Knochenkamasutra

Anatomie I Namen sind wie Schall und Rauch. Aber an den Handwurzelknochen ist ein Dichter verlorengegangen

Acht Knöchelchen. Als die Zeiten noch härter waren und die Anatomen selbstbewusster und sich der Wichtigkeit ihres Faches gewisser, da soll es vorgekommen sein, dass der grimme Professor den bangen Prüfling in ein samtenes Säckchen greifen hieß, in dem diese Knöchlein waren. Tastend solle er die Knochen identifizieren, benennen und dann herausholen, damit der Prüfer die Diagnose prüfen könne! Alternative Schauergeschichte: der Prüfer hielt einen der Knochen in der Hand verborgen, warf ihn im die Höhe, fing ihn geschickt wieder auf und fragte den Kandidaten dann, den Knochen wieder artig in der Hohlhand bergend: „Nun, welcher war’s?“ Das waren noch Zeiten! Heutzutage sind die Anatomen schon glücklich, wenn ihre Kandidaten wissen, wo im Körper die Knochen zu finden sind

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Acht Knöchelchen, die Handwurzelknochen. Notabene liegen sie nicht da, wo man sie erwarten würde, im Handgelenk nämlich, sondern in der Hand selbst. Wenn wir unsere Hand bewegen, heben, senken oder schwenken, dann verschieben sich diese Knochen kaum untereinander, vielmehr werden sie alle zusammen gegenüber den Unterarmknochen bewegt. Eigentlich täte es also ein Knochen an dieser Stelle auch, aber die Natur ist verschwenderisch und gab uns deren acht. Zum Leidwesen der Studierenden der Medizin, die jetzt die Namen dieser acht Knochen lernen müssen. Kahnbein, Mondbein, Dreiecksbein, Erbsenbein, großes und kleines Trapezbein, Kopfbein und Hakenbein. „Und da haben Sie“, ruft ihnen hämisch der Anatom hinterher, „als Humanmediziner noch Glück gehabt! Manche Tiere haben nämlich sogar zwölf von diesen Knochen!“

Und so schleichen die Studenten von dannen und suchen Zuflucht bei den beliebten Klassikern der Mnemotechnik: ein Merkspruch muss her! Also murmeln sie seit Generationen:

„Der Kahn, der fuhr im Mondenschein

im Dreieck um das Erbsenbein,

Trapez groß, Trapez klein,

der Kopf der muss am Haken sein!“

Anatomie als Dada-Gedicht, es könnte von Hans Arp sein, ist es aber nicht. Der Urheber ist unbekannt. Leicht vergruselt ist es noch dazu: „der Kopf am Haken“ ... Brr. Und zudem: Die lingua franca der Anatomie ist nach wie vor Latein. Die lateinischen Namen – Os scaphoideum, lunatum, triquetrum, pisiforme, trapezium, trapezoideum, capitatum und hamatum — die muss man auch memorieren. Eine heitere Trouvaille aus dem angelophonen Anatomiebetrieb leistet Merkhilfe:

„Some Lovers Try Positions That They Cannot Handle.“

Das Kamasutra der Handwurzelknochen! Kamasutra: das hat mit Stellungen und Positionen zu tun. Und wer je versucht hat, die isolierten Knochen wieder so zusammen zu puzzeln, dass sich wieder ein schön ovaler „Carpus“ ergibt (denn so nennt man das Gebilde, das aus allen acht Knochen besteht), der weiß, dass die Götter vor das Vergnügen die Arbeit gesetzt haben.

Das Mondbein ähnelt wirklich einem Halbmond, das Erbsenbein ist erbsenklein, das Hakenbein behakt und das Dreiecksbein hat tatsächlich lauter dreieckige Flächen, ist also einer von Platons idealen Körpern: ein Tetraeder, eine Dreieckspyramide. Aber um am Kopfbein einen Kopf zu sehen und das Kahnbein als Wasserfahrzeug zu identifizieren: Dazu braucht es schon ein gewisses Maß an Phantasie. Die die Anatomen durchaus haben, die aber bei der Benennung der verbleibenden Knöchlein gleich ins Kraut schoss: Großes und kleines Trapezbein — da ist kein Trapez. Früher hießen die zwei auch anders: großes und kleines Vieleckbein. Schon besser, denn viele Ecken haben sie in der Tat. Aber eigentlich ist das auch fade und recht phantasielos.

Von der Handflächenseite aus sieht das große Trapezbein aus wie ein Kreuz. Kreuzbein? Nein, zu dumm, der Name ist schon vergeben, und zwar an das untere Ende der Wirbelsäule, die zwar nicht aussieht wie ein Kreuz, aber ... aber hier beginnt, wie man merkt, eine ganz andere anatomische Schnurre. Es bleibe also beim Trapezbein, in Gottes Namen, selbst wenn die Anatomie hier ein Stück Ästhetik verschenkt, was sie sonst selten tut.

Im übrigen – das hat gerade ein heroischer Selbstversuch hier im anatomischen Institut ergeben – im übrigen ist es kinderleicht, die Knochen tastend zu identifizieren. Zumindest dann, wenn man vorher stundenlang auf sie geglotzt hat, immer in der Hoffnung, dass ihnen die Muse entsteigen möge, die den anatomischen Glossisten küsst. Samtsäckchen war aber keines zur Hand, er war eine Plastiktüte vom Aldi. Soviel zur Ästhetik der neuzeitlichen Anatomie.

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