Hedwig aus Ostberlin

SPIEL MIT GESCHLECHTERROLLEN Das New Yorker Travestie-Theater führt einen wunderbar frischen Diskurs über die Konstruktion von Sexualität

Die New Yorker Camp-Kultur, die sich durch ihre Lust am Verwirren und Theatralisieren der Geschlechterrollen auszeichnet, blüht seit den sechziger Jahren. Nach Susan Sontag wurde sie weithin analysiert und bildet einen kanonischen Bezugspunkt für Gender-Theorien. Man könnte denken, dass die Kulturpraxis als solche daran ähnlichen Schaden genommen habe wie manche indigene Stammestradition - dass sie in ihrer Tradition erstarrt und zu einem Museum für intellektuelle Touristen verkommen wäre, denen eine Fahrt nach Samoa zu weit und zu teuer ist. Doch wer das New Yorker Theaterprogramm in diesem Winter verfolgt hat, konnte sich zum Glück von der Lebendigkeit und Aktualität von Camp und Drag überzeugen.

Nehmen wir irgendeine kleine Show im Fez Club des Time Café im Village. Man erkennt an den Aktentaschen und Jacketts, dass viele Leute direkt aus dem Büro gekommen sind, um sich von Kiki unterhalten zu lassen. Kiki ist etwa 1,80 m groß, die hohen Hacken und die auftoupierte blonde Perücke nicht mitgerechnet. Seine XXL-Oberweite erinnert verdächtig an Barbies Hartplastik-Brüste. Mit großen melodramatischen Gesten parodiert er eine amerikanische Serien-Schauspielerin. Im Text rechnet er dagegen mit dem amerikanischen Familien-Idyll und besonders der Mutter-Rolle ab. In der Schere zwischen Inhalt und Form entsteht, typisch für gute Drag-Shows, ein doppeltes Bild. Man blickt gleichzeitig auf die ästhetischen und moralischen Normen, nach denen Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert werden.

Noch wenn Kiki am Rande ein paar Schlucke trinkt, wird die Art, wie er das Glas aufhebt und sich die Lippen leckt zu einem Kommentar darüber, wie man nach den Anstandsregeln für Damen zu trinken hätte. Am Ende wirft er jedoch das Gepflegte eher über den Haufen. Kiki steigert sich in eine endlose Cover-Version von Bonnie Tylers Hit Total Eclipse of the Heart hinein. Es ist, als wollte er mitten im Kitsch zu einer authentischen Sehnsucht vorstoßen, vielleicht die Sehnsucht nach Geborgenheit. Man muss nicht schwul oder lesbisch sein, damit einen die Erfahrung von Außenseitertum und Identitätsverlust ergreift, von denen die Camp-Kultur andererseits handelt.

Sich außerhalb der heterosexuellen Norm zu bewegen, schafft aber auch eine Machtposition, von der aus man das herrschende System angreifen kann, argumentiert Judith Butler. Nichts untermauert diese These besser als die Geschichte von Mae Wests Stück Sex, das im Dezember und Januar nach fast 75 Jahren erstmals wieder in New York gespielt wurde.

Sex war 1927 ein Publikumsrenner gewesen. Die sozialkritische Komödie um die Hure Margy lief bereits monatelang, als die Sittenpolizei plötzlich »obszöne, unzüchtige Inhalte« witterte. Autorin und Hauptdarstellerin West wurde zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt, aber dafür musste sie sich wenigstens um das öffentliche Interesse keine Sorgen mehr machen. »Wenn man überlegt, was Sex mir gebracht hat, sind ein paar Tage im Gefängnis und 500 Dollar Buße kein schlechter Deal«, sagte die Hollywood-Diva später.

In Wahrheit galt die Polizei-Aktion auch gar nicht Sex sondern der Prävention von Wests zweitem Stück, das damals gerade außerhalb von New York anlief. The Drag (später: The Pleasure Man) ist eine Hommage an die rund um den Times Square entstandene homosexuelle Subkultur. West hatte Dutzende von schwulen Darstellern engagiert, die im Finale, einem 20-minütigen Travestieball, als orientalische Tänzerinnen auftraten oder als female impersonators einen bestimmten Frauen-Typ parodierten. Der Hourglass Group gelang es in ihrer Neuinszenierung, einen Zusammenhang zwischen Kikis Vorfahren in The Drag und der männlich posierenden Margy in Sex herzustellen.

