekannte Tatsache, daß man Werke, denen man wirklich schaden will, am besten nicht nach Strich und Faden verreißt, was ihnen ja noch ein gewisses Interesse sichern könnte, sondern einfach übergeht, um ihr Vorhandensein den potentiellen Käufern zu verheimlichen.)

Der Kritiker, dem die gesamte Produktion einer Firma kostenlos ins Haus geschickt wird, mag sich dieser Firma gegenüber verpflichtet fühlen oder nicht. Sofern sie auf diesem Wege seine Kenntnisse und sein Bewußtsein zu bilden hilft, werden die dafür aufgewendeten Kosten früher oder später wieder hereinkommen, und der Kritiker, der sich und seinen Lesern durch ungünstige Urteile demonstriert, daß er nicht zu korrumpieren ist, darf sich dennoch seiner kritischen Unabhängigkeit erfreuen.

Überohr weiß allerdings von einem anderen Plattenkritiker, der sich, wenn es einen Verriß gilt, ein Pseuderativ überzieht, um nicht durch kritische Unabhängigkeit sein gutes Verhältnis zu den Plattenfirmen zu trüben. Sein wirklicher Name ist ihnen für kritisches Wohlwollen gut und dürfte ihm die Erfüllung jedes Plattenwunsches garantieren. Anruf genügt.

Nachdem Helmut Salzinger von Bill Wymans Solo- LP MONKEY GRIP zuerst nicht beeindruckt war, dann aber doch, dann wieder doch nicht und es geschrieben hatte (SOUNDS 7/8/74), empörte sich der zuständige Pressemensch der Plattenfirma: Was denn nun, ja oder nein? – Er erwartet, er verlangt geradezu von mir, daß ich mich festlege. Wenn schon nicht ein für allemal, so doch wenigstens für den Augenblick. Was er nämlich braucht, ist ein schönes rundes Bon-Bon, um es in sein PR-Info einzukleben, nicht aber so ein widerspruchsvolles Gelabere, das nichts hermacht.

Die Firmen, in Form ihrer bezahlten Beauftragten, scheinen sich einzubilden, Kritiker hätten die Funktion, ihnen die Werbesprüche für ihre Produkte zu liefern, da ihren eigenen Sprüchen sowieso keiner mehr glaubt. Die Unabhängigkeit des Kritikers kommt ihnen da gerade recht, hebt sie doch die Glaubwürdigkeit des Gesagten. Und so zeigt sich, daß genau dies im System der kapitalistischen Produktionsweise die Funktion des Kritikers ist: Reklame zu machen für die Produkte, die er kritisiert, indem er sie kritisiert. Und seine Unabhängigkeit, mit der er sein feuchtes Gewissen abtrocknet, geht in diesen Deal mit ein. Der Plattenrezensent fungiert – deutlicher noch als der Buchrezensent – als Makler zwischen Produzenten und Konsumenten, wobei absurderweise beide genau das von ihm erwarten: daß er diese Funktion erfülle. Sowohl die Plattenfirmen wie auch die Leser betrachten den Kritiker als Dienstleistenden, der ihre Interessen zu vertreten habe. Nur daß sie beide die entgegengesetzten Dienste erwarten.

Tatsächlich treten viele Leser gegenüber Plattenkritiken und gegenüber der Zeitung, in der sie abgedruckt werden, in der Rolle von König Kunde auf. Für ihre zwei Mark fünfzig verlangen sie prompte Bedienung. Darunter verstehen sie etwas, das sie gern Objektivität nennen, Informationen darüber also, wie eine Sache – unabhängig von dem, der sie wahrnimmt – IST. Sie verkennen, daß eine Sache – unabhängig von dem, der sie wahrnimmt – NICHT ist. Aber dann wollen sie wenigstens über die harten Fakten informiert werden, über Daten, Besetzung, Stil, Spielweise und so weiter. Die „bloß“ subjektive Meinung des Kritikers interessiert sie nicht. Es fällt ihnen schwer zu begreifen, daß gerade dies, diese scheinbare Objektivität der Fakten, die Sache, über die sie informiert werden wollen, verdinglicht, fremd macht, was einzig im Interesse der Produzenten liegen kann. Diese scheinbare Objektivität leugnet die Tatsache, daß das Ding, um das es geht, die Musik, erst in der Beziehung zu einem Subjekt gesellschaftlich real wird und Mitteilungen über sich zuläßt, die dann selbstverständlich von der Subjektivität des Mitteilenden geprägt sind.

Es scheint mir aber den Interessen der Leser/Käufer zu entsprechen, diese Tatsache nicht nur nicht zu verschweigen, sondern sie ausdrücklich hervorzukehren, ob sie sich nun dafür interessieren oder nicht.

