Auftrieb im Kuhdorf

ÜBERSÄTTIGUNG Während die Stadt zur Serenissimsa der Groß-Events wird, entdecken die Hannoveraner den Reiz von Bauklötzchen

Sie sind da", jubelte die Hannoversche Allgemeine und montierte auf dem Titel 31 Menschlein aller Kontinente samt zwei Dutzend Reisebusse zu einer Fotostrecke prallen Gastgeberglücks. Auch Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel geriet kurzzeitig aus der ziemlich dicken Fassung: "Wir sind so froh, dass wir einen Stau haben, weil so viele Menschen zur Weltausstellung kommen", sprudelte der runde Mann dem schwedischen Königspaar entgegen, das den landeseigenen Pavillon erst mit halbstündiger Verspätung eröffnen konnte. Silvia und Gustav lächelten höflich. Sie wussten es besser. Ein simpler Auffahrunfall hatte die Fahrt vom Flughafen verzögert.

Ja, "die Hoffnung ist oft ein Jagdhund ohne Spur" (Shakespeare). Die Besucherzahlen der Weltausstellung hinken den Erwartungen immer noch weit hinterher. Und zwar soweit, dass der Kanzler angesichts des drohenden Milliardendefizits mahnte, sie müssten schnellstens "verdreifacht werden". "Aber wie?", grübelte eine Talkrunde im EXPO-Café. "Mit verstärkter Werbung", flötete Wibke Bruns. Die PR-Dame der maroden Weltausstellungs-GmbH bekannte aber gleich, dass "wir dafür leider kein Geld mehr haben".

Und so häufen sich Hiobsbotschaften an allen Fronten. Hotelbesitzer und EXPO-Gastronomen jammern, weil niemand ihre Wucherpreise zahlen will, das Souvenir-Gewerbe entlässt die ersten Mitarbeiter, und die in Hundertschaften herangekarrten Kulturschaffenden sind es leid, ihre Perlen vor die Säue, bzw. vor leere Stuhlreihen zu werfen, zum Beispiel der belgische Künstler und Theaterexperimentator Jan Fabre. Dabei hat gerade sein Stück "As long as the World needs a Warrior's Soul" alles aufgeboten, um dem EXPO-Motto "Mensch, Natur, Technik" gerecht zu werden: einen Ulrike Meinhoff-Monolog ("Die Sozialdemokratie will mich umbringen"), eine Kompanie Barbie-Puppen und nackte Tänzer, die sich mit Schinken, Nutella und Ketchup bewerfen. Das Interesse tendiert dennoch gegen Null. Genauso in der so genannten Beatbox, wo Popruinen wie Wolfgang Niedecken ihren Rumpelrock quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit herunterschrammen.

Noch schlimmer trifft es die Artisten in der Innenstadt. Lediglich 60 Flaneure pro Woche finden den Weg zum Güterbahnhof, den Gerhard Merz mittels sechsstelliger Summe in ein Gesamtkunstwerk verwandeln durfte. Die lokalen Kleinkünstler haben inzwischen resigniert und den Betrieb so gut wie eingestellt. Stattdessen schreibt man Beschwerdebriefe an den Oberbürgermeister. Schuld am Fiasko sind laut Marie Zimmermann, Chefin des EXPO-gestützten Festivals Theaterformen, wieder einmal die strohköpfigen Hannoveraner. Sie benähmen sich wie Kinder, die Weihnachten "einen riesigen Berg attraktiver Geschenke bekommen" und angesichts dieser Fülle schon "vom Hinsehen so übersättigt" seien, dass "sie alles Neue links liegen lassen und lieber mit den alten Bauklötzen spielen".

Mag sein. Man fragt sich nur, welcher Teufel die Veranstalter geritten hat, jeden Winkel Hannovers mit teuren "Super-Events" zu pflastern, während via TV ein Top-Genie wie Louis Figo ganz umsonst zu bewundern ist. Die Fußball-EM hatte augenscheinlich keiner der Großkopfeten auf der Rechnung. Sonst wäre die Open-Air-Live-Übertragung der Zauberflöte aus der Wiener Staatsoper nicht parallel zum entscheidenen Gruppenspiel Deutschland gegen England angesetzt worden. Selbst Dauermieter im Elfenbeinturm sollten eigentlich wissen: Gegen David Beckham macht Papageno keinen Stich.

Obendrein graben sich EXPO-Manager und städtische Kulturplaner jeden Tag aufs Neue das Wasser ab. Zeigt der eine Zadecks Hamlet, bietet der andere die "Mega-Party Happy Family" mit Nena und Elvis-Imitator auf der Galopprennbahn, das evangelische Theaterfest "Scena" muss sich gegen die "Olympiade des Breitensports" behaupten, und wenn der Südafrikanische EXPO-Pavillon zum Nationentag lädt, pilgern 3000 Hannoveraner lieber auf den Opernplatz, um zu sehen, wie Heulboje Patrick Lindner und das ZDF-Dummchen Nina Ruge im Dienste der deutschen Agrarwirtschaft bemalte Plaste-Wiederkäuer präsentieren.

Ist Hannover deshalb ein "Kuhdorf", wie die Hannoversche Allgemeine meint, oder muss man nicht vielmehr die Organisatoren weltfremde Rindviecher nennen? Getreu dem alten niedersächsischen Volkslied: Wir leben hinterm Deich,/ doch ihr lebt hinterm Mond./ Wir blicken täglich in das Nichts,/ wir sind das gewohnt ...

Wenn schon der Faktor Mensch nicht funktioniert, gibt es wenigstens auf dem Feld der Technik gute Nachrichten. Wie die Öko-Abteilung der EXPO meldet, kommt die Innovation des Monats aus den neuen Bundesländern. Den vom Informationszentrum Weißblech e.V. ausgeschriebenen Verpackungswettbewerb im Cycle-Bowl des dualen Systems gewann die Firma Spreewaldkonserven Großen GmbH. Und zwar mit einer Dose, die exakt einer genormten Gewürzgurke Platz bietet. Bravo.

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