Wieder kentert ein Immigrantenboot im Mittelmeer. Am 11. Oktober ertrinken mindestens 33 Passagiere vor Malta, darunter Frauen und Kinder. Die vorige Katastrophe bei Lampedusa kostete mehr als 300 Menschen das Leben. Noch Tage später wurden Leichen aus dem Meer gefischt.
Die Welt sah schockiert zu. Es folgten die erwartbaren, hektischen Reaktionen: Spendenappelle vom Roten Kreuz und UN-Flüchtlingskommissariat, die EU-Länder mit ihrem Ruf nach einer besser abgestimmten Immigrationspolitik, um künftig solchen Vorfällen zu begegnen. Es werden Forderungen laut, die europäische Grenzsicherungsbehörde Frontex mit mehr Hubschraubern und Bergungsgerät auszurüsten. Aber kann man solche Aufrufe ernst nehmen, da doch weder die Schlepperei noch die Havarien etwas Neues sind?
Ohrenbetäubende Stille
Die stärkste und für meine Begriffe menschlichste Reaktion kam von Papst Franziskus, der Lampedusa im Juli selbst besucht hatte: Er nennt dieses Unglück eine Schande. Aus den Herkunftsländern der Opfer ist indessen nicht viel zu hören gewesen, außer den üblichen Plattitüden. Die Afrikanische Union hat nicht erklärt, was sie zu tun gedenkt, um den Opfern zu helfen oder solchen Katastrophen entgegenzuwirken. Vielleicht sind die afrikanischen Politiker zu sehr mit ihren privaten Sorgen beschäftigt: Der libysche Premierminister wurde gerade gekidnappt. Isayas Afewerki, Diktator in Eritrea, dürfte das Ganze eh egal sein. Und im Nahen Osten ist Syriens Assad vollauf damit beschäftigt eben jenen Krieg zu führen, der die Flüchtlingskrise vornehmlich ausgelöst hat.
Die Stille ist ohrenbetäubend, klischeehaft gesagt. Wo ist die Empörung, wo der Aufschrei des Mitgefühls für die Opfer? Vielleicht sind wir gleichgültig geworden, abgehärtet gegen solches Unglück, weil es andauernd um uns her geschieht. Was sind schon 300 Menschen, wenn jeden Tag Tausende in Kriegen und bei Naturkatastrophen umkommen? Irgendwann erscheinen uns diese Vorfälle nur noch als Fernsehbilder, als fester Bestandteil der Abendnachrichten nach einem harten Tag im Büro. Oder ist es doch etwas tiefer Liegendes, etwas wie Scham? Ein Gefühl, dass unsere Unfähigkeit einzugreifen uns moralisch schuldig macht?
Wie auch immer, solche Fernsehbilder sind nicht die Art von Erzählung, mit der sich Afrika gerade befassen möchte. Politiker, Geschäftsleute, aufstrebende Mittelschicht und junge Hoffnungsträger wollen lieber über Afrikas Wirtschaftswachstum reden, derzeit das rasanteste in der Welt, und darüber, wie sich Investoren anlocken lassen. Oder über die aufregende neue Kunst und Literatur aus Afrika. Oder über die steigende Zahl von Milliardären – allein in Nigeria gibt es schon über 20.
Doch früher oder später müssen wir darüber reden. Wir werden es dann wohl mit einem Achselzucken tun: Was soll man machen, das Leben geht weiter; oder, weißt du, wenn die dumm genug sind, sich den Schleppern und ihren Schrottbooten anzuvertrauen, haben sie es vielleicht nicht besser verdient. Schnell vergessen wir, wie Edward Said in seinem brillanten Essay Reflections on Exile schrieb, dass eine Situation wie die der Passagiere auf dem Unglücksboot nicht naturgegeben, sondern Menschenwerk ist.
Der Status des Exilierten, des Flüchtlings oder Immigranten, der Person ohne Papiere in einem fremden, oft feindseligen Land, wird von Menschen für andere Menschen geschaffen. Er wird bewirkt von Extremisten, Nationalisten, Diktatoren und Kriegen. Haben die Menschen in so einer Situation nicht das Recht zu fliehen, nach einem besseren Leben zu suchen? Ist das nicht sogar das Natürlichste, was man unter so widernatürlichen Bedingungen tun kann? Sie schulden es sich selbst zu überleben, sie schulden es ihren Kindern zu entkommen – so wie Juden den Nazis entkamen, wie die Pilgerväter nach Amerika entkamen, wie Palästinenser vor zionistischen Eiferern fliehen und Südafrikaner vor der Apartheid flohen.