Hier nämlich, wo er sich selbst in all seiner Subjektivität als Konsument mit individuellen Vorlieben und Abneigungen zu erkennen gibt, ergreift der Kritiker die einzige Möglichkeit, sich auf die Seite der Konsumenten zu schlagen, für sie Partei zu ergreifen. Und je konsequenter er für sich selber spricht, umso nachhaltiger vertritt er die Sache seiner Leser.

Und noch etwas. Der Musiker macht Musik, und der Kritiker schreibt. Beides vermittelt Informationen, aber verschieden geartete. Und ebensowenig wie Geschriebenes sich in Musik übersetzen läßt, kann Musik in Sprache wiedergegeben werden. Der Musik- oder Plattenkritiker kann also gar nicht die Musik beschreiben, es sei denn in der musikalischen Fachsprache, womit den Lesern/Hörern wenig gedient sein dürfte. So bleibt ihm nur zu beschreiben, was der Musiker sonst noch macht, wenn er seine Musik macht. Der Kritiker muß den Bewußtseinsvorgang, der vor, neben und hinter dem musikalischen Vorgang abläuft, aufspüren und beschreiben. Dabei ist er natürlich weitgehend auf Vermutungen angewiesen. Das ist der notwendigerweise subjektive Faktor jeder Interpretation. Auf den aber scheint es mir anzukommen.

Überohr jedenfalls hört die Musik, die er hört, nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie etwas in seinem Bewußtsein bewirkt, verändert.

Der Kritiker, der eine Platte bespricht, kann nur über das sprechen, was die Platte ihm sagt, was sie bei ihm angerichtet hat, was von ihr bei ihm angekommen ist und wie es bei ihm angekommen ist. Das heißt besprechen.

Besprechen heißt auch bannen. Ich versuche, die Platte, die ich bespreche, im Medium meiner selbst zu fixieren. Die Besprechung stellt eine Beziehung zwischen der Platte und mir dar, die entweder zustande gekommen ist oder nicht, und aus dieser Darstellung sollte die Begründung hervorgehen, warum ich mich mit sowas überhaupt befasse.

Indem der Kritiker die Geschichte der Beziehung zwischen der Platte und ihm erzählt, versucht er sich der Rolle zu entziehen, die ihm von den Produktionsbedingungen aufgenötigt wird, und die in ihn gesetzten Erwartungen zu enttäuschen. Vielleicht setzt seine Kritik dann etwas mehr in Gang als bloß Kauf und Verkauf.

Natürlich bleibt er auch in diesem Fall ein Makler. Aber er verändert die Sache, die er vermittelt, indem er sie vermittelt. Er gibt (wenn auch vielleicht nicht ausdrücklich) an, wie und wo sie ihn verändert hat. Damit wird sie zum Exempel und etwas weniger Ware.

Und so nimmt der Kritiker Partei für den Konsumenten. Er versetzt sich in seine Rolle, wenn er eine Platte nicht als Kritiker, sondern als Liebhaber und Verbraucher kritisiert. Denn die Platten wollen doch etwas von mir: angenommen werden als täglicher Umgang. Das müssen sie irgendwie schaffen. Die meisten schaffen es nicht. Dann versuche ich eben herauszufinden, ob sie etwa zu anderen Zwecken brauchbar sind als zum täglichen Umgang. Vielleicht für den feiertäglichen Umgang. Das ist ein Test. Dessen Ablauf und Ergebnis ist es, was meine Plattenbesprechung mitzuteilen versucht. Meine Funktion als Subjekt ist es, als Katalysator in diesen Versuch einzugehen. Am Ende kann man mich wieder rausnehmen und wegstellen, kann der Versuch mit einem anderen Subjekt wiederholt werden.

Der Erwartung des Lesers an meine Besprechung antwortet diese mit meiner Erwartung, meiner Forderung an ihn: daß er der Besprechung nicht die Information zu entnehmen versuche, die er erwartet, sondern die, die sie enthält.

I ain’t gonna work on Maggie’s farm no more.

Der Kritiker, der es täte, leistete denen, die diesen Dienst von ihm erwarten, einen schlechten.

(Erstveröffentlichung: Sounds, 11/1974)


© Philo Fine Arts, Hamburg 2010

Helmut Salzinger
Best of Jonas Überohr
Popkritik 1966-1982
hrsg. von Frank Schäfer
Philo Fine Arts
350 S., 16


Helmut Salzinger, 1935 geboren, 1993 gestorben, verdingte sich ab Mitte der sechziger Jahre als Literaturkritiker u.a. für die Zeit und avancierte mit seinen Collage-Essays Rock Power (1972) und Swinging Benjamin (1973), vor allem aber mit seiner Jonas Überohr-Kolumne im Musikmagazin Sounds zum angesehensten und einflussreichsten Popkritiker der siebziger Jahre.


Das Buch ist im Mai 2010 erschienen


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