Margy und die anderen Huren im Stück wollen ehrbar werden - »straight«, wie es in Wests Dialogen heißt. Die Inszenierung von Elyse Singer, die im Gershwin Hotel in Chelsea zu sehen war, drehte den Spieß um und war gay im Doppelsinne des Worte: schrill-fröhlich und homoerotisch. Der zweite Akt beginnt mit einer musikalischen Revue in einem Bordell. Singer machte daraus eine mitreißende Travestie. Die Männer kokettierten als Señoritas und Go-Go-Girls, die Frauen pressten sich mit breitbeinig vorgeschobenen Hüften die tiefsten Töne ab. Carolyn Bäumler als Margy alias Mae hatte natürlich platinblonde Haare, dicke schwarze Wimpern und spricht Wests berühmten Cowboy-Slang. In ihr steckten aber auch ein guter Schuss Madonna und Courtney Love.

Kulturelle Überformungsprozesse so deutlich zu reflektieren und wie Transparentschichten am eigenen Körper sichtbar zu machen, ist nichts für Dilettanten. Es ist auch nichts für ein Publikum, das unter Travestie Tunten-Klischees wie im Bewegten Mann erwartet. Auf der Bühne ist ein Höchstmaß an Körperbeherrschung und durchdachtem Spiel erforderlich, im Publikum ein wacher assoziativer Blick.

Die deutsche Hoffnung der Camp-Kultur heißt Hedwig. Sie kommt aus Ostberlin, sieht aus wie eine Promenadenmischung aus Marlene Dietrich und David Bowie und spielt täglich außer Dienstag in einem malerischen alten Seemannshotel am Hudson, in der die überlebenden Seeleute der Titanic untergebracht waren.

Hedwig hieß in ihrer Ostberliner Kindheit Hansel. Sie schlief am liebsten mit dem Kopf im Backofen, folgte eines schönen Tages einer verführerischen Spur Gummibärchen und stieß auf ihren Verführer Luther, einen amerikanischen GI. Um aus der DDR zu entkommen, entschloss sie sich zu einer Geschlechtsoperation. Die böse Ironie der Geschichte: Die Operation geht schief. Weder Penis noch Vagina bleiben zurück, sondern nur eine böse Narbe. Als Sängerin gab sie ihrer Band den Namen »Angry Inch«.

Dies ist die Geschichte, die sich die beiden New Yorker Künstler John Cameron Mitchell und Stephen Trask für ein Musical ausdachten. Hedwig and The Angry Inch wurde allerdings eher ein Rockkonzert mit Sprecheinlagen. Mitchell machte die androgyne Hauptfigur als erster Darsteller vor etwas mehr als zwei Jahren zum Kult. Seit Herbst 1999 gibt es eine deutsche Version des Stücks in Köln. (Inszenierung von Torsten Fischer und Herbert Schäfer. Halle Kalk, Neuerbürgerstraße. Kartentelefon: 0221-22128400.)

Abgesehen von der Zuspitzung des sexuellen Konflikts, liefert Hedwig vermutlich unabsichtlich ein wunderbares Bild für den Identitätskonflikt der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung. Irgend jemand hat einmal gesagt, die Ossis seien unter dem Anpassungsdruck eher zu Trans-Wessis geworden. Der Transvestit Hedwig steht dafür, verweist als Neutrum aber besonders auf das Scheitern der politischen Identitätsbildung.

Nach Mitchell wurde die Figur von verschiedenen Darstellern gespielt, darunter auch von einer echten Fernsehschauspielerin. Das Experiment versetzte der Show beinahe den Todesstoß. Es hätte eine Schauspielerin verlangt, die einen Mann spielen kann, der eine Frau spielt. Viele New Yorker störte aber einfach, dass Ally Sheedy nicht gut sang. Es ist ihrem Nachfolger Matt McGrath zu verdanken, dass Hedwig nicht wie geplant Ende Januar abgesetzt wurde.

McGrath ist ein hervorragender Sänger und Pantomime. Er bewegt sich voller verhaltener Spannung, voller Skrupel, die Hedwigs komische Würde unterlaufen. Am Ende ist die unvermeidliche blonde Perücke verloren und die Schminke zerlaufen. Mc Grath steht nur noch in einem Paar Hotpants da und singt. Manchmal macht er eine weit ausladende Geste. Der »Total Eclipse of the heart«-Effekt setzt ein. In diesem Fall heißt die Hymne bloß »Here's to Patti/ and Tina/ and Yoko/ Aretha /and Nona /and Nico /and me - Lift up your hands...«. Selbst wer sich also auf einem höheren Niveau als Bonnie Tyler in Sicherheit glaubte, kann hier ins Schwimmen geraten. Mitten im musikalischen Pomp entsteht ein fast nüchternes Gefühl der Verlorenheit. Als pubertierendes Kind hatte man keinen Begriff dafür, jetzt sieht man die personifizierte Angst vor einem sexuellen und, damit verbunden, einem sozialen Scheitern vor Augen. McGrath's Hedwig bleibt noch in der tiefsten Emotionalität ein klares Gefäß ihrer Haltung. Das ist bester Camp.

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