Der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ wird gerne von Menschen benutzt, die Einwanderer als Parasiten und Ärgernis abtun möchten. Dieselben Leute können an Sweatshops in Bangladesch und Sklavenarbeit in China nichts falsch finden – solange die Ausgebeuteten da bleiben, wo sie sind. Sobald sie aber in ein Boot steigen und sich in Richtung Europa aufmachen, werden sie zu „Wirtschaftsflüchtlingen“, die an Europas begrenzte Ressourcen heran wollen.
Wir fragen uns nie, warum sie arm sind und ob sie es immer waren. Auf dem letzten gekenterten Boot befanden sich zehn Doktoren und ein Neurochirurg. Die meisten Passagiere waren gut ausgebildet und sprachgewandt, sie zählten zu den Besten ihrer Länder, ein grausames Schicksal zwang sie zur Flucht.
Sie sind keine Opfer, sie sind Helden. Anstatt zu bleiben und sich der Tyrannei zu unterwerfen, anstatt lautlos an Hunger und politischer Unterdrückung zu sterben, nehmen sie ihre Kinder mit und wagen sich ins gefahrvolle Unbekannte vor. Einer der Überlebenden brach mit seiner schwangeren Frau und seinen zwei Töchtern auf. Er hätte sie zurücklassen und alleine gehen, hätte ihnen versprechen können, er würde zurückkommen, so wie es manche Männer tun – aber er nahm sie mit. Als das Boot kenterte, schwamm er stundenlang mit einer der Töchter in seinen Armen, bis sie gerettet wurden. Seine Frau und die andere Tochter sind ertrunken. Dieser Mann sollte einen Orden für Heldenmut erhalten; Soldaten bekommen den für weit Geringeres. Stattdessen wird er höchstwahrscheinlich von seiner Tochter getrennt, in irgendeinem Lager festgehalten und als Flüchtling oder „illegaler Einwanderer“ bezeichnet, weil er nicht die richtigen Papiere hat.
Es ist eine Schande, wenn Menschen wie er systematisch kriminalisiert werden, sobald sie Europa betreten. Wenn die Bewohner von Lampedusa sich fragen müssen, ob sie Ertrinkenden helfen können, ohne als Schlepper verdächtigt zu werden.
Am Oranienplatz, mitten in Berlin, gibt es ein großes Camp mit „illegalen“ afrikanischer Immigranten. Sie sind dort, weil sie nicht länger in einer abgelegenen Unterbringung im Wald eingepfercht sein wollten, ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne Arbeitserlaubnis. Nun sind sie in Zelten jedem Wetter ausgesetzt, während um sie her die Berliner ihrem Alltag nachgehen und so tun, als gäbe es sie nicht.
In der Schweiz herrscht in manchen Gemeinden solche Angst vor allem, was Fremdlinge einschleppen könnten, dass hastig Gesetze erlassen werden, um ihnen den Zutritt zu öffentlichen Orten wie Kirchen, Schwimmbädern und Büchereien zu verbieten. In England fuhr kürzlich ein Lastwagen mit einer Aufschrift herum, die „illegalen“ Ausländern mit Verhaftung drohte, wenn sie nicht zurückkehrten. In Athen werden Immigranten von rechtsradikalen Schlägern ermordet, und nur zögerlich geht die Regierung dagegen vor.
Kein Arme-Länder-Problem
Wenn die EU-Staaten nun zusammen nach einer Lösung suchen, sollten sie bedenken, dass dies kein Dritte-Welt- oder Arme-Länder-Problem ist, sondern ein Menschheitsproblem. Dass es im Wesen der Zeit liegt, in der wir leben. Dass es nie zuvor in der Menschheitsgeschichte eine derartige Massenmigration gegeben hat. Dass sie, die europäischen Staaten, das Problem in der einen oder anderen Weise selbst mitverursacht haben und dass es nicht verschwinden wird, nur weil sie es sich wünschen. Sie sollten auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Menschen, die an ihre Tür klopfen, sich als Gewinn anstatt als Belastung erweisen könnten.
Abwegig? Es ist schon einmal geschehen, in Amerika, als es seine Türen für die europäischen Flüchtlinge öffnete, die wie heute die Menschen im Boot vom Glück verlassen waren und Fremde um Aufnahme baten. Immer schon hat es Bedürftige und Heimatlose gegeben. Flüchtlinge wird es immer wieder geben.
Helon Habila wurde 1967 im Nordosten Nigerias geboren. Er studierte Anglistik und war Universitätsdozent, später arbeitete er als Journalist in Lagos. 2002 erschien sein erster Roman Waiting for Angel in London. Es folgten weitere Kurzgeschichten und Romane. Sein dritter Öl auf Wasser – ein Thriller, der im ölverseuchten Nigerdelta spielt – wurde 2012 als erster ins Deutsche übersetzt. Zurzeit lebt er als Stipendiat in Berlin
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